Europäische Union: Mit neuer Kommissionschefin vor alten Zerreißproben

Sie hat viel versprochen und doch nur knapp gewonnen: Das EU-Parlament wählte Ursula von der Leyen zur neuen Kommissionschefin. Sie will die Integration des Staatenbündnisses vorantreiben, dessen Bruchlinien immer deutlicher zutage treten.
Europäische Union: Mit neuer Kommissionschefin vor alten Zerreißproben Quelle: www.globallookpress.com

von Pierre Lévy

Sie wird keine Kanzlerin sein – eine Aussicht, die einst glaubwürdig schien, in den letzten Jahren jedoch verblasste. Sie wird auch keine NATO-Generalsekretärin werden – eine Position, für die ihr Name in den Kreisen der transatlantischen Allianz kursierte, wahrscheinlich weil sie die erste deutsche Verteidigungsministerin war, die den Militärhaushalt um 40 Prozent innerhalb von sechs Jahren steigerte.

Es ist schließlich der Posten als EU-Kommissionspräsidentin, den Ursula von der Leyen erhielt. Nach mühsamen Verhandlungen wurde sie vom Europäischen Rat am 2. Juli auf gemeinsame Initiative von Emmanuel Macron und Angela Merkel in dieses Amt berufen. Am 16. Juli wurde sie durch eine Abstimmung des EU-Parlaments bestätigt. Ihr Amt wird sie im November antreten.

Sie bekam 383 Stimmen, nur neun Stimmen über der absoluten Mehrheit, die erforderlich war. Sie hätte theoretisch mit 444 Stimmen rechnen können, wenn die Abgeordneten der drei Fraktionen, die sie offiziell unterstützten, allesamt für sie votiert hätten. Ein Scheitern war jedoch unwahrscheinlich, da dies eine verzwickte institutionelle Krise ausgelöst hätte.

In den vergangenen zwei Wochen hatte die Brüsseler Blase versucht, sich selbst Angst zu machen. Denn viele in der Straßburger Versammlung haben nicht die vom Rat verursachte Demütigung verdaut. Letzterer hatte nämlich die von den EU-Parlamentariern geforderte Methode über Bord geworfen, wonach der von der führenden Partei bei den EU-Wahlen vorgestellte Kandidat die Führung der Kommission übernehmen sollte. Auf Druck insbesondere aus Paris wurde Manfred Weber, der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP), jedoch verdrängt.

In dieser Fraktion selbst war viel Zähneknirschen zu vernehmen. Auch bei den europäischen Sozialdemokraten war die Wut groß, die kurz gedacht hatten, sie hätten ihren eigenen Kandidaten voranbringen können. Und die Dänin Margrethe Vestager, Starkommissarin in Brüssel, beflügelte die Hoffnungen der Liberalen.

Deshalb hat von der Leyen seit dem 3. Juli ihre Bemühungen nicht unterlassen, die Abgeordneten zu umwerben und zu beschwichtigen. Schließlich machte sie kurz vor der Abstimmung viele Versprechen: ein "sozialeres" Europa mit einem Mindestlohn, das mehr Arbeitsplätze für junge Menschen schafft; mehr Anstrengungen im Gesundheitsbereich; Verbesserung des Bildungswesens und Armutsbekämpfung; Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen; Rettung von Migranten auf See; ein "kompromissloses" Engagement für die "Rechtsstaatlichkeit" ...

Und natürlich – dies ist eine wichtige ideologische Forderung der oligarchischen Eliten der EU – wird ihre erste Priorität die "Klimakrise" in Form eines "europäischen Green Deals" und einer weiteren Verschärfung der CO2-Reduktionsziele sein. Sie hat sich daher für eine "Klimaneutralität" (aber sicherlich nicht geopolitische Neutralität) bis zum Jahr 2050 ausgesprochen.

Das war nicht genug, damit die Fraktion der Grünen sie unterstützen konnte. Ihr Co-Vorsitzender Philippe Lamberts beschwerte sich, dass er in den ursprünglich aufgenommenen Verhandlungen über eine "Viererkoalition" "ans Ende des Tisches verwiesen und dann endgültig entlassen" worden sei. "Wir sind eine respektable politische Kraft, wir wurden beleidigend behandelt", empörte sich Lamberts.

Ursula von der Leyen erklärte auch ihre Bereitschaft, eine weitere Verschiebung des Austrittsdatums des Vereinigten Königreichs zu akzeptieren, wenn London dies beantragt (was keineswegs der Fall ist). Dafür wurde die CDU-Politikerin von vielen britischen Abgeordneten ausgepfiffen.

