Deutschland

Jörg Sartor: Ohne Aufnahmestopp von Migranten hätte die Essener Tafel dichtmachen müssen

Vor 25 Jahren begann die erste Tafel, Bedürftige mit überschüssigen Lebensmitteln zu versorgen. Heute gibt es bundesweit 940 Tafeln, doch noch immer stehen Menschen Schlange. Ein Gespräch mit Jörg Sartor, dem Leiter der Essener Tafel.
Jörg Sartor: Ohne Aufnahmestopp von Migranten hätte die Essener Tafel dichtmachen müssenQuelle: www.globallookpress.com

Zum Anlass des 25-jährigen Bestehens der Tafeln veröffentlichte der Dachverband Zahlen, die Auskunft darüber geben, wer die Dienste der Tafeln in Anspruch nimmt. Demnach sind knapp ein Viertel der 1,5 Millionen regelmäßigen Tafel-Besucher Kinder (23 Prozent), ebenfalls 23 Prozent machen Rentner und Jugendliche aus. Beinahe die Hälfte sind Hartz-IV-Empfänger, Alleinerziehende stellen 19 Prozent. Sind solche Zahlen auch ein Armutszeugnis für die Gesellschaft? Es sei Aufgabe von Gesellschaft und Politik, Lebensmittelverschwendung und Armut abzuschaffen, sagte der Vorsitzende des Dachverbands Tafel Deutschland e.V. Jochen Brühl.

Solange dies nicht geschehen ist, wird es Tafeln weiterhin geben.

Prinzip: Überschüssige Lebensmittel der Wohlstandsgesellschaft an Bedürftige

Der Leiter der Essener Tafel Jörg Sartor stimmt damit jedoch nicht ganz überein. Er orientiere sich eher an dem traditionellen Tafel-Bild, bei dem es darum gehe, übriggebliebene Lebensmittel an Bedürftige zu verteilen.

Das Projekt "Essener Tafel" wurde zu Beginn des Jahres 1995 ins Leben gerufen, in der Projektbeschreibung hieß es damals, die "Lebensmittelumverteilung soll gewährleisten, dass überschüssige Lebensmittel unserer Wohlstandsgesellschaft nicht weggeworfen werden, sondern bedürftigen Menschen zur Verfügung stehen können".

Die Essener Tafel löste im Winter eine Diskussion über Armut in Deutschland aus. Der Vorstand hatte im Dezember beschlossen, die Lebensmittelausgabe an Menschen ohne deutschen Pass zu beschränken.

Insbesondere der Vorstand der Essener Tafel, Jörg Sartor, sah sich heftigsten Rassissmusvorwürfen ausgesetzt. Dabei sieht Sartor ein gutes Stück Verantwortung bei den Medien, jeder habe "noch was obendrauf gepackt".

Die von Beginn als vorübergehend geplante Beschränkung in Essen wurde mittlerweile aufgehoben, auch weil diese Maßnahme den erforderlichen Effekt gehabt und sich der Andrang eingependelt habe. Ohne diese umstrittene Beschränkung auf Bürger mit deutschen Pass hätte man die Aufnahme in Essen komplett einstellen müssen.

"Armut" schwer zu definieren, aber vielen Menschen in Deutschland geht es schlecht

Auch heute noch stehen an jedem Mittwoch, dem wöchentlichen Aufnahmetag in Essen, 50-100 Menschen Schlange. Der Andrang wurde durch die Berichterstattung noch erhöht, viele seien dadurch erst auf die Tafeln aufmerksam geworden. Sartor sieht die Verantwortung für den Anstieg an Bedürftigen nicht direkt bei der Politik. Vor dem Hintergrund des Aufnahmestopps hatte der Vorsitzende des Dachverbands Jochen Brühl erklärt:

Dass die Zustände in Deutschland mittlerweile so dramatisch sind, zeigt die enormen Verfehlungen der Politik in den letzten Jahren. Wir erwarten von der neuen Regierung, dass sie sich endlich mit den drängendsten Themen des Landes befasst und nachhaltige Lösungen für die akuten Probleme der Ärmsten findet. Es kann und darf nicht sein, dass diese Aufgabe vom Staat ausgelagert wird.

Doch Sartor betont pragmatisch, die Essener Tafel habe sich dem wachsenden Zulauf an Bedürftigen angepasst und das Angebot ausgeweitet. Bis zu dem Maß, das ein ehrenamtlicher Dienst bewerkstelligen kann. Jährlich verteilen die Ehrenamtlichen in Essen geschätzte 1.500 Tonnen Lebensmittel.

