Russland

Medienanalyse in Russland: Sind Nutzer regierungskritischer Medien eigentlich Oppositionelle?

Das Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum sieht den Einfluss des staatlichen Fernsehens in Russland sinken. Regierungskritische Medien können zwar nicht mit der Konkurrenz mithalten, jedoch bestimmte Themen beeinflussen. Zu ihnen haben über zwei Drittel der Nutzer Zugang.
Medienanalyse in Russland: Sind Nutzer regierungskritischer Medien eigentlich Oppositionelle?Quelle: Sputnik

Das russische Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum analysiert seit vielen Jahren Veränderungen im Medienverhalten der Russen. Die Ergebnisse der letzten Erhebung, die am 1. August auf der Webseite des Instituts veröffentlicht wurden, stellen im Vergleich zum Jahr 2009 erhebliche Abweichungen in der Art und Weise, wie sich die Bürger Russlands informieren, dar.  

So bleibt das Fernsehen zwar immer noch mit Abstand das bedeutendste Medium in Russland, hat jedoch in den vergangenen Jahren an seinem Einfluss zugunsten des Internets stark eingebüßt: Während es vor zehn Jahren für 94 Prozent der Befragten die bedeutendste Informationsquelle war, gilt dies heute nur noch für 72 Prozent.

Es bleibt jedoch anzumerken, dass das Fernsehen im Land mit seinen riesigen Gebieten, die wenig miteinander verknüpft sind, bislang wichtige Funktionen hatte. In der Zeit der sozialistischen Sowjetunion waren bis in den kleinsten Ort das Radio und Zeitungen zugänglich, und damit war das Informieren der Bürger mit wichtigen Nachrichten sichergestellt. Nach der Wende zum Kapitalismus zerbrach der große Zeitungsmarkt, und das Kabelfernsehen übernahm faktisch die Funktion jenes Mediums, das die Menschen im gesamten Land erreichen und verbinden konnte.

Derzeit sind es vor allem vier staatsnahe Kanäle, Perwy Kanal, Rossija 1, NTW und Rossija 24, die über die größte Popularität und Tragweite verfügen. Deren Berichterstattung gerät in den letzten Jahren allerdings zunehmend in Kritik, da sie beispielsweise über ökonomische Probleme oder die Opposition nicht angemessen berichteten. Demzufolge hat das russische föderale Fernsehen in puncto Glaubwürdigkeit bei den Zuschauern 25 Prozent im Vergleich zum Jahr 2009 eingebüßt, nun sind es nur noch (oder immerhin) 55 Prozent der Nutzer, die selbiges für glaubwürdig halten.

Zum Stellenwert der medialen Regierungskritik

Die Hälfte der Russen glaubt, dass bei den wichtigsten Fernsehkanälen eine Zensur herrscht, fast genauso viele halten sie aber auch für notwendig – zum Zweck der Staatsverteidigung und Ordnungserhaltung, ergab eine Medienstudie des Instituts im Jahr 2017. "Objektivere" Informationen zu Themen wie Korruption und Bereicherung unter Staatsbeamten, Opposition oder zur wirtschaftlichen Lage suchen die Nutzer im Internet oder bei "unabhängigen" Fernseh- und Radiosendern, wobei als "unabhängig" jene Medien gelten, die alternative Meinungen zu offiziellen Narrativen präsentieren. 

32 Prozent der Russen informieren sich primär über Internetportale. Die populärsten Portale in Russland sind laut einer aktuellen Studie Nachrichtendienste von den zwei russischen Internetriesen Yandex und Mail.Ru – mit jeweils 39 und 15 Prozent. Diese Dienste bieten aber laut Einschätzung des Umfrageinstituts keine tiefgreifende Analytik, sondern relativ beliebig sortierte Nachrichten. An dritter Stelle ist die Onlinezeitung Lenta.ru mit zehn Prozent – ein über die Jahre hinweg stabiler Wert. Das Lewada-Institut betont, die Neuausrichtung des Portals nach dem Besitzerwechsel zu einer weniger regierungskritischen Berichterstattung habe ihm keinen Besuchereinbruch beschert. Ein Großteil der Mitarbeiter des regierungskritischen Mediums meduza.io arbeitete früher für Lenta.ru und ist nur bei einem Prozent der Nutzer beliebt. Insgesamt befindet sich der Einfluss der Onlinemedien seit Jahren in einem starken Aufwärtstrend.

Zu "unabhängigen" Medien haben mindestens zwei Drittel der Russen Zugang, 35 Prozent nutzen sie regelmäßig, wobei sechs Prozent ihre Informationen aus drei und mehr Quellen erhalten. In Moskau liegt der Anteil der Nutzer "unabhängiger" Medien bei knapp 60 Prozent – mit einer mehrfachen Nutzung von 16 Prozent.

