Meinung

Deutschlandfunk zum Nichtangriffspakt 1939: Beiläufige Fehler oder Geschichtsfälschung?

Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 ist in den Medien wieder ein großes Thema – und leider auch ein Anlass, historische Lügen bzw. Falschbehauptungen zu verbreiten. Oder etwa nicht? Eine Anfrage an den Deutschlandfunk soll das klären.
Deutschlandfunk zum Nichtangriffspakt 1939: Beiläufige Fehler oder Geschichtsfälschung?Quelle: Sputnik

Sehr geehrte DLF-Redaktion,

am 9. August lief die 36-minütige Sendung "Pakt der Diktatoren. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939" auf DLF-Nova. Nun ist sie als Podcast auf diversen Seiten der ARD-Gruppe abrufbar. Der Link zu der Sendung finden Sie hier

Gleich zu Beginn der Sendung sagte die Moderatorin Meike Rosenplänter die folgenden zwei Sätze:

Immer wieder hört man, dass Rechtsradikale Kontakte nach Russland haben. Es ist schon ein bisschen komisch, dass dieses früher kommunistische Land so eng mit Rechtsradikalen verbandelt ist. In den 1920er-Jahren waren die beiden Seiten immerhin spinnefeind. Aber eins hatten sie gemeinsam: den weitverbreiteten Hass auf Juden und Migranten.

In diesem Vorspann, der die darauffolgenden Beiträge der Sendung einleitet, werden mehrere kontroverse Thesen aufgestellt, die bezüglich der Erfüllung der journalistischen Sorgfaltspflicht einer auf Fakten basierenden Erklärung bedürfen.

Wenn Ihre Moderatorin stellvertretend für den Sender behauptet: "immer wieder hört man", dann müssten Belege derartige Behauptungen stützen. Und zwar, wo und was man konkret "hört". Handelt es sich um eine Stammtischplauderei oder ein Gerücht, das irgendjemand in die Welt gesetzt hat? Dies wäre an dieser Stelle äußerst relevant.

Um es gleich vorwegzunehmen: Bezieht sich Frau Rosenplänter nicht etwa auf den Spiegel-Artikel "Putins Puppen", wonach ein junger AfD-Abgeordneter angeblich Kontakte zu russischen Regierungsstellen knüpften sollte? Ansonsten fällt uns nichts ein, worauf sie sich beziehen könnte. Jedoch spricht etwas dagegen, falls sich Ihre Moderatorin tatsächlich auf diesen Artikel stützt – nämlich, dass in diesem Fall eine Bundestagspartei als "rechtsradikal" bezeichnet und als heutiges Pendant zu Hitlers NSDAP der 1920er-Jahre dargestellt wird. Damit würde sie behaupten, im deutschen Parlament sitze eine rechtsradikale Partei, was außerdem auch deren Wählerschaft – 12,6 Prozent bundesweit – zu Rechtsradikalen machen würde.

Falls sie sich doch auf diesen Artikel stützt, dann gibt die Behauptung, Russland sei "mit Rechtsradikalen verbandelt", anhand der Aktenlage keine "enge Verbandelung" her. Diesbezüglich hat das unabhängige Portal NachDenkSeiten treffend geschrieben:

"Wenn für eine Titelgeschichte ganze zehn Spiegel-Redakteure verantwortlich zeichnen und für die 'Recherche' gar ein internationaler Verbund mit dem ZDF, der BBC und der italienischen La Repubblica gebildet wurde, liegt die Messlatte natürlich hoch. Umso erstaunlicher ist, wie wenig inhaltliche Tiefe diese Story hat. Dass der AfD-Abgeordnete Markus Frohnmaier, um den es in der Titelgeschichte einzig und alleine geht, offene Sympathien für Russland hegt, ist nicht neu. Die Kernerkenntnis der Spiegel-Geschichte ist nun, dass Frohnmaier sich mehrfach intensiv bei den Russen ins Gespräch gebracht hat und offenbar – er selbst bestreitet dies – auch Unterstützung erbeten hat. Dies erwähnt der Spiegel gleich mehrfach.

Jedoch schweigen die zehn Spiegel-Autoren an der entscheidenden Stelle – nirgends steht nämlich, dass offizielle oder inoffizielle Stellen diesen Wünschen stattgegeben hätten. Und spätestens hier stellt die große Story sich als großer Flop heraus."

Vielleicht meint Frau Rosenplänter etwas anderes und weiß etwas, das uns nicht bekannt ist? Deshalb unsere erste Frage an Sie:

1. Welche Belege hat die Moderatorin des Deutschlandfunks, Meike Rosenplänter, zu ihrer in der Livesendung getätigten Behauptung, der russische Staat sei mit Rechtsradikalen "eng verbandelt"?

Im zweiten Satz behauptet Frau Rosenplänter, in Russland sei in den 1920er-Jahren "Hass auf Juden und Migranten" weit verbreitet gewesen.