Sartor meint auch, der Begriff der "Armut" passe für Deutschland nicht. Zwar gehe es vielen Menschen schlecht, zu vielen, doch denke er, man könne sogar von Hartz IV leben, wenn auch nicht gut. Da gehe er ein Stück weit mit Jens Spahn konform, obwohl er SPD-Mann sei, nicht CDU-Wähler. Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Tafeln erhielt auch Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kritische Reaktionen. Spahn vertrat den Standpunkt, auch ohne die Tafeln müsse in Deutschland niemand hungern, und mit Hartz IV habe "jeder das, was er zum Leben braucht".

Auf die Frage, warum so viele Menschen die Unterstützung der Tafeln benötigen, betont Sartor erneut, dass die Essener Tafel nicht mit dem Anspruch betrieben werde, den Sozialstaat zu ersetzen. Wäre die Situation anders, würde das anderswo übrig gebliebene Essen zum Beispiel an Geringverdiener ausgeben.

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Sartor relativierte allerdings seine Aussage, in Deutschland gehe es zwar zu vielen Menschen schlecht, aber von "Armut" könne man nicht sprechen: Diese gebe es sehr wohl. Angesprochen darauf, dass ja auch immer der Kontext zähle, und es umso unverständlicher ist, in einem eigentlich reichen Land arm zu sein, oder dass eine Wirtschaftsmacht wie Deutschland einen der größten Niedriglohnsektoren Westeuropas unterhält, betonte Sartor erneut, dass es schwer zu definieren sei, ab welchem Maß es einem Menschen gut gehe. Er räumte aber ein, es gebe schon noch einige Verbesserungsmöglichkeiten und verschiedene Stellschrauben, womit das soziale Netz dem Bedarf eher gerecht werden könne. Die Debatte dazu werde aber endlich wieder geführt - auch aufgrund des Tafelskandals.

Zwar gehörten Geringverdiener nicht zu den Kunden der Tafeln, aber natürlich führten niedrige Einkommen zu niedrigen Renten und damit wieder zu mehr Tafelkunden, so Sartor.

Neue Aufnahmeregeln berücksichtigen Senioren, Alleinerziehende und Familien

Seit Mai gelten neue Aufnahmeregeln. Auch bei Engpässen soll die Nationalität bei der Tafel keine Rolle mehr spielen. In solchen Fällen sollen alleinstehende Senioren ab 50 Jahren, Behinderte, Alleinerziehende und Familien mit Kindern bevorzugt werden. Der Vorwurf, das habe irgendetwas mit der Herkunft der Bedürftigen zu tun, sei nun erstrecht nicht nicht angebracht, da durch diese Maßnahmen viele Bürger deutscher Herkunft, insbesondere Alleinerziehende und Senioren, unterstützt würden, während bei den Familien der Anteil an nicht-deutschen Bedürftigen höher sei.

Sartor verwies im Gespräch darauf, dass die Kritik anderer Tafeln an der Essener Tafel und die Argumentationen auch deshalb unterschiedlich seien, weil in Essen alle ehrenamtlich tätig seien. An anderen Tafeln, wie in Berlin, seien hauptamtlich Beschäftigte im Einsatz, die ganz andere Kapazitäten hätten und auch anders argumentieren würden - wenn sie das Sozialsystem als ausreichend ansehen würden, sprächen sie sich selbst die Existenzberechtigung ab.

Der Soziologe Stefan Selke hingegen bezeichnete die Existenz der Tafeln als Almosensystem in einem reichen Land als einen politischen Skandal.

Sie sind der Pannendienst einer sozial erschöpften Gesellschaft, die immer mehr ihrer Mitglieder als Überflüssige abspeist", sagte er im Februar.

Der Wuppertaler Wissenschaftler Holger Schoneville hat untersucht, wie sich Tafel-Nutzer fühlen. Das Erleben sei durchaus widersprüchlich. Tafeln stellten für die Betroffenen eine lebensnotwendige Hilfe bereit, analysierte er. Zugleich seien sie aber auch Teil sozialer Ausgrenzungsprozesse, die die Würde der Nutzer berühre. Es gibt aber auch interne Kritik: Die Anzahl der Tafeln sei so gewachsen, dass sich einige beim Einsammeln der Lebensmittelspenden gegenseitig Konkurrenz machten.

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