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"Die Taten zählen": SPD auf neuem Russland-Kurs

Trotz Widersprüchen schlägt ein neues SPD-Strategiepapier zur Russland-Politik neue Töne an: Mit Russland müsse eine neue vertrauensvolle Zusammenarbeit entstehen. Wie SPD-Politiker Beschlüsse ihrer Partei bereits umsetzen – darüber mehr in unserem Bericht.
"Die Taten zählen": SPD auf neuem Russland-Kurs© Thomas Häntzschel, nordlicht

von Wladislaw Sankin 

Das war ein Gänsehaut-Moment beim Russlandtag in Rostock: Ministerpräsidentin Manuela Schwesig hat gleich zu Beginn ihrer festlichen Abschlussansprache eine Schweigeminute zum Gedenken an die jugendlichen Opfer des Amoklaufs in Kertsch ausgerufen. Alle 850 Anwesenden standen in großer Bereitschaft auf. Für einen Augenblick wurde es komplett still in der festlich dekorierten Halle. Alle – Deutsche und Russen – waren im Gedenken an die 20 verlorenen jungen Leben der Krim-Bewohner vereint. Wenn es um Menschenleben geht, sei es egal, wie man politisch zum Krim-Status steht, sagte Schwesig.

Man könnte denken, Manuela Schwesig habe sich nur ausnahmsweise einer nicht verletzenden, diplomatischen Sprache bedient. Nein: Wenn sie über Russland spricht, gehört das schneidende bundesdeutsche Pflicht-Vokabular – "Annexion – Aggression – Cyberangriffe – Chemieattacken" – nicht zu ihrem Wortschatz. Und das nicht, weil sie lange Sozial- und Familienministerin war – es gibt da ja noch eine andere Ex-Familienministerin in der Bundespolitik ... Jetzt umgibt sie sich mit dem gleichen strahlenden Lächeln bereits seit fünf Jahren mit Männern in Tarnuniform. Nein, so oder ähnlich sprechen viele Kollegen von Schwesig in anderen östlichen Bundesländern.

Und dabei ist die SPD-Politikerin nicht einmal "Russland-Versteherin". Sie baut einfach Brücken nach Russland und macht das mit Begeisterung. In ihrer Partei ist sie dabei keineswegs isoliert. Ihr Parteigenosse Bundestagsvize Thomas Oppermann, der nie ein "Russland-Versteher" war, weihte den Russlandtag ein. Auch er tat das mit Spaß – er zitierte Putin, scherzte über deutsches Fußball-Pech in Russland, erzählte von der Fußballmannschaft des Bundestags und machte sich über Cybervorwürfe "des Westens" gegen Russland lustig, als er sagte:

Ich weiß auch gar nicht, was sie da ausspionieren wollen. Falls es um die Baupläne für den neuen Berliner Flughafen geht – die händigen wir ihnen freiwillig aus.

Ja, er sagte Dinge wie "Menschenrechte in Russland" oder "Ostukraine", aber kleinlaut. Das war wohl ein Minimum an ritualisierten Politmantras – um von der Presse oder den "jungen Wilden" aus den Reihen der Jusos nicht zerrissen zu werden. Viel lauter klang: Wir brauchen Russland – in vielerlei Hinsicht. Intensivierter Dialog, gemeinsamer Raum bis Wladiwostok, visafreies Reisen – das sind die neuen alten Parolen, die da wieder erklingen.

Was ist da los mit der SPD? Ist nicht etwa seit März 2018 der SPD-Mann Heiko Maas amtierender Außenminister, der bei seinem Amtsantritt versprach, Russland härter anzupacken? Wörtlich hieß es von ihm damals: "Russland agiert zunehmend feindselig." Damals kam es zur Ausweisung russischer Diplomaten wegen eines unaufgeklärten Falls auf dem Territorium eines fremden Staates.

Bereits seit Mai aber ist Maas im Russlandkurs auf die russlandfreundlichere Parteilinie umgeschwenkt, und der Konflikt in der Partei gilt zumindest öffentlich als beigelegt. Was Thomas Oppermann sagt, ist auch im vor kurzem beschlossenen SPD-Positionsbeschluss zur neuen Ostpolitik festgelegt. Unter der Überschrift "Dialog, Vertrauen, Sicherheit – Voraussetzungen und Impulse für eine zeitgemäße sozialdemokratische Entspannungspolitik" nimmt das Papier auf acht Seiten nicht weniger als eine Neuvermessung sozialdemokratischer Osteuropapolitik vor.

