Bundesregierung schickt die Europäische Union auf die Palliativstation

Das während der Eurokrise den südeuropäischen Ländern maßgeblich von Berlin verordnete Spardiktat zeigt nun während der Corona-Pandemie seine tödlichen Konsequenzen. Die Bundesregierung hält an ihrer Haltung fest, die offenbar dem Motto folgt: Nach uns die Sintflut.
Bundesregierung schickt die Europäische Union auf die PalliativstationQuelle: www.globallookpress.com © imago stock&people

von Dagmar Henn 

Im Grunde war es schon bei der Griechenland-Krise klar, dass es die deutsche Gier sein wird, die die Axt an die EU legt. Die Brutalität, mit der bereits im ersten Troika-Vertrag Lohn- und Rentenkürzungen und eine radikale Zerstörung des Gesundheitssystems gefordert wurden, zeigte Berlin als eine rücksichtslose Macht, die nur Unterwerfung kennt; die Geschichte hat gelehrt, dass solche Mächte zwar eine Zeit lang stark scheinen, aber letztlich untergehen müssen.

Natürlich hält Berlin an seiner bisherigen Linie weiter fest und verweigerte auch diesmal anderen europäischen Ländern die gemeinsame Schuldenaufnahme zur Bekämpfung der Epidemie, während es selbst Industrie und Finanzwirtschaft großzügig bedient. Nachdem die Folgen des deutschen Würgegriffs andernorts die Gesundheitssysteme ruiniert haben, wird diese Haltung sicher viel Zuneigung hervorrufen.

Aber das ist noch lange nicht alles. Es ist mehr als auffällig, wie zögerlich die Bundesregierung mit dem industriellen Potenzial des Landes umgeht. Das fängt damit an, dass ausgerechnet das Beschaffungsamt der Bundeswehr damit beauftragt wurde, Nachschub an Schutzmasken, Desinfektionsmitteln und anderem dringenden Bedarf zu organisieren. Jene Behörde, die selbst in unschuldigen Büchern zum Revisionsmanagement als "Bundesbestechungsamt" firmiert und mit diversen Skandalen von Beraterverträgen bis Gorch Fock traurige Berühmtheit erlangt hat.

Besonders schaurig ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass gerade diese Behörde jetzt das Recht erhält, Verträge ohne Preisverhandlungen abzuschließen. Man braucht nicht viel Fantasie, sich das Ergebnis vorzustellen: weit überhöhte Preise, an denen wenige befreundete Geschäftemacher bestens verdienen werden.

Ansonsten verbreitet sich jetzt langsam, mit Ausnahme von Bayern, sehr langsam die Erkenntnis, dass man nicht nur kaufen, sondern auch produzieren kann. Dass also der Weltmeister im Maschinenbau im Stande sein müsste, sowohl einem Mangel an Beatmungsgeräten als auch einem an Schutzmasken abzuhelfen, wenn es im Lande nur Pläne für Beatmungsgeräte oder die zur Produktion von Schutzmasken erforderlichen Maschinen gibt. Bayern zumindest bezieht die Schnapsbrennereien ebenso in die Produktion von Desinfektionsmitteln ein wie die chemische Industrie. Und dennoch – es war schon vor zwei Monaten erkennbar, dass es solche Probleme geben dürfte, und zwei Monate lang geschah nichts, nur die Zusicherungen, das wäre für uns kein Problem, wurden immer wieder erneuert.

Kann das wirklich sein? Es ist ja nachvollziehbar, dass diese Bundesregierung die Sozialdaten der Landes nicht im Blick hat, schließlich interessiert sie sich nur begrenzt für das Wohl der einfachen Bürger, aber die Daten des deutschen Maschinenbaus? Der zweiten Kernbranche der deutschen Exportwirtschaft neben der Automobilindustrie? Jener Branche, von der Merkel vermutlich nachts träumt, weil ihr Wohl ihr so sehr am Herzen liegt?

Das kann man sich eigentlich kaum vorstellen. Genauso wenig, wie es erklärbar ist, dass die deutsche Reaktion auf die Pandemie insgesamt äußerst zögerlich erfolgte; und nur die Vermutung, man habe die Grenzen nicht frühzeitig schließen wollen, um Merkel zu schützen, reicht als Begründung nicht aus. Der Pandemieplan aus dem Jahr 2013 rechnete die mögliche Entwicklung gründlich genug durch, und auch wenn Spahn höchst überzeugend den Trottel gibt. Im zuständigen Referat in seinem Ministerium waren diese Ausarbeitungen mit Sicherheit bekannt und wurden spätestens mit den ersten Fällen im Januar auch zurate gezogen.

Das ganze Verhalten passt allerdings zur Ablehnung der Corona-Bonds. Wenn man daran denkt, dass ganze Länder in der EU durch die deutsche Politik des letzten Jahrzehnts deindustrialisiert wurden, es also jedem anderen Land in der EU weit schwerer fällt, dem Mangel an notwendigem medizinischem Material durch eigene Produktion abzuhelfen, wird auf eine sehr unappetitliche Weise plötzlich ein Schuh draus, und man hätte sogar einen weiteren Baustein gefunden, warum die Zahl der Verstorbenen in Deutschland so eigenartig niedrig ist (selbst wenn man zum Vergleich die Schweiz heranzieht, als das Land, in dem der Sozialstaat noch am besten erhalten ist, müssten die deutschen Zahlen viermal so hoch sein).