Soweit uns bekannt ist, hat die jüdische Bevölkerung nach vielen Jahrzehnten der Unterdrückung im zaristischen Russland ausgerechnet zu Zeiten der frühen Sowjetunion eine Blütezeit erlebt. Im imperialen Russland lebte sie in sogenannten Siedlungsgebieten und durfte selbige nur in Ausnahmefällen verlassen. Diese Unterdrückung ist eine der Erklärungen dafür, warum ausgerechnet viele junge Juden sich radikalen Bewegungen und Parteien angeschlossen haben. In der frühen Sowjetunion waren Funktionäre jüdischer Abstammung in Verwaltungs- und Sicherheitsorganen im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil von drei Prozent – die Zahl ist in Ihrer Sendung genannt worden – überrepräsentiert. Möglicherweise haben wir auch im oben geschilderten Fall etwas übersehen und kennen beispielsweise Schriften der kommunistischen Führer nicht, die etwa wie die deutschen Nazi-Führer etwas Ähnliches wie Rassentheorien verbreitet haben, wonach Juden einer minderwertigen Ethnie oder Rasse angehören sollten. Deshalb lautet unsere zweite Frage:

2. Welche Belege hat die Moderatorin des Deutschlandfunks, Meike Rosenplänter, zu ihrer in der Livesendung getätigten Behauptung, in der Sowjetunion sei in den 1920er-Jahren genauso wie seinerzeit in Nazi-Deutschland "Hass auf Juden" verbreitet gewesen?

An gleicher Stelle behauptet sie auch, dass sowohl bei den deutschen Nazis – und von denen ist wohl die Rede, denn in der gesamten Sendung geht es ausschließlich um Deutschland (in Form des Deutschen Reiches) und Russland (in Form der UdSSR) – als auch im kommunistischen Russland "Hass auf Migranten" weit verbreitet gewesen sei. Abgesehen davon, dass der Begriff "Migrant" vor hundert Jahren in der heutigen Konnotation gar nicht geläufig war, fehlen uns Belege vor allem aus der Geschichte der Sowjetunion, die diese These stützen würden. Deshalb unsere dritte Frage:

3. Welche Migranten meinte die Moderatorin des Deutschlandfunks, Meike Rosenplänter, als sie in der Livesendung behauptete, dass sowohl in Russland als auch in Deutschland in den 1920ern "Hass auf Migranten" weit verbreitet gewesen sei? Auch um historische Fakten für die Behauptung, Migranten seien "verhasst" gewesen, wird gebeten.

Im Laufe der Sendung sagt der Co-Moderator und als Geschichtsexperte ausgewiesene DLF-Journalist Matthias von Hellfeld schließlich folgenden Satz:

Die Russen sind in Polen nach 1945 geblieben, und das hatte natürlich auch noch eine Katastrophe zur Folge, auch für Polen. Die Russen haben in Form von Stalin gesagt, nein, den Teil, den wir damals besetzt haben 1939, den behalten wir, und damit Polen nicht darunter leidet, verschieben wir das Land um die gleiche Quadratmeterzahl einfach nach Westen. Dann haben sie das Land verschoben und festgestellt, oh, da leben die Deutschen.

Im Laufe der Sendung wird dann nicht mehr von Polen gesprochen, sondern von den deutschen Flüchtlingen. Das heißt, wenn man dem Journalisten genau zuhört, war die als Wiedergutmachung begründete territoriale Vergrößerung Polens um große westliche Gebiete nichts anderes als eine "Katastrophe". Und das mit der Begründung, "damit Polen unter Gebietsverlusten nicht leidet"! Zu diesem Thema wurde am 15. August von der russischen Botschaft in Südafrika ein Zitat eines hohen russischen Offiziellen getweetet, des ehemaligen Duma-Sprechers, Sicherheitspolitikers und Vorsitzenden der russischen historischen Gesellschaft, Sergej Naryschkin. Er schrieb:

"Nach dem Sieg über den Nationalsozialismus wurden auf sowjetische Initiative einige der am stärksten industrialisierten Teile Schlesiens, Ostpreußens und Pommerns an Polen angeschlossen. Dank der Bemühungen der sowjetischen Diplomatie wuchs die Polnische Republik um fast ein Viertel." Daraus folgt unsere nächste Frage:

4. In Bezug auf die vom Geschichtsexperten des Deutschlandfunks, Matthias von Hellfeld, getätigte Behauptung, polnische Gebietszugewinne nach dem Zweiten Weltkrieg seien für Polen "eine Katastrophe" gewesen: Inwiefern können Gebietszugewinne für ein Land generell und speziell für Polen eine Katastrophe sein?

