Meinung

Fünf Jahre nach dem Staatsstreich in Kiew: Mehr Europa in der Ukraine?

Vor fünf Jahren, am 22. Februar 2014, enthob das von den Aufständischen besetze Parlament den ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch seines Amtes. Die neue Regierung wollte das Land nach "Europa", in die Rechtsstaatlichkeit und in den Wohlstand führen.
Fünf Jahre nach dem Staatsstreich in Kiew: Mehr Europa in der Ukraine?Quelle: Sputnik

von Wladislaw Sankin

Die ukrainische Kultur hat eine stark karnevalistische Seite und einen gewissen Hang zum Mystizismus und Anarchismus. Das meinen zumindest die Kulturwissenschafler, es ist an dieser Stelle z. B. den Klassiker der russischen Literatur, Nikolai Gogol, zu nennen. Gogol stammte aus der heutigen Zentralukraine und schrieb Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute populäre Schauererzählungen. Auch der Mythos der Freiheitsliebe der Saporozher Kosaken stützt dieses Bild.

In diesem Sinne erscheint auch der Maidan im Rückblick wie ein großes Anarcho-Festival, das seine mystischen Märtyrer, eine "himmlischen Hundertschaft" oder übermenschliche "Kiborge" – Kämpfer des Rechten Sektors um den Donezker Flughafen –, huldigt. Die Liebe vieler ukrainischer Politiker zur Epatage und starker Präsenz im öffentlichen Raum runden dieses Bild ab.

Der Opposition von Janukowitsch auf dem Maidan im Winter 2013/2014 sollten dieser Anarchismus und die Freiheitsliebe der Ukrainer einen guten Dienst erweisen. Denn, wenn die Staatsmacht gewechselt werden soll, sollten die Leute auf die Straße gehen und skandieren "Геть!" – "Weg mit Euch!" Das ist schon in der Ukraine passiert, oft mit Erfolg. Solche urdemokratischen Bürger sollten das perfekte Material auch für zahlreiche Berater sein, die ihre proklamierte Aufgabe darin sehen, eine demokratische Ukraine nach westlichem Vorbild zu schmieden.

Der Maidan 2013/2014, anfänglich und von vielen immer noch als Euromaidan bezeichnet, fand unter dem Motto "Die Ukraine ist Europa" statt. Mit Janukowitsch haben die Maidaner einen Mann von der Macht verjagt, der angeblich eine europäische Ukraine nicht wollte. Was stellten sich die Ukrainer damals auf dem Maidan unter Europa vor? Auf dem Maidan, der genau vor fünf Jahren, am 22. Februar, mit der Enthebung von Janukowitsch sein logisches Ende nahm?

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Eine Propaganda-Kampagne des ukrainischen, westlich finanzierten Think Tanks "Institute of World Politic" verdeutlicht dies durch eine Bildserie, die in einem Artikel im September 2013 auf der Homepage euroua.com erschien. Es geht im Artikel um Themen wie Renten, Gesundheitsversorgung, Investitionen in Forschung, Lebenserwartung, Straßeninfrastrukrur, Löhne des Militärs, Umwelt, Sportbewusstsein usw. – in einem Wort: um hohe Lebensstandards. Aber auch Themen wie Unbestechlichkeit der Polizei, flache Hierarchien in der Politik, Rechtsstaatlichkeit, Wählbarkeit der Politiker und Qualität der Regierungsführung wurden im Artikel angerissen. Den Bildern nach befand sich die Ukraine im Jahr 2013 in all diesen Bereichen in einem desolaten Zustand, die Ausrichtung nach Europa hätte aber die Sache richten können.

Im Fernsehen und auf der Dauerbühne des Maidans lockten die Anführer der Revolution die Menschen mit Vorstellungen über Europa. "Es geht um die Zukunft unserer Kinder", rief Mustafa Nayem, eines der jungen Gesichter der Proteste. Janukowitsch habe mit seinem Zögern bei der Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens die Ukraine dieses Traums beraubt.

Die Protestler stürzten Janukowitsch und bildeten sofort eine neue Regierung. Die EU jubelte der neuen Regierung in Kiew zu. Der Kritik, sie sei nicht rechtmäßig an die Macht gekommen, entgegneten die EU-Politiker, Maidan sei aber ein legitimer Protest der Bürger gegen die Missstände gewesen. Da dürfte auch mal eine Ausnahme gemacht werden mit der Hoheit des Rechts. Sich Richtung Europa und seiner Rechtsstaatlichkeit zu bewegen und dabei von Anfang an ein Auge bei Rechtsverstöße zuzudrücken? Konnte das gut gehen?

