Contra "Aufstehen": Die Illusion vom guten Kapitalismus

Seit Sahra Wagenknecht die linke Sammelbewegung #aufstehen angekündigt hat, streiten sich Befürworter und Gegner. Erstere schöpfen Hoffnung, letztere sehen den linken Grundkonsens in Gefahr und empfinden das Projekt als autoritär. Eine Kritik von links.
Contra "Aufstehen": Die Illusion vom guten KapitalismusQuelle: Reuters © Bildcollage: Olaf Krüger/RT Deutsch

von Susan Bonath 

Die Reichen werden reicher, Armut breitet sich aus. In den Industrienationen zittert vor allem die untere Mittelschicht vor einem drohenden sozialen Abstieg. Eine Umweltkatastrophe apokalyptischen Ausmaßes bahnt sich an, die Furcht vor einem Dritten Weltkrieg wächst. Immer mehr Menschen spüren die wachsenden Verwerfungen im globalen Spätkapitalismus. "Wie kommen wir da heraus?", lautet eine oft gestellte Frage. So mancher klammert sich an jeden Strohhalm.

Als solcher fungieren dieser Tage die bekannten Linkspartei-Politiker Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine. Linke, Sozialdemokraten, wohlmeinende Konservative projizieren in das maßgeblich von den beiden initiierte Projekt #aufstehen so manche Hoffnungen. Irgendwie besser werden soll es mit dieser "Sammlungsbewegung". Von etlichen Medien wohlwollend begleitet, von anderen misstrauisch beäugt, kritisiert von links und rechts, tobt in den sozialen Netzwerken ein Kampf zwischen Befürwortern und Kritikern. Die Fronten verhärten sich.

Undurchsichtiges Angebot von oben

Das Wort "Bewegung" klingt motivierend und vielversprechend, irgendwie nach Aufstand. Doch ein solcher hat ein konkretes Ziel. "Aufstehen" vertröstet bei der Frage nach einem solchen auf den 4. September. Auf der Webseite gibt es, neben dem Anmeldeformular, nur aufwendig produzierte Videos.

"Margot" erzählt zu trauriger Musik über ihre Angst vor Wohnungsverlust. Gewerkschafterin "Susi" wünscht sich "wieder Politik mit normalen Menschen". Lehrer "Andi" beklagt die Bürokratisierung und das "Notendenken" seiner Schüler. Und so weiter. Doch wer sind Margot, Susi, Andi und die anderen eigentlich? Wessen Statements geben sie wieder? Ihre eigenen? Von oben vorgegebene? Auffällig ist: Die Videos sind professionell gemacht, erinnern an emotionale Werbefilmchen. Ihr Motto: Die da oben tun nichts.

Die Aufforderung richtet sich an irgendwie Unzufriedene. Wer eine andere Politik will, möge sich dort registrieren. "Jeder, der sich auf unserer Webseite registriert, wird damit Teil der Bewegung", sagte Wagenknecht in einem am 3. August veröffentlichten Interview mit den NachDenkSeiten. Und weiter: "Er wird automatisch unsere vielfältigen Online-Inhalte erhalten als auch über Aktionen vor Ort informiert." Also Klappe halten und warten auf ein Animationsprogramm von den Machern?

Wer finanziert das eigentlich alles? Die Einrichtung der Webseite und der Social-Media-Auftritte, die Arbeitszeit für deren Betreuung, die Videoproduktionen. Auf eine entsprechende Nachfrage der Autorin übermittelte eine Büromitarbeiterin Wagenknechts lediglich ein Kurzstatement der Linke-Politikerin: "Alle, die sich in der Sammlungsbewegung engagieren, tun das aktuell ehrenamtlich." Man könne das auch zitieren. Ehrlich? Das klingt wie eine Antwort von Regierungssprecher Steffen Seibert auf eine unliebsame Anfrage bei der Bundespressekonferenz: Mehr haben wir dazu nicht zu sagen. Punkt.