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Schließlich gelang es ihr, einige Stimmen aus der Gruppe der "Europäischen Konservativen und Reformisten" (ECR) zu sammeln, zu der die regierenden Ultrakonservativen in Polen (PiS) gehören – Angela Merkel soll nach Angaben einiger Quellen diskret in Warschau interveniert haben. Zudem sollen, was noch überraschender ist, einige Abgeordnete aus der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung für von der Leyen gestimmt haben.

Egal wer an der Spzite steht: Die Widersprüche bleiben bestehen

Für diejenigen, die mit Brüssel und Straßburg vertraut sind, war der Vorgang ausgesprochen spannend. Andererseits ist die überwältigende Mehrheit der Bürger in den verschiedenen EU-Ländern äußerst lethargisch geblieben. Zumal die Show betrüblich und bedauernswert war: Die verschiedenen Versprechen der zukünftigen Chefin glichen denen einer "Regierung" zu Beginn des Mandats. Eine groteske Fiktion.

Unter diesen Bedingungen hat die Wahl der schließlich gewählten Persönlichkeit – natürlich in einem ideologisch homogenen Gremium, jedenfalls getreu dem "europäischen Glauben" – nur eine begrenzte Wichtigkeit. Diese Wahl hat wenig Einfluss auf die explosiven Probleme und Widersprüche, mit denen die EU in den letzten Jahren konfrontiert war und die sich wohl nur noch verschlimmern werden.

So wird die Frage der Ankunft von Migranten weiterhin zu Kontroversen und divergierenden Haltungen zwischen den Mitgliedsländern führen. Die Wirtschaftskrise könnte in der nächsten Zeit wieder aufflammen, zumal das Wachstum der führende Wirtschaftsmacht der EU stagniert. Die Gegensätze zwischen Regierungen, die eine strenge Haushaltsorthodoxie unterstützen (wofür von der Leyen als ein gutes Beispiel dient), und denjenigen, die von Erstgenannten der Nachgiebigkeit beschuldigt werden, dürften sich insbesondere in der Eurozone verschärfen.

Und einige osteuropäische Regierungen dürften weiterhin die Rolle des Dissidenten im Bereich der "Rechtsstaatlichkeit" spielen und damit ihre westlichen Pendants verhöhnen – ohne jedoch einen offenen Krieg auszulösen, da die Mittel aus Brüssel für Warschau oder Budapest immer wieder wichtig sind.

In dieser Hinsicht werden die Verhandlungen über den künftigen Haushaltsplan der EU (2021 – 2027) sicherlich explosiv sein, insbesondere nach dem Austritt Großbritanniens (bislang ein Nettobeitragszahler).

All diese Zeitbomben spiegeln eigentlich den grundlegenden großen Widerspruch wider: den, der ständig wächst zwischen den Befürwortern eines "gerechteren und geeinteren Europas" (in den Worten der zukünftigen Brüsseler Chefin) und den Völkern, die mehr oder weniger bewusst das Gefühl haben, dass "das europäische Abenteuer" seiner Natur nach nur zu einer weiteren Zerschlagung sozialstaatlicher Strukturen und der Beschlagnahmung der Demokratie führt.

Ursula von der Leyen will die Integration stetig vorantreiben, beispielsweise durch den Vorschlag einer "Konferenz" über die institutionelle Zukunft der EU (wie von Emmanuel Macron gefordert), oder durch die Aufgabe der Einstimmigkeitsregel in der Außenpolitik. Vielleicht glaubt sie sogar, dass dies einer Volkserwartung entspricht. Denn politische Führungskräfte sind manchmal Opfer ihrer eigenen Propaganda, so wie US-Präsident George W. Bush sich vorstellte, dass seine Soldaten in Bagdad enthusiastisch willkommen geheißen würden. Die Folgen sind bekannt.

Als der derzeitige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Jahr 2014 sein Mandat antrat, sprach er angesichts der von Krisen geplagten Europäischen Union von einer "Kommission der letzten Chance". Während seiner Herrschaft gab es jedoch auch keinen Mangel an Krisen. Seit Walter Hallstein, der als Erster diese Position besetzte (bei der Gründung der EWG 1958), hatte es keinen Deutschen an der Spitze der Europäischen Kommission mehr gegeben. Wer weiß, ob Ursula von der Leyen angesichts der zentrifugalen Kräfte innerhalb der EU, die zu ersten Auflösungserscheinungen (Brexit) führen, nicht die Letzte sein wird, die dieses Amt noch vor seiner Liquidation besetzt.

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