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Der Magnitski-Fall und Russland-Sanktionen: Wie sich der Spiegel vom Mainstream-Narrativ absetzt

Jahrelang ging die Erzählung vom angeblichen Mord an dem angeblichen Whistleblower Magnitski durch die westlichen Medien. Das ging zwar auf die Darstellung nur eines Mannes zurück, hatte aber massive geopolitische Konsequenzen. Nun zieht Der Spiegel diese Erzählung in Zweifel.
Der Magnitski-Fall und Russland-Sanktionen: Wie sich der Spiegel vom Mainstream-Narrativ absetztQuelle: Reuters

Das Hamburger Magazin Der Spiegel hat in seiner aktuellen Ausgabe einen Artikel veröffentlicht, in dem er sich deutlich vom Narrativ des westlichen Mainstreams im Fall Sergei Magnitski absetzt. Der Artikel mit dem Titel "Story ohne Held", der vom Spiegel-Online-Redakteur Benjamin Bidder verfasst wurde und interessanterweise "nur" im Wirtschaftsteil des Blattes erschien, lässt keinen Zweifel daran, dass die von dem Investor Bill Browder stammende und von Medien und Politik lange Zeit kritiklos verbreitete Darstellung des Ablebens vom Wirtschaftsprüfer Sergei Magnitski in einem russischen Gefängnis vor zehn Jahren auf Lügen beruht.

Browder machte aus dem im November 2009 in einem russischen Gefängnis verstorbenen Magnitski einen Helden, einen Whistleblower, der die Machenschaften korrupter Polizisten und Beamter in Russland aufgedeckt habe und deshalb im Gefängnis zu Tode geprügelt worden sei. Die Bedeutsamkeit dieser Darstellung und deren Verbreitung war und ist enorm und geht weit über den "Fall" an sich hinaus. Auf ihrer Grundlage verabschiedete nämlich der US-Kongress im Jahr 2012 den sogenannten "Magnitsky Act", der Sanktionen gegen russische Beamte vorsieht – wegen der "Verletzung von Menschenrechten".

Als eine weitere Steigerung wurde im Jahr 2016 der "Global Magnitsky Act" erlassen, der es der US-Regierung erlauben soll, weltweit Beamte wegen Menschenrechtsverletzungen zu sanktionieren. Der "Magnitsky Act" war der Auftakt und das Instrument der großen Welle antirussischer Sanktionen, die mit der Krimkrise 2014 einsetzte.

Browder, der sich selbst gern als Menschenrechtsaktivist und "Putins Feind Nummer eins" inszeniert, lobbyiert derzeit intensiv in mehreren westeuropäischen Staaten, um diese zur Verabschiedung ähnlicher Gesetze zu bewegen. Sein Ziel ist ein "Magnitsky Act" auf Ebene der Europäischen Union. Der Spiegel-Artikel, der die bisherige Berichterstattung auch dieses Magazins auf den Kopf stellte, könnte ihm dabei wohl nun in die Quere kommen.

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Bidder dekonstruiert in seinem Artikel Browders Darstellung gründlich: Durch genauere Betrachtung der Unterlagen und Gespräche mit mehreren Beteiligten, darunter mit Browder selbst, legt er deren Widersprüche offen. Browder ist in Bidders Darstellung alles andere als ein Idealist, er zeichnet ihn als durchtriebenen Geschäftsmann, der in eigener Sache unterwegs ist und sich bei der Wahl der Mittel nicht kleinlich zeigt; er nennt ihn einen "Blender".

Bidder bezichtigt den Briten US-amerikanischer Herkunft zwar nicht ausdrücklich der Lüge, allerdings lässt der Artikel summa summarum keine andere Deutung zu. Den Westen kritisiert er dafür, Browder allzu willig gefolgt zu sein:

Der Fall wirft für den Westen unangenehme Fragen auf. Europäer und Amerikaner argumentieren Russland gegenüber oft aus einer Position moralischer Überlegenheit heraus. Bei den Magnitski-Sanktionen stellt sich jedoch die Frage, ob sie sich vor den Karren des Aktivisten Browder haben spannen lassen. Heiligt der gute Zweck wirklich Browders Methoden?

Der Spiegel-Artikel legt schnörkellos dar, dass Magnitski ins Visier der Behörden geriet, weil er als Angestellter von Browders Firma in deren zweifelhafte Machenschaften verstrickt war, nicht weil er korrupte Polizisten angezeigt hatte. Browders Erzählung vom angeblichen "Diebstahl" mehrerer Briefkastenfirmen durch diese Polizisten und den angeblich damit begangenen Steuerbetrug, der den russischen Staat selbst 230 Millionen Dollar kostete, hält Bidder für unglaubwürdig. Das Gleiche gilt für die Darstellung von Magnitskis Tod im Gefängnis. Der Tod sei eine Folge von schlechten Haftbedingungen und von "erbarmungslos unterlassener Hilfeleistung" durch die Justizbeamten gewesen, kein gezielter Mord. Bidder weist auch darauf hin, dass Magnitski keineswegs Anwalt war, wie von Browder immer wieder behauptet, sondern Wirtschaftsprüfer.

Was der Artikel berichtet, sind keine Enthüllungen im eigentlichen Sinne. Bidder verweist selbst auf die Ansicht eines britischen Richters aus dem Jahr 2012, dass Browder ein "Geschichtenerzähler" sei, der seine Beschuldigungen nicht durch Fakten untermauert habe. Die Klage des verleumdeten russischen Polizisten gegen Browder wurde abgewiesen, weil das Gericht sich als nicht zuständig ansah.