Kampf zwischen zwei rechten Flügeln

Seit Langem grenzt sich das Duo Wagenknecht und Lafontaine innerhalb der Linkspartei von den moralisch argumentierenden Kapitalismus-Reformern um Parteichefin Katja Kipping ab. Dabei hält sich wacker das Gerücht, die beiden führten einen ominösen "linken Flügel" der Linkspartei an.

Wahr ist indes: Wagenknecht trat für ihre politische Karriere aus der Kommunistischen Plattform aus. Sie redet wie der von ihr als Moralisten kritisierte Flügel von "sozialer Gerechtigkeit" - ein Begriff, der seit jeher von allen Parteien je nach zu bedienender Klientel recht beliebig eingesetzt wird. Beide "Lager" kritisieren seit Langem bestenfalls Auswirkungen des Kapitalismus wie Armut, Aufrüstung, das Treiben der NATO. Das Konzept beider Seiten manifestiert sich im Gros darin, Reiche höher zu besteuern und Hartz IV zu entschärfen. Bei der NATO ist man sich schon nicht mehr einig. Wagenknecht schielt dabei zurück zur Ära Ludwig Erhards oder der von Willy Brandt. Beide wollen den Kapitalismus irgendwie sozialer gestalten.

Wahr ist auch, dass Wagenknechts Ehemann Lafontaine eine politische Karriere als Sozialdemokrat mit zeitweilig gravierender rechter Schlagseite hinter sich hat. Schon in der Flüchtlingsdebatte Anfang der 1990er-Jahre – auf die eine ganze Welle von teils tödlichen Anschlägen auf Unterkünfte und deren Bewohner folgten – befeuerte er gemeinsam mit der CDU die faktische Aufhebung des bis dato geltenden Asylrechts, sprach abfällig von "Scheinasylanten" und "Wirtschaftsflüchtlingen". Heute argumentiert der Sozialdemokrat ähnlich. Mit der "Beschränkung des Zuzugs" wolle er die AfD schwächen. Seine Frau sieht es ähnlich. Man kann also mitnichten von einem linken und rechten Flügel reden. Im Gegenteil: Hier bekämpfen sich zwei pro-kapitalistische, also rechte Lager innerhalb der Linkspartei.

Abschied vom linken Grundkonsens

Links steht im besten historischen Kontext, wer sich auf die Seite der Entrechteten, der Unterdrückten, der Armen stellt. Es geht primär um Arm und Reich, nicht um Herkunft. Alle Menschen sind gleich viel wert und haben gleiche Rechte verdient – das ist der linke Grundkonsens schlechthin. Wer beginnt, Arme in Gruppen zu selektieren, Menschenrechte nach nationalen Kriterien unterschiedlich zu verteilen, wer Wert- und Unwert-Theorien aufstellt, verlässt den humanistischen Weg, der links von rechts primär unterscheidet.

Wenn Wagenknecht gemeinsam mit Theatermacher Bernd Stegemann in einem Gastartikel in der Nordwest-Zeitung konstatiert, die politisch sinnvolle Grenze verlaufe "nicht zwischen den Ressentiments der AfD und der allgemeinen Moral einer grenzenlosen Willkommenskultur", baut sie bereits eine demagogische Brücke. Einerseits sind moralische Appelle von oben an jene, die am meisten unter den desolaten Bedingungen leiden, anzuprangern. Aber nicht deshalb, weil Moral schlecht sei, sondern weil sie den politischen Kontext ausklammern, die Ursachen nicht benennen und die Lasten nach unten abwälzen.

Wagenknecht und Lafontaine reden gern von Ursachen, benennen aber tatsächlich Symptome, wie Krieg und Ausbeutung der "dritten Welt". Damit verweigern auch sie sich dem politischen Diskurs über die kapitalistische Produktionsweise, die auf genau solches Wirtschaften ausgelegt ist, wie wir es erleben. Und beide sprechen ebenso gern im Konjunktiv: Man müsste vor Ort helfen. Was sie nicht sagen: Wer nicht über die wirtschaftliche Macht verfügt, hat nicht die Mittel dazu, um Aufbauhilfe zu leisten, genug Lebensmittel zu transportieren und letztlich die plündernden Konzerne aus den Herkunftsländern zu jagen.

