Meinung

Das Sondierungspapier - Realitätsverweigerung bei den Volksparteien

Es war eine harte und zähe Lektüre. Es waren 28 Seiten geballte Fantasielosigkeit, Uneinsichtigkeit in das eigene Versagen und nahezu vollständiger Realitätsverweigerung, um das Ergebnis vorwegzunehmen. Ein Kommentar von Gert-Ewen Ungar.
Das Sondierungspapier - Realitätsverweigerung bei den Volksparteien Quelle: Reuters © Fabrizio Bensch

von Gert-Ewen Ungar

Es sind 28 Seiten, auf denen die künftigen Koalitionäre zeigen, dass sie trotz ihrer historisch schlechten Wahlergebnisse nicht Willens sind, den eingeschlagenen Kurs auch nur zu reflektieren. Nein, das wird keine gute Legislaturperiode. Drei Bereiche sind besonders hervorzuheben: Da sind die Europapolitik und die Arbeitsmarkt- sowie Wirtschaftspolitik. Und schließlich wird der Blick auf die Migrationspolitik und Zuwanderungspolitik zu richten sein. In allen drei Bereichen verweigern die angehenden Koalitionäre einen Blick auf die Zusammenhänge.

Europapolitik und Außenpolitik

Das Sondierungspapier stellt das Kapitel Europa an die erste Stelle. Unter dem Titel “Ein neuer Aufbruch für Europa” stellen die Sondierer fest: “Die Europäische Union ist ein historisch einzigartiges Friedens- und Erfolgsprojekt und muss es auch künftig bleiben. Sie verbindet wirtschaftliche Integration mit Wohlstand und Freiheit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit.”
An diesen beiden Sätzen ist so ziemlich alles falsch. Die Europäische Union ist mit Sicherheit kein Erfolgsprojekt. Kein Staatenbund ist aktuell in seiner Existenz derart gefährdet wie die Europäische Union. Sie entfernt sich auch immer weiter davon, ein Friedensprojekt zu sein. Demokratie findet in der Europäischen Union an den zentralen Stellen nicht statt. Im Gegenteil greift die EU immer häufiger zu gänzlich undemokratischen Maßnahmen, wenn es beispielsweise um die Bekämpfung von Krisen geht.

An diesen beiden Sätzen lässt sich daher auch ablesen, in welch eigener Welt die Sondierer leben. Offensichtlich hat die deutsche Politik den Bezug zur Realität völlig verloren.

Deutschland ist die treibende und bestimmende Macht in der Europäischen Union. Es gelang der Bundesrepublik in weiten Teilen, deutsche Interessen in Europa um- und durchzusetzen und insbesondere die Währungsunion nach deutschen Vorstellungen zu gestalten. Entsprechend tragen die deutschen Regierungen der letzten Dekaden eine großes Maß an Verantwortung an der aktuellen krisenhaften Situation in der EU. Doch die Einsicht in die Fehler des eigenen Handelns sucht man im aktuellen Papier der Sondierer vergebens.

Entsprechend schlicht und am Ziel vorbei sind daher auch die Vorschläge für den anvisierten Aufbruch. Da wird ein bisschen was von Bekämpfung des Steuerdumpings geschrieben. Dies ist jedoch lediglich ein Symptom. Von den tatsächlichen Fehlentwicklungen der EU kein Wort. Kein Wort davon, dass die krisenproduzierende Konstruktion des Euro durch gemeinsame Anleihen zu einem einheitlichen Zinssatz überwunden werden muss. Kein Wort davon, dass die unterschiedlichen Leistungsbilanzen ein Kernproblem der EU sind. Insbesondere die deutschen Überschüsse setzen die Länder der Euro-Zone unter Druck. Deutschland exportiert seine Arbeitslosigkeit. Die Phrase von der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in den EU bedeutet in diesem Zusammenhang nichts anderes, als dass in den anderen Ländern ebenfalls die Löhne nicht mehr mit der Produktivität wachsen sollen, wie das in Deutschland in den letzten Dekaden geschehen ist.