Im weiteren Verlauf der Sendung sagt ebenjener Experte folgenden Satz:

Als Folge dieses Paktes ist die Sowjetunion im Juni 1940 in baltische Staaten einmarschiert, dort hat es Verschleppungen gegeben, dort wurden die Leute zu Arbeitssklaven gemacht, dort gab es große Plünderungs- und Mordaktionen, und die baltischen Staaten heute sehen in dem Hitler-Stalin-Pakt der beiden Diktatoren die Ursachen für diesen Einmarsch, und das ist auch richtig.

Die politische Einordnung für die heutige Geopolitik der deutschen Regierung ist hier glasklar: Die Deutschen müssen an der NATO-Ostgrenze die Balten vor Russland schützen, denn die Russen könnten, wenn sie irgendwo einmarschieren, sofort mit Plünderungen, Tötungen und Versklavungen beginnen, obwohl das Geheimprotokoll des besagten Paktes von der russischen Regierung schon lange verurteilt ist. Wobei die Umstände der Eingliederung der baltischen Staaten in den Völkerbund Sowjetunion, in dem sie eine geradezu privilegierte Stellung einnahmen, vom estnischen Historiker Magnus Ilmjärv folgendermaßen eingeschätzt werden:

"Einerseits war der Verlust der Unabhängigkeit der baltischen Staaten das Ergebnis einer gesamteuropäischen politischen Krise, andererseits das Resultat des Fehlens einer realistischen und unabhängigen Außenpolitik in diesen Ländern in den Jahren 1939-1940 sowie die Folge der von ihnen verfolgten Innenpolitik. Und das zu einer Zeit, als die tiefgreifenden Umwälzungen in Europa den Boden für den Verlust ihrer Souveränität bereiteten" (Magnus Ilmjärv, "Das geheime Zusatzprotokoll und die baltischen Staaten", in: "Die Tragödie Europas: Von der Krise des Jahres 1939 bis zum Angriff auf die UdSSR", München 2013, S. 128).

Es ist auch bekannt, dass die Sowjetregierung in den baltischen Staaten viele Unterstützer hatte und die Eingliederung nach damaligem Recht zumindest nicht völkerrechtwidrig vollzogen wurde (in einer rechtlichen Grauzone). Die Gegner der Sowjetregierung im Baltikum waren sehr oft gleichzeitig Nazi-Sympatisanten und halfen während der späteren Nazi-Besatzung bei der Tötung Hunderttausender baltischer Juden kräftig mit. Das heißt, wenn Nazi-Deutschland und nicht die Sowjetunion die baltischen Staaten eingenommen hätte, dann wären dort sehr wahrscheinlich noch mehr Juden umgebracht worden, denn in Ihrer Sendung wird an anderer Stelle betont, dass im deutschen Teil Polens die schlimmsten Todeslager gebaut worden waren – das Konzentrationslager Auschwitz wurde beispielsweise bereits im Jahr 1940 errichtet. Wenn ein Geschichtsexperte des Deutschlandfunks an einer Stelle behauptet, die Sowjetunion habe die Leute im Baltikum massenweise verschleppt, versklavt und getötet, ohne dies zu relativieren oder Genaueres zu diesen Behauptungen zu sagen, ist dies ein ungeheuerlicher Vorwurf. Daraus resultiert unsere letzte Frage:

5. In welcher Relation zur komplexen historischen Realität stehen die Vorwürfe des Plünderns, des Versklavens, des Verschleppens und des Mordens, die der Geschichtsexperte des Deutschlandfunks, Matthias von Hellfeld, in der Livesendung in Zusammenhang mit dem Einmarsch ins Baltikum gegen die Sowjetunion erhoben hat?

Diese Fragen und die ihnen zugrundeliegenden Erläuterungen und Argumentationen sind keine Satire, sondern ein absolut ernsthafter Versuch, die Redaktion des als seriös geltenden öffentlich-rechtlichen Senders zu einem Gespräch über historische Lügen zu motivieren. Die in diesem Schreiben angesprochenen Geschichtsverdrehungen, die auch ohne Vorkenntnisse umgehend auffallen und die trotzdem in deutschen Medien immer wieder verbreitet werden, sind für russische Medien generell und für unseren Sender im Speziellen ein großes Thema – leider! Deshalb bitten wir Sie darum, unseren Verdacht der Geschichtsfälschung mit einer fundierten Antwort Ihrerseits zu entkräften. Ganz im Sinne der in Ihrer Sendung gelobten kritischen Öffentlichkeit, die in den Medien aufgestellten Behauptungen, sollten diese nicht der Wahrheit entsprechen, nicht hinnehmen kann.

In Erwartung Ihrer baldigen Antwort verbleibe ich mit freundlichen Grüßen,

Wladislaw Sankin

Redakteur Online

RT Deutsch

Die Anfrage wurde am 16. August an die Redaktion des Deutschlandfunks (DLF) verschickt. Sollte RT Deutsch eine Stellungnahme der DLF-Redaktion vorliegen, wird sie ebenso publik gemacht.

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