Meinung

Sechs Gründe, warum die USA kurz vor dem politischen und sozialen Zusammenbruch stehen

Die vergiftete politische Kultur in den USA wird in der TV-Debatte zwischen Donald Trump und Joe Biden deutlich zutage treten. Ganz gleich, wer von beiden die Wahl gewinnt – es wird vermutlich weitere Gewalt geben, besonders wenn das Ergebnis knapp ausfallen sollte.
Sechs Gründe, warum die USA kurz vor dem politischen und sozialen Zusammenbruch stehenQuelle: Reuters © Brendan McDermid

von Graham Hryce

Die USA stehen vor einer beispiellosen politischen und sozialen Krise – ganz gleich, wer die Präsidentschaftswahlen im November gewinnt. Die Grundzüge dieser sich abzeichnenden Probleme sind bereits erkennbar, und sie haben ihre Wurzeln in der vergifteten politischen Kultur, die sich in den letzten 30 Jahren im Land entwickelt hat.

Die sechs wichtigsten Anzeichen für die bevorstehenden Krisen sind folgende:

1. Das Versagen Donald Trumps bei der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie.

2. Die jüngste Verschärfung der Rassenunruhen, die die amerikanische Politik seit dem 18. Jahrhundert belastet haben.

3. Die Unruhen und der soziale Zusammenbruch, die kürzlich durch die Black-Lives-Matter-Bewegung und andere Gruppen ausgelöst wurden.

4. Die jüngste Verschärfung des Kulturkampfes, der die US-Gesellschaft seit den 1960er-Jahren heimgesucht hat.

5. Das Entstehen einer sogenannten "radikalen linken" Gruppe innerhalb der Demokratischen Partei, die von Alexandria Ocasio-Cortez angeführt und von Joe Biden toleriert wird.

6. Trumps jüngste Politisierung des Obersten Gerichtshofs und der Abtreibungsfrage durch die Nominierung der Abtreibungsgegnerin Amy Coney Barrett, als Nachfolgerin von Richterin Ginsburg.

Diese jüngsten Entwicklungen haben zu einer dramatischen Vertiefung der Spaltungen innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft geführt, die sich unabhängig vom Ausgang der Wahlen im November noch verstärken wird.

Was könnte passieren, wenn Biden klar gewinnt?

Erstens werden sich die Anti-Trump-Kräfte innerhalb der Republikanischen Partei gegen Trump und seine Anhänger wenden, und die Partei wird eine Phase des Aderlasses und politischer Machtkämpfe durchlaufen.

Trump gewann die Nominierung der Republikanischen Partei 2016, weil er der einzige Kandidat war, der eine Chance hatte, Hillary Clinton zu schlagen. Viele Republikaner verachten Trump und unterstützen ihn nur, weil er 2016 gewonnen hat und erneut gewinnen kann. Mitt Romney ist typisch für diese Gruppe. Er hasst Trump (er hat dafür gestimmt, ihn anzuklagen), hat ihm aber kürzlich in der Frage der Nominierung für den Obersten Gerichtshof entscheidende Unterstützung gegeben, um einen republikanischen Sieg im November sicherzustellen.

Die jüngste Kritik an Trump von George W. Bush und anderen ehemaligen republikanischen Persönlichkeiten bestätigt die Tiefe der Anti-Trump-Gefühle innerhalb der Partei. Dies gilt auch für die jüngste Unterstützung von Biden durch die Witwe des ehemaligen republikanischen Senators John McCain. Sie kandidieren für kein Amt, also können sie ihren Gedanken freien Lauf lassen.

Hardcore-Trump-Anhänger werden selbstverständlich unter keinen Umständen einen Biden-Sieg akzeptieren, und sie werden auf die Straße gehen, um zu protestieren.

Und glaubt irgendjemand ernsthaft, dass Biden (oder Kamala Harris) in der Lage ist, etwas zu tun, um die tief verwurzelten Spaltungen zu heilen, die die US-amerikanische Gesellschaft zerstören?

Ein Biden-Sieg wird dazu führen, dass die Ocasio-Cortez-Fraktion innerhalb der Demokratischen Partei noch mächtiger wird, was diese Probleme nur noch hartnäckiger machen kann.

Was könnte geschehen, wenn Trump klar gewinnt?

Die Demokratische Partei wird wahrscheinlich vollends zerbrechen. Die Ocasio-Cortez-Fraktion wird entweder versuchen, die Partei zu übernehmen oder sich von ihr abzuspalten. In beiden Fällen wird dies eine Katastrophe für die Demokraten sein, denn sie brauchen die Unterstützung sowohl der Ocasio-Cortez- als auch der Biden-Wählerbasis, um die Wahlen zu gewinnen. Inmitten des Chaos werden die konservativen Demokraten wahrscheinlich zur Republikanischen Partei zurückdriften (wie sie es 1968 und während der Reagan-Jahre getan haben).

Was die Republikaner anbelangt, so werden es vier weitere Jahre der Herrschaft durch einen nun gestärkten und mächtigeren Trump sein.

Das ist wohl kaum ein Rezept für soziale Stabilität. Trump hat in den letzten vier Jahren nichts getan, um die Wunden der USA zu heilen, und daran wird sich auch in seiner zweiten Amtszeit nichts ändern. Es ist sogar wahrscheinlich, dass er mit seinen Gegnern energischer als bisher umgehen wird.

Ocasio-Cortez und ihre Anhänger werden natürlich niemals einen Trump-Sieg akzeptieren und ihre Kampagne der Destabilisierung intensivieren, indem sie Bewegungen wie Black Lives Matter (BLM) und Antifa nutzen und ermutigen.