In einer Währungsunion lässt sich die Wettbewerbsfähigkeit untereinander nur über ein beständiges Absenken der Löhne für einen kurzen Moment erhöhen. So lange, bis die anderen ihre Löhne ebenfalls wieder absenken. Ein wirklich herausragender Aufbruch, den die Sondierer hier für die Bürger der EU vorgesehen haben. Die Binnenmärkte sollen zugunsten einer Erhöhung der externen Wettbewerbsfähigkeit zerstört werden. Dümmer geht es eigentlich nicht mehr. Viel treffsicherer könnte man die EU als Projekt nicht abschießen.   

Arbeitsmarkt- und Wirtschaftpolitik

Im Bereich des Arbeitsmarktes sprechen die Sondierer viel von Bildung in jedweder Zusammenfügung: Bildung, Ausbildung, Weiterbildung. Erklärtes Ziel ist die Vollbeschäftigung. Die ist in der Logik der beteiligten Parteien nur zu erreichen, wenn sich Arbeitnehmer beständig bilden. Auf diese absurde Formel lässt sich die Position zusammendampfen. Die Absurdität gipfelt darin, dass künftig alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Recht auf eine Weiterbildungsberatung haben sollen. Na dann wird ja alles gut.

Wenn alle Abi sowie einen Bachelor haben und sich beständig fortbilden, dann ist das Erreichen von Vollbeschäftigung nur noch eine Frage der Zeit. Die völlige Disonanz dieser vermeintlichen Logik entgeht den Sondierern. Im Gegenteil setzen sie noch eins drauf.

Denn was machen wir dann, wenn es nach den Sondierern geht? Wir machen Innovationen. Einfach so, weil wir alle dann so gebildet sind und tolle Ideen haben. Das wird dann auch mit Steuermitteln gefördert, denn die Innovationen lassen sich gut exportieren und in anderen Ländern verkaufen.

Offensichtlich verfügen weder die Union noch die SPD über Personal mit wirtschaftspolitischer Kompetenz. Von der CDU weiß man das. Da war in dieser Hinsicht immer Brachland. Bei der SPD war es immerhin mal anders. Allerdings scheint ihr dieses Wissen inzwischen vollständig abhanden gekommen zu sein.

Wie funktioniert das mit den Innovationen in einer realen Gesellschaft? Wann ist eine moderne Gesellschaft innovationsfreudig? Wenn Firmen und Konzerne sicher sein können, dass sie ihre neuen Produkte auch absetzen können. Sie können sie dann absetzen, wenn der Markt dafür vorhanden ist. Der Markt ist dann vorhanden, wenn die Arbeitnehmer, die all' die Innovationen sich ausdenken und produzieren, das Geld haben, sie auch zu kaufen. Ob die dann alle Abi haben, ist dabei völlig egal. Welcher Art die Innovationen sind, dies liegt in der Hand der Gesetzgeber, denn er setzt den Rahmen und die Anreize.

Das Sondierungspapier macht jedoch in aller Entsetzlichkeit deutlich, dass weder SPD noch CDU/CSU in der Lage sind, einfache ökonomische Zusammenhänge zu verstehen.

Zuwanderung und Asyl

Wegen des demographischen Wandels und dem Fachkräftemangel braucht Deutschland Zuwanderung, vor allem von qualifizierten Fachkräften. Mit diesem Satz werden die Deutschen seit Jahren dauerbeschallt. Im Sondierungspapier darf er daher nicht fehlen. Allerdings macht ihn die Wiederholung auch nicht wahrer. Der Fachkräftemangel ist kein Problem, das sich nicht über eine Erhöhung der Vergütung lösen ließe. Er ist in weiten Teilen eine in den Mainstream-Medien herbeigeschriebenes Bedrohungsszenario, das gar nicht existiert.