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Es gibt nun also nicht die SPD-Russlandpolitik von Maas oder jene von Schwesig. Wobei, wenn man das Dokument genau liest, wirkt es so, als stamme es von verschiedenen Verfassern. In der Präambel lesen wir das Übliche: Russland ist an den aktuellen Anspannungen schuld, achtet das internationales Recht nicht und rüstet auf, Deutschland und die EU sind aber über alle Kritik erhaben:

"Angesichts des russischen Verhaltens in den vergangenen Jahren ist es nachvollziehbar, dass sich die Nachbarn Russlands auch militärisch bedroht fühlen. Insofern ist die erhöhte Präsenz der NATO in den baltischen Staaten konsequent und Ausdruck der Bündnissolidarität", heißt es im Papier. Einen "Dominanzanspruch Russlands gegenüber seinen Nachbarn" wolle man nicht anerkennen.

Auf der anderen Seite ist man bemüht, wie Erben Willy Brandts zu klingen:

Wir sollten und dürfen den derzeitigen Antagonismus zwischen Russland und dem Westen weder als natürlichen noch als Dauerzustand akzeptieren. (…) Deshalb hilft nur eine Politik der kleinen Schritte, eine Politik der gegenseitigen Vertrauensbildung und der schrittweisen Transformation der zu Recht als unbefriedigend und gefährlich empfundenen Verhältnisse.

In der SPD wird sogar darüber nachgedacht, die Kooperation zwischen der NATO und der von Russland dominierten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) zu wagen – unter Vermittlung der OSZE. Auch eine engere Zusammenarbeit zwischen der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) sei längst überfällig. Wenn es für Russland schon so wichtig sei, müsse man Russland also auf Augenhöhe begegnen.

Genau diese Widersprüchlichkeit fiel russischen Experten auf. So kommentierte Wladislaw Below, Leiter des Zentrums für Germanistik am Institut für Europa (RAS), das SPD-Papier in einem Interview mit der Zeitung Kommersant:

Das gesamte Dokument ist ein Versuch, über die Ostpolitik nachzudenken, auf die Deutschland lange gewartet hat. Aus dem Strategiepapier ergibt sich nicht, dass die Regierung einen klaren Plan in diese Richtung hätte.

In dieser Situation sollte also nicht das Dokument mit all seinen Widersprüchen zählen, sondern Taten, wie der erste stellvertretende Duma-Vorsitzende Alexander Schukow im RT-Interview sagte:

Wir sind mehr an konkreten Taten interessiert. Und diese Taten sehen wir. Wie auch Herr Oppermann heute gesagt hat, dass man von Sanktionen zu konkreten Taten übergehen muss.

Zu diesen Taten gehören nicht nur das Vorantreiben der gemeinsamen Projekte wie Nord Stream 2 und die Intensivierung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenarbeit, wie Manuela Schwesig dies fördert und fordert, sondern auch die politische Berücksichtigung russischer Interessen in europäischen Gremien wie dem Europarat. Sowohl Oppermann als auch der Bundestag unterstützten die Rehabilitierung der russischen Delegation bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) in allen ihren Rechten. Diese Diskussionsplattform sei für Russland wichtig, wie eine Delegation russischer Abgeordneten in Deutschland betont hat.

Diese Delegation traf sich am 16. Oktober auch mit dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschüsses des Deutschen Bundestages Norbert Röttgen. Dieser CDU-Politiker ist bekannt für seine unversöhnliche Haltung zu Russland. Aber er hat es nicht vermocht seine Position im ihm unterstehenden Gremium durchzusetzen – die Fraktionen der SPD, der AfD, der Grünen und die Linksfraktion hätten sich eindeutig für Wiederaufnahme der russischen Delegation in den Europarat ausgesprochen, scheibt das russische Portal rambler.

Es scheint, als sei die Hinwendung zu Russland keine "Spezialität" der oppositionellen Linken oder Rechten mehr, sondern als komme sie langsam im politischen Mainstream an. Bei der Bundesregierung ist von diesem Wandel noch wenig zu spüren, genauso wie bei der Presse und den transatlantisch ausgerichteten NGOs und Thinktanks. Aber so, wie eine der Regierungsparteien intern ihr eigenes Dokument auslegt und dabei offenbar dem Konstruktiven den Vorzug gegenüber dem Konfrontativen gibt, lässt tief blicken, wie die deutsche Russland-Politik in den nächsten Jahren aussehen könnte.

Wohlgemerkt: Das, worüber Thomas Oppermann auch nach neuen "Erkenntnissen" aus den Niederlanden scherzte – die angebliche russische Cyberangriffe gegen den Westen –, ist im SPD-Dokument in aller Ernsthaftigkeit als russisches "Fehlverhalten" festgeschrieben ...

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