Der Artikel erwähnt auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom August 2019, welches Russland zur Zahlung einer Entschädigung an die Angehörigen Magnitskis verurteilte, weil der Staat Gesundheit und Leben des Inhaftierten hätte schützen müssen, welches gleichzeitig aber klarstellte, dass die Verhaftung nicht willkürlich erfolgt und auch das Vorgehen der Behörden nicht willkürlich gewesen sei. Der Gerichtshof sprach auch nicht von Folter oder Mord.

In dem Artikel nicht erwähnt werden der russische Filmemacher Andrei Nekrassow und sein Film "The Magnitsky Act. Behind the Scenes" aus dem Jahr 2016. Nekrassow, der als Kritiker der russischen Regierung gilt, wollte eigentlich einen Film drehen, der im Wesentlichen der Darstellung Browders folgen sollte. Bei den Dreharbeiten stieß er auf grundlegende Widersprüche. Am Ende wurde aus seinem Film eine gründliche Demontage von Browders Narrativ. Viele Punkte, die der Spiegel-Artikel aufgreift, finden sich bereits in diesem drei Jahre alten Film.

Dieser wurde seinerzeit von Arte und ZDF koproduziert, aber auf Druck von Politikern nicht ausgestrahlt, wie etwa von einer damaligen Bundestagsabgeordneten der Grünen, Marieluise Beck, die auch im Film zu Wort kommt und dabei keine gute Figur abgibt. Nekrassow lobte auf Twitter den Artikel des medialen "Schwergewichts" Der Spiegel, wies aber auch darauf hin, dass bereits sein Film die wesentlichen Fakten öffentlich gemacht habe.

Bidder wurde auf Twitter natürlich auch kritisiert. Allerdings ist der Vorwurf, dass es sich bei dem Journalisten um einen "Propagandisten des Kreml" handele, völlig haltlos. Vielmehr war Bidder in der Vergangenheit regelmäßig geradezu als anti-russischer Scharfmacher  aufgefallen, der es mit der Wahrheit nicht immer so genau nahm. Bidder selbst verteidigte sich auf Twitter gegen die Kritik. Die von ihm wiedergegebene Version sei in Russland seit Jahren weitgehend Konsens. Den Text zu schreiben, sei ihm "unglaublich schwer" gefallen, doch Browders Geschichte habe Lücken. Bei der Gelegenheit nannte er sicherheitshalber RT auch gleich einen "propagandistischen Drecksladen".

Der Spiegel-Artikel ist bemerkenswert – nicht wegen der Präsentation der überwiegend bekannten Fakten, sondern weil mit dem Nachrichtenmagazin erstmals ein westliches Mainstream-Medium die Phalanx derer verlässt, die Browders Version der Geschichte verbreiten und fördern. Das dürfte eine größere Wirkung entfalten, als wenn – wie bereits in der Vergangenheit geschehen – Telepolis oder RT Deutsch darüber berichten. Browder tritt am Dienstag dieser Woche in Berlin bei einer Diskussion auf und dürfte dort mit Fragen zum Spiegel-Artikel konfrontiert werden.

Bidder schließt seinen Artikel mit diesen Bemerkungen über Browder:

Seine Kampagne hat eine Art argumentatives Perpetuum mobile geschaffen, ein Schwungrad, das sich selbst immer wieder anstößt. Neulich haben ihn Diplomaten aus Finnland empfangen, das Land hat die EU-Ratspräsidentschaft inne. Es ging um europäische Magnitski-Sanktionen. 'Das europäische Magnitski-Gesetz wird Realität', hat Browder Mitte Oktober getwittert. Die Chancen für einen Erfolg stehen nicht schlecht: Seine Geschichte ist einfach zu gut, um falsch zu sein.

Am letztendlichen Erfolg der Bemühungen Browders darf nach Erscheinen dieses Artikels nun wohl doch gezweifelt werden. Interessant sind die Bemerkungen auch noch aus einem ganz anderen Grund: Unbeabsichtigt weist der Autor auf den Spiegel selbst zurück. "Seine Geschichte ist einfach zu gut, um falsch zu sein" – mit diesen Worten lassen sich auch Wirken und Erfolg von Claas Relotius über lange Zeit beschreiben, der in ebendiesem Magazin jahrelang erfundene Geschichten verbreiten durfte und dafür auch noch mit Preisen überhäuft wurde.

Ganz ähnlich agiert der Historiker Timothy Snyder, der die Vergangenheit nach den aktuellen politischen Erfordernissen zurechtbiegt. Alle drei – Browder, Relotius und Snyder – lieferten und liefern letztlich nur die Geschichten, die von ihnen erwartet und deshalb auch nur allzu gerne abgekauft und geglaubt wurden und werden. Solange es gegen Russland geht, sind Fakten nicht so wichtig.

Im Unterschied zu Relotius und Snyder hat Browder ein ganz handfestes Interesse daran, seine Version der Geschichte aufrecht zu erhalten. Er wurde im Jahr 2017 in Russland wegen Steuerhinterziehung zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Dieser wird sich Browder auf Dauer nur so lange entziehen können, wie man im Westen von einem politisch motivierten Urteil ausgeht.

Bislang hat der Spiegel-Artikel im deutschen Mainstream noch keinen Widerhall gefunden. Lediglich die Deutsche Welle berichtete darüber – und auch das nur in ihrem russischsprachigen Dienst. Auch der Spiegel hatte bis zum Bidder-Artikel keinerlei Zweifel an Browders Narrativ geäußert. Die eigentlich spannende Frage ist, warum sich das nun so plötzlich und gründlich geändert hat. 

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