Es folgte das, was folgen musste: Unaufgeklärte Morde, schleppende Untersuchungen zahlreicher Resonanzverbrechen, Erpressung politischer Gegner, willkürliche Festnahmen, Druck auf Gerichte. Die Beispiele: Prozesse gegen russische Staatsbürger und gegen unliebsame Journalisten, wie den seit zehn Monaten inhaftierten Kirill Wyschinski, oder die Ermittlung des Odessa-Pogroms, die von "Aktivisten" kontrolliert wird. 

Viele der sogenannten "Kriegsgefangenen", die Kiewer Militärbehörden in den letzten Jahren gegen eigene Soldaten in Donezk und Lugansk ausgetauscht haben, berichten nach ihrer Befreiung, dass sie vom ukrainischen Sicherheitsdienst als zivile Bürger weitab des Krieges verschleppt, gefoltert und monatelang in Gefängnissen gehalten wurden, oft ohne Anklage. Auch der offenbar inszenierte Prozess gegen die einst gefeierte Heldin und Kämpferin gegen Putin, Nadija Sawtschenko, ist dafür ein Beispiel. Auch in der ukrainischen Haft geht sie regelmäßig in Hungerstreiks, aber die Presse im Westen schert sich nicht mehr um sie.

Das Verhältnis zum Recht vonseiten der neuen Machthaber demonstriert auch die Einmischung des Staates in Kirchenangelegenheiten, wie die Gründung der sogenannten Orthodoxen Kirche der Ukraine auf Geheiß des Präsidenten Poroschenko. Die Verfassung verbietet derartige Einflussnahmen. Es gibt auch Übergriffe auf Priester und Gemeinden der von der Macht nicht unterstützen kanonischen Ukrainischen Orthodoxen Kirche. Übergriffe, die von der Justiz toleriert werden.

Immer öfter greifen Kritiker der jetzigen Regierung das Argument der Menschenrechtsverletzung auf – ob es um die Rechte der Bürger von Donbass oder das der Wahlberechtigten, der Gläubigen, der Mediennutzer usw. geht. Es häufen sich Beschwerden bei der UN und beim Gerichtshof für Menschenrechte des Europarats. Der Rechtsnihilismus in der Ukraine scheint also trotz der angeblich stattfindenden Justizreform nach dem Maidan nicht ab- sondern eher zugenommen zu haben.  

Auch die wirtschaftliche Lage der Bürger hat sich in den fünf Jahren seit dem Maidan eher verschlechtert. Die Ukraine ist zum ärmsten Land Europas "aufgestiegen", die Renten sanken, die Löhne stagnierten, dagegen mussten z. B. Gastarife um das Achtfache erhöht werden. Fast die Hälfte der Haushalte in der Ukraine ist daher auf staatliche Hilfe angewiesen, weil sie selber für den eigenen Gasverbrauch nicht aufkommen können.

Obwohl das Land im makroökonomischen Bereich Wachstum zeigt, scheint der zahme Aufschwung den Reichen und nicht den Ärmeren des Landes zugute zu kommen. Das Resultat: Seit dem Jahr 2015 bescheinigen stabil etwa 70 Prozent der Bürger ihrem Land in den Umfragen, in die falsche Richtung zu gehen.

Niemand weiß auch genau, wieviel Menschen zurzeit in der Ukraine leben. Behörden gehen davon aus, dass monatlich bis zu 100.000 Menschen das Land verlassen. Millionen arbeiten inzwischen im Ausland, darunter in Russland, dem angeblichem "Aggressor"-Staat.

Nun weiß der amtierende Präsident, dass er in seinem Wahlkampf mit all diesen Themen nicht punkten kann. Noch vor fünf Jahren war sein Wahlmotto: "Leben auf neue Art". Nun lässt Poroschenko "Armee, Glaube, Sprache" auf die Banner schreiben. Statt Innovation und Reformen setzt er nun aufs National-Konservative. Das allein mit diesem Motto die Rechte von Millionen der "falschen" Gläubigen und Russischsprachigen im zweisprachigen Land grob verletzt werden, kümmert die "Euro-Optimisten" des Jahres 2013 nicht. 

Dieser Unterschied zwischen Worten und Taten zeigt: Der einfache Wunsch der ukrainischen Bürger nach einem besseren und gerechteren Leben wurde von den späteren Machthabern vor und während des Maidans in Form einer "Eurorhetorik" für politische Propaganda zum Zwecke der Machtergreifung genutzt.

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