In ihrem Gastbeitrag erklären Wagenknecht und Stegemann, sie lehnten "beide Maximalforderungen" – also "offene Grenzen für alle" einerseits und Hetze gegen Flüchtlinge andererseits ab. Dann mahnen sie zwar an, es sei "politisch sinnvoll", die Flüchtlingshelfer zu unterstützen, aber nicht sinnvoll, sich "von kriminellen Schlepperbanden vorschreiben zu lassen, welche Menschen auf illegalen Wegen nach Europa gelangen".

Das ist Demagogie schlechthin: Erstens sind alle offiziellen Fluchtwege nach Europa versperrt. Somit wären nach dieser Auffassung alle Flüchtlinge "illegal". Die logische Konsequenz: Man lässt bereits Geflohene in libyschen Folterlagern vegetieren oder bei Fluchtversuchen übers Mittelmeer ertrinken. Zweitens suggeriert sie, das "Schlepper-Modell" sei nicht etwa ein gewöhnliches Konzept kapitalistischer Profitmacherei. Ist es aber doch. Von den Konzepten von Großkonzernen wie Nestlé oder Rheinmetall unterscheidet es sich nur in einem: Die eine Profit-Masche ist legal, die andere nicht. 

Von links sollte hierzu zweierlei klargestellt werden: Flucht und Migrationsbewegungen hat es im Kapitalismus schon immer gegeben. Produziert werden sie durch die enorme und anwachsende soziale Ungleichheit, die wirtschaftliche Ausbeutung und so forciertes Elend. Zweitens bietet der Kapitalismus selbst keine Lösung für diese Probleme an. Ändern kann nur etwas, wer über die Produktionsmittel und den Staat, also die ökonomische Macht verfügt. Will man Humanist bleiben, kann die Frage nur klassenpolitisch beantwortet werden.

Zum Vergleich zu den Positionen der Macher von #aufstehen hier eine Resolution, die Sozialdemokraten auf ihrem internationalen Kongress in Stuttgart im Jahr 1907 verabschiedeten: 

Die Ein- und Auswanderung der Arbeiter sind vom Wesen des Kapitalismus ebenso unzertrennliche Erscheinungen wie die Arbeitslosigkeit, Überproduktion und Unterkonsum der Arbeiter. Sie sind oft ein Mittel, den Anteil der Arbeiter an der Arbeitsproduktion herabzusetzen und nehmen zeitweise durch politische, religiöse und nationale Verfolgungen anormale Dimensionen an.

Der Kongress vermag ein Mittel zur Abhilfe der von der Aus- und Einwanderung für die Arbeiterschaft etwa drohenden Folgen nicht in irgendwelchen ökonomischen oder politischen Ausnahmemaßregeln zu erblicken, da diese fruchtlos und ihrem Wesen nach reaktionär sind, also insbesondere nicht in einer Beschränkung der Freizügigkeit und in einem Ausschluss fremder Nationalitäten oder Rassen. 

Dagegen erklärt es der Kongress für eine Pflicht der organisierten Arbeiterschaft, sich gegen die im Gefolge der Masseneinwanderung unorganisierter Arbeiter vielfach eintretende Herabdrückung ihrer Lebenshaltung zu wehren, und erklärt es außerdem für ihre Pflicht, die Ein- und Ausfuhr von Streikbrechern zu verhindern.

Der Kongress erkennt die Schwierigkeiten, welche in vielen Fällen dem Proletariat eines aus hoher Entwicklungsstufe des Kapitalismus stehenden Landes aus der massenhaften Einwanderung unorganisierter und niederer Lebenshaltung gewöhnter Arbeiter aus Ländern mit vorwiegend agrarischer und landwirtschaftlicher Kultur erwachsen, sowie die Gefahren, welche ihm aus einer bestimmten Form der Einwanderung entstehen. Er sieht jedoch in der übrigens auch vom Standpunkt der proletarischen Solidarität verwerflichen Ausschließung bestimmter Nationen oder Rassen von der Einwanderung kein geeignetes Mittel, sie zu bekämpfen."

