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Zur Geschichte der Fake-News: Wie der "Sinowjew-Brief" ab 1924 die internationale Politik sprengte

Im Oktober 1924 hat der sog. Sinowjew-Brief die britische Gesellschaft erschüttert und die Ergebnisse der Parlamentswahlen direkt beeinflusst. Der "rote Brief" war eine Fälschung. Britische Geheimdienste hatten jedoch lange "keine Zweifel" an seiner Echtheit.
Zur Geschichte der Fake-News: Wie der "Sinowjew-Brief" ab 1924 die internationale Politik sprengteQuelle: Sputnik

Am 25. Oktober 1924, nur vier Tage vor den dritten Unterhauswahlen in kurzer Folge, veröffentlichte die rechtskonservative Boulevardzeitung Daily Mail ein sensationelles Material mit folgenden Schlagzeilen: "Gestern Komplott aufgedeckt. Moskau gibt Befehle unseren Roten. Und Mister MacDonald kreditiert Russland mit unserem Geld".

Das Blatt platzierte auf Seite 9 dann ausführlicher einen Brief mit dem Aufruf zur Sabotage und Bildung der "Roten Armee". Das Schreiben sollte von dem Vorsitzenden der Kommunistischen Internationale und Lenin-Vertrauten Grigori Sinowjew, dem Anführer finnischer Kommunisten Otto Kuusinen und dem Schotten Artur MacManus stammen und an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Britanniens adressiert sein.

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Konkret riefen die Spitzen der Kommunistischen Internationale das Britische Proletariat auf, "die Kräfte für den Kampf zur Ratifizierung des Handelsvertrages zwischen der Labour-Regierung von Ramsey MacDonald und der UdSSR anzustrengen". Dieser würde freundliche Beziehungen zwischen zwei Staaten fördern, was die Propagierung der Ideen des Leninismus erleichtern würde. Gleichzeitig sollte auch die Militärsektion der Kommunistischen Partei – eine Rote Armee – ausgebaut werden und sich auf einen bewaffneten Aufstand vorbereiten.

Schafft die führende, operative Spitze der Militärsektion. Zögert damit nicht, denn die Zukunft kann schicksalsschwanger sein und uns unvorbereitet überrumpeln" – mit diesen Worten schlossen die Funktionäre ihren Brief ab.

Auch die Protestnote des britischen Außenministeriums an den Botschafter der Sowjetunion Christian Rakowski wurde von dem Blatt veröffentlicht. Den Sowjets wurde grobe Einmischung in die inneren Angelegenheiten Großbritanniens vorgeworfen. Mit diesem Brief verletze die Sowjetregierung den britisch-sowjetischen Vertrag vom 4. Juni, wonach ihr oblag, jegliche Unterstützung der aufrührerischen Kräfte im Britischen Imperium zu unterlassen.

Den Wahlkampf für die Unterhauswahlen, die man nach einem Misstrauensvotum an die Labour-Minderheitsregierung einleitete, bestritten die Konservativen hauptsächlich damit, dass sie das Schreckgespenst eines von Labour geförderten bolschewistischen Umsturzes an die Wand malten. Die Veröffentlichung trieb die russophobe und antikommunistische Hysterie auf die Spitze. Innenpolitisch hievte sie die Konservativen wieder an die Macht: bei den Wahlen am 29. Oktober wurden sie wieder die mit Abstand stärkste Kraft. Die erste Labour-Regierung von Ramsey MacDonald stand in der Lesart der britischen konservativen Mainstream-Presse als Verräterin da und musste zurücktreten. Die vorherigen Schritte zwischen den beiden Regierungen zur Annäherung beider Länder machte der Sieg der Konservativen zunichte. 

Moskau wies die Schuld von sich und gewährte zwei Monaten später sogar einer Delegation der britischen Gewerkschaften den Zugang zu Archivunterlagen der Kommunistischen Internationale – ein bis dahin beispielloser Vorgang. Die Briten fanden keine Bestätigung für Existenz eines solches Briefes. Zwar hatte sich die Kommunistische Internationale im Jahre 1924 noch nicht von den Ideen der weltweiten proletarischen Revolution verabschiedet und Briefe mit einem ähnlichen Inhalt an manche Parteien in anderen Ländern gesandt, dennoch war ein solcher Brief ausgerechnet an die Briten kurz vor Unterhauswahlen völlig unmöglich: die beiden Vertragsparteien – die Labour-Regierung und die Sowjetregierung hatten beiderseits Interesse an stabilen Beziehungen.

