Meinung

Chemnitz und anderswo: Wem gehören die Toten?

Der Mord an einem Deutsch-Kubaner in Chemnitz und die daraus resultierenden Tumulte spalten das Land. Eine öffentliche Kundgebung jagt die andere. Doch ist eigentlich schon mal jemand auf die Idee gekommen zu fragen, was die Angehörigen darüber denken?
Chemnitz und anderswo: Wem gehören die Toten?Quelle: Reuters © Hannibal Hanschke

von Timo Kirez

In dem antiken Drama "Antigone" von Sophokles, das vermutlich 442 v. Chr. in Athen aufgeführt wurde, hat der Bruderkrieg in Theben gerade sein blutiges Ende gefunden. Eteokles und Polyneikes, die Söhne des Ödipus, haben sich im Kampf um die Nachfolge gegenseitig massakriert. Nun wird Kreon, der Onkel der beiden Brüder, König von Theben. Mit eiserner Hand versucht er, die Ordnung in der vom Bürgerkrieg zerrütteten Stadt wiederherzustellen. So verfügt er, Eteokles als Held des Vaterlands mit allen Ehren zu bestatten. Dem Bruder hingegen verweigert er das Begräbnis, seine Leiche diene den Hunden und Vögeln zum Fraß.

Antigone, Schwester von Polyneikes, widersetzt sich dieser Anordnung. Für sie steht das "göttliche Recht" höher als die "Staatsräson". Der Widerspruch zwischen "Göttlichem Recht" und "Menschlichem Gesetz" ist eine Möglichkeit, die Tragödie von Sophokles zu deuten. Eine weitere, leider brandaktuelle, ist die Frage, wem die Toten gehören. Bei Sophokles ist es "der Staat", der nach den Toten greift. Im Fall des in Chemnitz ermordeten Daniel H. sind es Interessensgruppen jeglicher Couleur, von links bis rechts, die sich, um es einmal zynisch zu formulieren, am Gebrauchswert der Toten für die Lebenden abarbeiten.

Es ist ein höchst beunruhigendes Alarmzeichen für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft, wenn sich dieser "Gebrauchswert", oder auch die Solidarität mit den Toten, immer deutlicher nur entlang des jeweiligen Gesinnungshorizonts manifestiert. Die Instrumentalisierung der Toten ist keine Erfindung von Pro Chemnitz, der AfD oder der Antifa, es hat sie schon immer gegeben. So schlug Marc Anton Kapital daraus, dass er dem römischen Volk das blutgetränkte Gewand des toten Diktators Cäsar vorführte.

Dennoch ist es immer wieder aufs Neue erschreckend, wie rücksichtslos und berechnend dabei vorgegangen wird. Denn kaum einer fragt: Was denkt die Familie, was denken die Angehörigen des in Chemnitz ermordeten Daniel H. über die vermeintlichen "Trauermärsche" im Namen des Opfers? Hat sie jemand gefragt? Ein Beitrag
aus der Onlineausgabe des Stern vom 2. September lässt begründete Zweifel daran erkennen, dass die Kundgebungen in Chemnitz auch "im Namen Daniel H.s" stattfanden. Das Magazin zitiert einen Freund des Ermordeten mit den Worten:

Daniel hätte es zum Kotzen gefunden, was beide Seiten jetzt miteinander abziehen.

Auch in einem anderen Fall sorgt die Aneignung der Toten für Wut und Empörung. Teilnehmer des sogenannten Trauermarschs, zu dem die AfD und Pegida am Wochenende in Chemnitz aufgerufen hatten, trugen Fotos von mutmaßlichen Mordopfern vor sich her – darunter auch das Bild der im Juni getöteten Tramperin Sophia L. Doch die Familie und Freunde der Studentin distanzieren sich mit einem empörten Statement gegen diese Instrumentalisierung.

"Diese Veranstaltung war kein Ort der aufrichtigen Trauer um Sophia oder sonst irgendjemanden, sondern ein Ort der Hetze und der Niedertracht", so die Familie und Freunde in ihrem Statement. Und weiter:

Wir lassen nicht zu, dass das Andenken an unsere Sophia für ausländerfeindliche Zwecke missbraucht wird. Wir stellen uns in ihrem Namen gegen die Instrumentalisierung ihrer Person für Hetze, Rassismus und Hass.

In Erinnerung bleibt auch das unwürdige Gezerre um eine von der AfD im Deutschen Bundestag im Juni dieses Jahres spontan ausgerufene Schweigeminute für die in Wiesbaden ermordete 14-jährige Susanna. Die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth unterband die Aktion der AfD recht kurz und bündig. Die von Claudia Roth inszenierte Schweigeminute für die Todesopfer im Mittelmeer aus dem Jahr 2015 wiederum wurde von Teilen der Rechten als "Beleg" dafür bezeichnet, dass die Grünen-Politikerin nur "einseitig trauern" könne.

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Was sagt das über ein Land, wenn es Tote gegeneinander aufrechnet? Ein Gedenken, das als solches anerkannt sein will, sollte nicht nur die unausgesprochenen Regeln der Pietät und der Scham respektieren. Trauer als heilende Funktion in einer Gesellschaft funktioniert nur, wenn sie gemeinsame Trauer ist. Wenn sie auf einer Grundlage der Verständigung stattfindet. Alles andere ist Demagogie.

Wer nicht in der Lage ist, die Toten zu ehren, wird es mit den Lebenden nicht anders halten.

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