Den Kapitalismus ein bisschen reformieren 

Im Interview mit den NachDenkSeiten meinte Wagenknecht, man müsse den Mut aufbringen, den "neoliberalen Mainstream" zu überwinden und sich für "eine sozialere Politik im Interesse der Mehrheit" einsetzen. Rechte Parteien profitierten, weil zu viele sich von der Demokratie abwendeten. Dann wetterte sie gegen "Kriegspolitik" und "konzerngesteuerte Globalisierung". Dies sei "alles keine Naturgewalt", sondern Sache der Politik. "Wir wollen den Menschen die Hoffnung zurückgeben, dass sich Politik verändern lässt", frohlockte sie. Ihr Aufruf gelte jenen, "die sich eine Erneuerung des Sozialstaat, ein Zurück zur Entspannungspolitik Willy Brandts und ein verantwortungsvolles, naturverträgliches Wirtschaften wünschen".

In einem Gastartikel klagt sie zudem über fehlende Mehrheiten für "Rot-Rot-Grün". Indirekt wirbt sie so für eine Koalition der Linkspartei mit SPD und Grünen – also mit jenen beiden Parteien, die in den letzten 20 Jahren als Erfüllungsgehilfen von Union und FDP den Sozialabbau mit der Agenda 2010 massiv vorangetrieben haben, von Kriegspolitik ganz zu schweigen. 

Mit anderen Worten: Niemand hat die Absicht, die kapitalistische Produktionsweise als Ursache der Vermögensverschiebung nach oben, der sich zuspitzenden ökonomischen und ökologischen Krise, der Kriegsgefahr und Fluchtgründe abzuschaffen. Es wird suggeriert, der "neoliberale Mainstream", die "Kriegspolitik" und "konzerngesteuerte Globalisierung" basierten lediglich auf Fehlern der Politik. Um diese rückgängig zu machen, genüge es, wenn mehr Menschen der Politik auf die Finger klopften, damit diese sich wieder mehr um "das Volk" kümmere. Kurz gesagt: Wählt uns, und wir machen das für euch.

Das ist nicht nur zutiefst autoritär, sondern entspricht nicht der Wahrheit. Wagenknecht verschweigt damit Tatsachen, die sie laut ihrer Biografie und früheren Aussagen zufolge wissen müsste: Dass nämlich die zunehmende Akkumulation des Reichtums bei den riesigen Finanzkonzernen nicht eine Folge von falscher Politik, sondern eine Folge der kapitalistischen Produktionsweise ist. Dass zweitens die imperialistische Kriegspolitik inklusive der Monopolbildung das höchste Stadium der kapitalistischen Entwicklung darstellt. Und dass drittens ein kapitalistischer Staat die Aufgabe hat, genau dieses System im Sinne der Profiteure zu managen.

Nicht zuletzt lassen die Protagonisten im Dunkeln, dass die kurze Periode der sogenannten "sozialen Marktwirtschaft" in der BRD gewissen ökonomischen Bedingungen unterlag. So benötigte die Wirtschaft dringend Arbeitskräfte für den Wiederaufbau und die sich daran anschließende Konjunkturperiode, die maßgeblich auf der Ausbeutung der Peripherie beruhte. Die Politik "beschaffte" nicht nur "Gastarbeiter", sondern war geradezu gezwungen, der erstarkten Arbeiterschaft mehr Rechte einzuräumen. 

Andererseits hatte das kapitalistische System im Ostblock durchaus einen ernstzunehmenden Konkurrenten. Trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten und massiver politischer Unzulänglichkeiten schafften es die Staaten, die sich auf dem sozialistischen Weg sahen, umfangreiche Sozialsysteme zu installieren. Einer der Gründe: Dort verschwand der Profit eben nicht in den Taschen privater Konzerneigner. 

Letztlich bleibt zu konstatieren: Hier wird von oben eine reaktionäre "Bewegung" installiert, von Unbekannten finanziert, die an schlichte Ressentiments anknüpft, unterdrückte Schichten gegeneinander ausspielt und dem kollabierenden Kapitalismus noch einmal eine Spritze am Krankenbett verpassen will. Was wird passieren, wenn die so geschürten Illusionen der Anhängerscharen zu platzen beginnen?

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