Die vom Bürgerkrieg gebeutelte revolutionäre UdSSR brauchte dringend Kredite für den Wiederaufbau. Die Labour-Regierung von Ramsey MacDonald, die im Februar 1924 die UdSSR anerkannte, war bereit, solche Kredite zu vergeben, vor allem, damit die UdSSR benötigte Technik nicht in Deutschland, sondern in England kaufe. Kurz zuvor bestellte Moskau 600 Lokomotiven in Deutschland, und die englischen Industriellen machten Druck auf die Regierung, damit solche Aufträge ihnen künftig nicht mehr entgehen. Nach einem erzielten Kompromiss über die Schulden aus der Zarenzeit unterzeichneten die beiden Staaten im Juni 1924 einen umfassenden Handelsvertrag.

Dass der auf den 15. September 1924 datierte Brief eine Fälschung sein könnte, wies gleich der Briefkopf aus. Als Absender wurde "III. Kommunistische Internationale" ausgewiesen. In Wirklichkeit betrachtete die Kommunistische Internationale im Jahre 1924 die Vorläufer-Organisationen nicht als kommunistisch und verzichtete deshalb in ihrer Selbstnennung auf diese Aufzählung mit römischen Ordnungszahlen. Warum kam es dennoch zu einer Veröffentlichung?

Der Brief wurde auf einem Notizblock der Kommunistischen Internationale verfasst und angeblich von einem Agenten innerhalb der Kommunistischen Internationale einem britischen Agenten des SIS (Secret Intelligence Service, bekannt auch als MI6) in Riga am 2. Oktober zugespielt. Er telegraphierte den Text sofort nach London. Die Kopie verbreitete sich schnell und erreichte die Spitzen der konservativen Partei. Auch der Außen- und gleichzeitig Premier-Minister Ramsey MacDonald wusste von dem Brief, wollte sich aber von seiner Echtheit vergewissern, bevor er publik gemacht würde. MacDonald befand sich in jenen Tagen auf einer Wahlkampf-Reise. Doch noch bevor eine Prüfung möglich war, landete die Kopie bei Daily Mail. Kurz nach der Wahl brüstete sich der Eigentümer der Zeitung Harold Harmsworth, der adlige Viscount Rothermere, seine Publikation hätte die Labour-Partei 100 Sitze gekostet. Auch die Note an den sowjetischen Botschafter wurde ohne Zutun des Außenministers geschrieben. Unterschrieben und verschickt wurde sie von einem der Abteilungsleiter des Foreign-Office Jay Don Gregory. Nach dem Skandal um den Sinowjew-Brief konnte die Labour-Partei erst im Jahr 1929 wieder eine Regierung stellen. 

Seitdem versuchten die Labour-Regierungen immer wieder eine Untersuchung zum Sinowjew-Brief einzuleiten. Dank den Enthüllungen einer in England lebenden russischen Emigrantin Irina Bellegarde ist spätestens seit den 1960er Jahren bekannt, dass der Brief im Kreis der russischen antibolschewistischen Emigranten verfasst wurde, möglicherweise in Berlin-Charlottenburg. Damals agierte eine professionelle russische Fälscher-Gruppe, die über vorzügliche Kontakte zu britischen Geheimdiensten verfügte. Mit dem Brief wollten die russischen Monarchisten die Ratifizierung des sowjetisch-britischen Handelsvertrages verhindern.

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"Schmutziger politischer Trick" - Gill Bennett über den Sinowjew-Brief: 

Einen entscheidenden Schritt zur Aufklärung der Sinowjew-Affäre machte die Chef-Historikerin des Außenministeriums Gill Bennett Ende der 1990er Jahre, als sie im Auftrag der damaligen Labour-Regierung von Tony Blair eine Vielzahl bis dahin geheim gehaltener Dokumente – darunter auch aus Moskauer Archiven – ans Licht brachte.