Das Robert-Koch-Institut gibt in seiner Falldefinition selbst einen Hinweis, wie diese Zahlen so wurden, wie sie sind. Es gibt darin eine Kategorie B, die wird wie folgt beschrieben:

Spezifisches klinisches Bild von COVID-19, ohne labordiagnostischen Nachweis, aber mit epidemiologischer Bestätigung (Auftreten von zwei oder mehr Lungenentzündungen (...) in einer medizinischen Einrichtung, einem Pflege- oder Altenheim). Spezifisches oder unspezifisches klinisches Bild von COVID-19, ohne labordiagnostischen Nachweis, aber mit epidemiologischer Bestätigung (Kontakt zu einem bestätigten Fall). 

Die Fälle dieser Kategorie fließen nicht in die vom RKI veröffentlichten Zahlen der Verstorbenen ein. Um das mal zu übersetzen: Wenn in einem Alten- oder Pflegeheim vor drei Wochen ein erster Fall aufgetreten ist, dürfte das noch keine große Aufregung ausgelöst haben – war ja Grippesaison. Zwei Fälle später hätten dann die Alarmglocken geklingelt. Aber wen hätte man in diesem Moment getestet? Die bereits Verstorbenen oder Kranken oder die übrigen Einwohner und das Personal?

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Hinzu kommt noch, dass gerade für private Heime der Anreiz, ein, zwei Fälle erst mal nicht an die große Glocke zu hängen und damit eine Quarantäne auszulösen, ziemlich hoch ist. Die vom RKI gesetzte Definition dürfte also vor allem in der Vergangenheit, vor den Schulschließungen und Ausgangsbeschränkungen, eine ganze Menge Fälle zum Verschwinden gebracht haben. Insbesondere, da in Deutschland Leichenschauen sehr sparsam gehandhabt werden und Obduktionen nur stattfinden, wenn das Gesundheitsamt sie anordnet oder die Angehörigen sie selbst bezahlen...

Aber zurück zur Frage der Industrie. Dass in Deutschland die Zahlen der Verstorbenen so niedrig sind, dürfte entscheidend dazu beigetragen haben, dass die Bundesregierung ihre Hände so lange im Schoß liegen lassen konnte. Sie konnte sogar ohne sonderlichen Protest Fantasien in Richtung 'Herdenimmunisierung' frönen. Hauptsache, die durch Distanzierungsmaßnahmen verlorene Zeit ist in Deutschland kürzer als bei der Konkurrenz. Damit unterblieben natürlich auch sämtliche Gedanken, das vorhandene industrielle Potenzial in Richtung Epidemiebekämpfung zu lenken.

Dabei geht es nicht nur um Produktionsanlagen, dabei kann es auch um Laboratorien gehen, deren Personal grundsätzlich im Stande sein sollte, mit verschiedenen Arten von Proben umzugehen; dabei geht es um Logistiker, um Ingenieure... All das wird zu einem so späten Zeitpunkt überhaupt wahrgenommen, dass im günstigsten Fall die Versorgung der eigenen Infrastruktur und später der Bevölkerung funktioniert (ein Aufheben der Ausgangsbeschränkungen ohne ausreichend Testmöglichkeiten und Masken ist zu riskant), aber nicht irgendeine größere Unterstützung für unsere Nachbarländer.

Oder, deutlich ausgedrückt: wenn Deutschland rechtzeitig auf die sich ankündigende Epidemie reagiert und zum Beispiel vor zwei Monaten die Produktion von Schutzmasken in die Wege geleitet hätte, dann müssten Krankenschwestern in Italien heute keine gebrauchten Masken zum Trocknen vors Fenster hängen und deutsche Medien müssten sich nicht die Mäuler zerreißen über die vermeintlich bösen Absichten hinter chinesischen, russischen oder kubanischen Hilfen.

Nachdem über Jahre hinweg viel unternommen wurde, um die europäische Konkurrenz niederzuringen, einschließlich der Verarmung weiter Teile der eigenen Bevölkerung, wäre es eine moralische Pflicht, das eigene industrielle Potenzial auch für die anderen zu nutzen. Klar, in der deutschen Presse wird sich ein solcher Gedanke nicht finden; die ist damit beschäftigt, die schwäbische Hausfrau zu glorifizieren, über den Titel des Exportweltmeisters zu jubeln und Merkel zu huldigen. Und, wie schon erwähnt, hiesige Politiker fangen erst ganz langsam an, von Produktion zu reden.

Aber man muss nicht denken, dass unsere Nachbarn nicht bis drei zählen können. Die sehen nicht nur die würgende deutsche Hand, die sich hinter der Verweigerung der Corona-Bonds verbirgt, sie wissen auch, wozu dieses Land imstande wäre; sie können problemlos erkennen, wie hoch die wirklichen deutschen Zahlen sein müssten, und durchschauen, dass hier wieder einmal ein Schachzug erfolgte, der die Startposition der deutschen Exportindustrie verbessern und ermöglichen soll, als Krisenprofiteur auch noch eine Runde Firmen zu shoppen. Sie sehen, wie skrupellos diesem Ziel die Menschen hier in der Bundesrepublik und auch in ihren Ländern geopfert werden. Dass die Möglichkeit wirklicher europäischer Solidarität in einem Sumpf aus Gier, Machtstreben und Arroganz versinkt. Sie werden die Konsequenzen ziehen. Die Regierung Merkel schaufelt gerade das Grab der EU.

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