Der demographische Wandel existiert zwar, ist aber in weiten Teilen einer Politik geschuldet, die planbare Lebensentwürfe verhindert. Eine hochflexible, sich beständigen Unsicherheiten ausgesetzt sehende Gesellschaft, produziert keine Kinder. Zumal dann nicht, wenn Elternschaft im Gegensatz zum eigenen Berufsleben vollständig planbar ist. Diesen einfachen Zusammenhang zwischen marktradikaler Gesellschaftsideologie und Bevölkerungswachstum sehen die Parteien nicht. Russland liefert hier den eindeutigen Beweis für diesen Zusammenhang. In der Zeit der marktradikalen “Reformen” unter Jelzin sank die Geburtenrate in Russland schlagartig ab. Mit der Umkehr dieser Politik nahm sie wieder zu.

Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland bedeutet zudem, die jeweiligen Investitionen anderer Länder in ihre Bevölkerung abzugraben. Genau so wie man auf Dauer nicht beständig mehr Güter exportieren als importieren kann, kann man nicht auf Dauer mehr Fachkräfte importieren als exportieren. Man lebt dann auf Kosten seiner Nachbarn. Da wird Ärger nicht ausbleiben. Die Entsolidarisierung der EU-Länder untereinander ist dafür ein deutliches Zeichen. Die angehenden Koalitionäre haben diesen einfachen Zusammenhang offensichtlich nicht verstanden.

Und zum Thema Asyl: ganz unabhängig von der Diskussion um Obergrenzen. Was mit dem Recht auf Asyl getan wird, ist, es zunehmend zu missbrauchen, um geopolitische Interessen durchzusetzen. Während Menschen in zahlreichen Krisenregionen keine Aussicht auf Schutz in Deutschland haben, weil ihr Land als vermeintlich sicher eingestuft wird, wird der Aufenthalt in Deutschland anderen wiederum aufgedrängt.

Der Krieg in Syrien ist vorbei, der Westen hat ihn verloren. Der Aufbau hat begonnen, das Land braucht junge Menschen. Über eine Rückkehr syrischer Flüchtlinge wird in Deutschland jedoch nicht einmal nachgedacht. Sie wird sogar systematisch verhindert. Auch im Sondierungspapier findet sich darüber kein Wort.
Menschen, die Schutz brauchen, müssen Schutz bekommen. Doch wie sich aus dem Sondierungspapier ablesen lässt, ist die weitere Umgestaltung des Asylrechts weg von primärem Schutz für Flüchtende, hin zu einem Instrument geopolitischer Einflussnahme geplant. Das ist absolut skandalös.

Gleichzeitig schafft Deutschland immer weiter Fluchtursachen, auch wenn es sich dazu bekennt, diese bekämpfen zu wollen. Wenn deutsche Politiker wie Sigmar Gabriel Schleuserbanden medienwirksam als Verbrecher betiteln, denen das Handwerk gelegt werden muss, dann versäumen sie zu erwähnen, dass es diese Berufssparte ohne die westliche Regime-Change-Politik, ohne die permanenten Verstöße gegen das Völkerrecht, an denen auch Deutschland immer häufiger und immer stärker beteiligt ist, und ohne die knebelnden Freihandelsverträge, die Deutschland beispielsweise Ländern in Afrika aufzwingt, gar nicht geben würde.

Es lässt sich abschließend festhalten. Das Sondierungspapier lässt für die nächste Legislaturperiode nichts Gutes erhoffen. Es ist ein "Weiter so" auf einem marktradikalen, aggressiven Weg, der die Gesellschaft weiter unter Druck bringen wird. Die drei beteiligten Parteien haben offenbar ihre eigenen Wahlergebnisse nicht verstanden. Insbesondere die SPD ist von einer Einsicht in das absolute Scheitern ihrer Politik seit der Einführung der Agenda 2010 himmelweit entfernt. Dabei bräuchten Deutschland, Europa und die Welt tatsächlich nicht einfach nur eine andere, sondern vor allem eine kompetente Politik, die mit den heillosen Fantastereien des Marktradikalismus bricht. Von dieser Einsicht ist im Sondierungspapier nichts zu lesen.

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