Ihr neues Buch "The Zinoviev Letter: The Conspiracy that Never Dies", erschienen im August 2018, liefert ein facettenreiches Bild der Politik der 1920er Jahre im Lichte des Skandals. Sie bestätigte: Moskau sagte die Wahrheit und London log. Federführend war dabei die Rolle des Geheimdienstes MI6. Dessen Beamte, die den Konservativen nahe standen, hatten auch die Weitergabe an die Daily Mail organisiert – mit dem Ziel, die Labour-Regierung zu diskreditieren und so die Wahlen in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Als Hauptverantwortliche für die Verbreitung des Briefes benennt Gill Bennett in ihren Recherchen Desmond Morton, einen MI6-Offizier und Sir Joseph Ball, einen MI5-Offizier. Morton galt als Freund von Winston Churchill und während des Zweiten Weltkrieges ernannte er Morton zu seinem persönlichen Assistenten. Ball wurde 1927 aus dem MI5 in die Propaganda-Abteilung des Central Office der Konservativen befördert.

"Ich habe meine Zweifel, ob Morton dachte, dass der Brief echt sei, aber er behandelte ihn so, als wäre er es", sagte sie. Sie beschreibt den MI6 als das Zentrum des Skandals, obwohl es unmöglich war zu sagen, ob der Leiter des MI6, Admiral Sir Hugh Sinclair, persönlich beteiligt war. Für Bennett gebe es jedoch keine Hinweise auf eine Verschwörung im "institutionellen Sinn". Die Sicherheits- und Nachrichtendienst-Community hätte damals aus einem "sehr, sehr inzestuösen, einem Elitenetzwerk" bestanden, das bereits gemeinsam zur Schule ging. Dessen Loyalität, schreibt sie in ihrem Buch, "lag fest im Lager der Konservativen".

In der Tat, die Militär- und Polizeikreise hatten keinen Grund, dem sozialistischen Newcomer in der Labour-Regierung zu vertrauen. Ramsey MacDonald äußerte oft Zweifel, ob die Geheimdienste überhaupt nötig wären. Ohnehin wurden nach Ende des ersten Weltkrieges viele Beamten der Geheimdienste entlassen. Aus Sicht der Sicherheitsdienste spielte MacDonald die kommunistische Gefahr herunter, als er beispielsweise Sir Wyndham Childs, dem Vize-Chef der Sonderpolizei, vorschlug, nicht die kommunistische Partei, sondern die junge faschistische Partei ins Visier zu nehmen. Sie hatten also allen Grund, die Rückkehr der Tories an die Macht zu feiern.

In ihrem ersten Regierungsakt kippte die konservative Regierung umgehend den britisch-sowjetischen Handelspakt – die Beziehungen zur UdSSR lagen für Jahrzehnte weitgehend "auf Eis". Das wirkte sich auch unmittelbar auf die europäische Sicherheitsarchitektur in der Zeit zwischen beiden Weltkriegen aus. Auch innenpolitisch war das Klima in Großbritannien auf Dauer beschädigt.

Im rechten Spektrum der Politik wurde die Sinowjew-Affäre lange als Beweis dafür in Erinnerung behalten, dass britische Linke mit unheimlichen Ausländern im Bunde waren; auf der linken Seite bleibt sie als schmutziger Trick in Erinnerung, der zaghafte Experimente mit dem Sozialismus abwürgte", schrieb die britische The Economist in ihrem jüngsten Artikel zum Sinowjew-Brief.

Dennoch, auch wenn die heutigen Autoren in Großbritannien aufrufen, die Lehren aus der Affäre um eine aufgebauschte politische Fälschung zu ziehen, halten sie an der Legende der aktuellen russischen Einmischung in die politische Vorgänge im Westen fest. In der Rezension in The Economist zum Buch von Gill Bennett ist auch zu lesen: "Der Sinowjew-Brief war eine Fälschung, während jetzt weithin anerkannt ist, dass die Russen sich in die US-Wahlen eingemischt haben". Die konservative The Times geht noch weiter: Auch wenn der Sinowjew-Brief eine Fälschung sei, die rote Gefahr sei real gewesen. Der Brief hätte dies nur unterstrichen.

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