Im Jahr 2014 stellte das Lewada-Institut fest, dass die Unterstützung von oppositionellen Kandidaten und der reguläre Konsum solcher Onlinemedien mit einer klaren regierungskritischen und "liberalen" Ausrichtung wie Internetportale des Radiosenders Echo Moskwy oder des Fernsehsenders Doschd im Zusammenhang stehen. Unabhängige Medien könnten sogar die Meinungsbalance bei maximal relevanten Themen beeinflussen – wenn sie beispielsweise nicht verschwiegen werden können und auch offline Gesprächsstoff bieten. 

Aber insgesamt genießt die Regierung auch bei diesen Nutzern mehrheitliche Unterstützung, wenngleich auch weniger als regulär – zu diesem Schluss ist das Institut in seiner Analyse des Jahres 2017 gekommen.

Auch die Nutzung der vom Institut als unabhängig bezeichneten Fernsehsender wie Doschd, RTVI, RBK, Kultura oder BBC wurde analysiert. "In Bezug auf den Großteil der 'unabhängigen Fernsehkanäle' ist es unmöglich zu sagen, dass sie nur Gegner der russischen Regierung schauen, deren Zuschauer sind Menschen mit unterschiedlichen politischen Ansichten und Vorlieben", so das Institut. Auch unter ihnen werde der russische Präsident Wladimir Putin favorisiert, die oppositionellen Einstellungen bei dieser Zuschauerschaft seien überschätzt.

Die Analyse der Konsumenten der 'unabhängigen Medien' lässt schlussfolgern, dass sich um sie herum nicht homogenes liberales Publikum bildet, sondern eine Zuschauerschaft mit unterschiedlichen politischen Ansichten", schreibt das Lewada-Zentrum.

Die größten russischen staatlichen Fernsehsender bleiben bei der Interpretation von Ereignissen nach wie vor die Favoriten. Und das trotz der sich abzeichnenden Krise des Fernsehens, die sich auch in sinkenden Werbeeinnahmen manifestiert. Das bestätigt auch die Liste der angesehensten Journalisten, die fast ausschließlich aus den Talkmastern der meistgesehenen politischen Talkshows der drei Kanäle Rossija 1, Perwy Kanal und NTW besteht. Diese Talkshows sind sogar außerhalb Russlands für deren hohe Emotionalität bekannt.

Bei diesen Shows gibt es für die Zuschauer die Möglichkeit, zumindest in der verkürzten Form, "alternative" Meinungen zu hören. Die Hinwendung zu "unabhängigen" Medien und Informationsquellen ist für die meisten Nutzer ein Zusatz, der einen unverfälschten Blick auf das Geschehen im In- und Ausland aus einer anderen Perspektive bietet.

Werden Videoblogger politischer?  

Und wo befindet sich in dieser Konstellation die russische Jugend? Während der letzten Proteste in Moskau wegen Nichtzulassung einiger Direktkandidaten zu den Wahlen im Stadtrat waren überwiegend junge Gesichter zu sehen. Das Lewada-Zentrum attestiert jedoch der russischen Jugend, insgesamt weniger politisch als ältere Generationen zu sein – zumindest laut der Studie aus dem Jahr 2017. Junge Menschen bis zu 24 Jahren nutzen täglich das Internet, insbesondere verschiedenste soziale Netzwerke.

Diese gibt es in Russland in großer Zahl – VKontakte (Anteil von 67 Prozent), Odnoklassniki (52), gefolgt von Youtube, Instagram, Facebook, Moj Mir (Mail.Ru), Twitter und TikTok. Hinzu kommen populäre Messengerdienste wie WhatsApp und Viber. Und in der letzten Zeit wird gerade im politischen Bereich Telegram immer populärer.

Eine ganze Reihe von Videobloggern ist dabei in den letzten Jahren durch soziale Netzwerke zu Meinungsmachern innerhalb des jungen Publikums aufgestiegen. Die Blogger betätigen sich in den Bereichen Lifestyle, Musik und Gesundheit oder engagieren sich bei Themen des sozialen Miteinanders (StopHam), nur wenige äußern sich politisch – so wie der Youtube-Star und Sportjournalist Juri Dudj, der am 10. August bei der Kundgebung in Moskau für freie Wahlen aufgetreten ist. Sein Youtube-Kanal hat derzeit 5,7 Millionen Abonnenten.

Die Lewada-Umfragen zum Medienverhalten bescheinigen den Russen eine hohe Internetaffinität und ein gewisses Maß an Medienkompetenz. Das zeigt unter anderem eine schwache Korrelation zwischen politischen Überzeugungen der Bürger und bestimmten Vorlieben bei der Mediennutzung. Eine breite Palette der "unabhängigen" Medien dient dabei dem Hinterfragen und der Korrektur der herrschenden politischen Narrative, die von den russischen "Mainstreammedien" propagiert werden.

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