Und wenn der Oberste Gerichtshof (mit Richterin Barrett neu auf der Richterbank) entscheidet, dass Abtreibung illegal ist (und damit seine Entscheidung von 1973 in der Rechtssache Roe gegen Wade aufhebt), wird dies allein schon weit verbreitete Proteste und Ausschreitungen provozieren, die den Protesten von BLM in ihrer Intensität ebenbürtig sein werden.

Was passiert nach einem unklaren Wahlausgang?

Es gibt jedoch ein drittes (und wahrscheinlicheres) Szenario, das auf eine noch schwerwiegendere Krise hindeutet.

Gehen Sie davon aus, dass das Ergebnis der Wahl im November nicht klar sein wird, dass Trump die Legitimität der Wahl infrage stellt und versucht, an der Macht zu bleiben, und dass Richterin Barrett in den Obersten Gerichtshof berufen wurde. Dies sind alles völlig vernünftige Annahmen.

Wir wissen, dass die Wahl wahrscheinlich kurz bevorsteht und dass die Briefwahlstimmen erst in einiger Zeit ausgezählt werden. Trump hat immer wieder gesagt, dass eine Wahl, die eine weit verbreitete Briefwahl erlaubt, nicht legitim sei, und sich wiederholt geweigert, sich auf einen friedlichen Machtwechsel festzulegen. Und seine Kandidatin für das Gericht wird wahrscheinlich vor der Wahl bestätigt werden.

Sollte dieses Szenario eintreten, würde Amerika in eine langwierige politische Krise gestürzt, die sich über Monate hinziehen könnte – ähnlich wie die Nixon-Watergate-Krise von 1974, aber mit wichtigen Unterschieden.

Im Gegensatz zu Nixon hat Trump keine offensichtliche Korruption betrieben, sodass seine Position viel sicherer wäre. Nixon war eindeutig korrupt, und seine Weigerung, die Watergate-Bänder auszuhändigen, sowie die Entlassung von Sonderstaatsanwalt Archibald Cox und der Rücktritt von Generalstaatsanwalt Elliot Richardson besiegelten sein Schicksal.

Der Oberste Gerichtshof wies Nixon einstimmig an, die Bänder auszuhändigen, und eine beträchtliche Anzahl prinzipientreuer republikanischer Politiker machte ihm klar, dass diese für dessen Amtsenthebung stimmen würden. Nixon hatte schließlich keine andere Wahl als zurückzutreten.

Würde eine bedeutende Anzahl republikanischer Politiker unter den oben beschriebenen Umständen sich von Trump abwenden?

Wahrscheinlich nicht. Immerhin haben sie ihn in den letzten vier Jahren unterstützt. Interessant ist jedoch, dass in der vergangenen Woche der republikanische Senatsführer Mitch McConnell die Republikanische Partei zu einer geordneten Machtübergabe verpflichtete – während Trump sich erneut weigerte, dies zu tun. Eines ist sicher – Trump wird niemals zurücktreten.

Der Oberste Gerichtshof würde unweigerlich in eine solche Krise geraten – just der Oberste Gerichtshof, der von den Demokraten beschuldigt wird, sich unsachgemäß mit konservativen Ernannten, darunter der neu ernannten Richterin Barrett, zusammenzutun.

Würde der Oberste Gerichtshof Trump unterstützen?

Jüngste Anti-Trump-Entscheidungen des Gerichts (die Trump törichterweise verurteilt hat), die emotionale Lobrede des Obersten Richters Roberts auf Richterin Ginsburg vergangene Woche und das grundlegende Bedürfnis des Gerichts (in einer solchen Krise), seine eigene Unabhängigkeit und Integrität wieder zu bekräftigen, legen nahe, dass es dies wahrscheinlich nicht tun würde.

Trump, so wie er nun einmal ist, denkt zweifellos, dass jeder von ihm ernannte Richter ihn automatisch unterstützen würde – aber das ist ein völliges Missverstehen der Arbeitsweise des Obersten Gerichtshofs. Die Geschichte des Gerichts ist voll von konservativen Ernannten, die später ihre richterliche Unabhängigkeit geltend machten.

Aber wie auch immer der Oberste Gerichtshof entscheiden würde, es gäbe einen sehr beträchtlichen Teil der amerikanischen Bevölkerung, der sich im Gegensatz zu 1974 einfach weigern würde, dessen Entscheidung zu akzeptieren.

Eine politische Krise der oben skizzierten Art würde unweigerlich zu einem weiteren sozialen Zerfall und zu mehr Massengewalt und Gesetzlosigkeit auf den Straßen Amerikas führen – angeheizt durch die andauernde COVID-19-Pandemie.

Die Unruhen und Morde, die sich in den letzten Monaten in Portland, Louisville und anderen Städten in den ganzen USA ereignet haben, machen dies deutlich. Wenn dies schon vor den Wahlen passiert, ist es erschreckend sich vorzustellen, was in einer langwierigen politischen Krise nach den Wahlen geschehen wird. Was auch immer im November geschieht – die Zukunft Amerikas ist düster.

Da beide in die giftige politische Kultur der USA eingebettet sind, haben weder Trump noch Biden (oder Harris) die Fähigkeit, mit den sich abzeichnenden politischen und sozialen Krisen fertig zu werden.

Und selbst wenn der Oberste Gerichtshof und der konservative Flügel der Republikanischen Partei eingreifen würden, um eine unmittelbare politische Krise zu lösen, wären sie machtlos, die breitere soziale Krise einzudämmen, die sich daraus ergeben wird. Wir könnten durchaus Zeugen der Anfangsphase der vollständigen Auflösung der USA werden.

Graham Hryce ist ein australischer Journalist und ehemaliger Medienanwalt, dessen Beiträge in "The Australian", "Sydney Morning Herald", "The Age", "Sunday Mail", "Spectator" und "Quadrant" erschienen sind.

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