Meinung

Wenn ein Pflegeheim zum Pflegen die Feuerwehr rufen muss

Große Aufregung in Berlin: Drei Polizeibeamte und mindestens zwei Krankenwagen der Feuerwehr rückten in Berlin-Friedrichsfelde an, um in einem Pflegeheim den regulären Betrieb zu sichern, nachdem für die Nachtschicht keine ausgebildete Pflegekraft gekommen war.
Wenn ein Pflegeheim zum Pflegen die Feuerwehr rufen mussQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Sabine Gudath

Von Dagmar Henn

Auf den ersten Blick handelt es sich um einen örtlichen Skandal. Zu einem Pflegeheim in Berlin-Friedrichsfelde im Bezirk Lichtenberg wurden Feuerwehr und Polizei gerufen, weil die Nachtschicht, die die 142 Bewohner betreuen soll, nicht eingetroffen war. Das heißt, es waren zwar drei Pflegehelfer anwesend, aber keine Fachkraft, also gab es auch niemanden, der Medikamente verabreichen durfte.

In der Berliner Presse wurde über das Thema berichtet. "Für die Betreuung der 142 Senioren seien in der Nachtschicht eigentlich vier Personen eingeplant gewesen: eine Pflegefachkraft und drei Hilfskräfte", berichtet beispielsweise die B.Z. als Boulevardblatt. Aber weil eine E-Mail zwecks Buchung nicht an die betreffende Zeitarbeitsfirma geschickt worden sei, habe in dieser Nacht die nötige Fachkraft gefehlt.

Die Darstellung der Betreiberfirma führt dann einen Schritt weiter. "Normalerweise sind die Dienste laut DOMICIL regulär gut besetzt. Zudem werde die 'erforderliche Fachkraftquote des Stammpersonals nur geringfügig unterschritten'."

Moment mal: Eine Pflegefachkraft und drei Pflegehelfer für die ganze Nachtschicht in einer Einrichtung mit 142 Bewohnern? Das ist schon äußerst knapp bemessen. Und dass der Nachtdienst über eine Zeitarbeitsfirma bestellt wird, deutet an, dass hier mindestens eine Stelle nicht besetzt ist. Das ist derzeit in der Altenpflege nicht wirklich überraschend, vor allem, da der sich anbahnende Mangel bereits seit über zehn Jahren bekannt ist, aber weder die Arbeitsbedingungen noch die Bezahlung verbessert wurden.

Ein Detail, auf das in der Berichterstattung nicht so genau eingegangen wird, ist die Tatsache, dass das Betreiberunternehmen, die DOMICIL Senioren-Residenzen Hamburg SE, in Berlin noch weitere fünfzehn Pflegeheime betreibt, auch in Berlin-Lichtenberg noch ein weiteres. Unter diesen Umständen sollte man eigentlich davon ausgehen, dass es "Springer" gibt, die bei Bedarf in einem der Heime eine Schicht übernehmen können. Die Tatsache, dass überhaupt eine Buchung bei einer Zeitarbeitsfirma scheitern konnte, belegt, dass das Unternehmen DOMICIL so nicht denkt. Dabei wäre das einer der wenigen Vorteile, die die Bewohner von einem größeren Träger haben könnten.

DOMICIL als Betreiber von bundesweit zuletzt 55 Pflegeheimen ist bei Weitem nicht das größte Unternehmen der Branche, rangiert aber mittlerweile auf Platz 9, wobei man hinzufügen muss, dass nach wie vor die klassischen gemeinnützigen Betreiber wie Caritas oder Arbeiterwohlfahrt dominieren, die in der Liste der größten Unternehmen jedoch nur teilweise auftauchen, weil sie regional sehr stark untergliedert sind. Aber der Anteil der privaten Pflegekonzerne steigt, inzwischen entfällt auf sie ungefähr ein Viertel der stationären Pflegeplätze.

Es ist eine ähnliche Entwicklung, wie sie vor Jahren bei den Klinken stattfand, wo insbesondere öffentliche Kliniken nach und nach so zahlreich aufgekauft wurden, dass inzwischen ganze Regionen nur noch private Kliniken aufweisen. Befördert wurde diese Tendenz durch die Fallpauschale der Krankenkassen, die die Kommunen nötigten, entweder kontinuierlich Geld zuzuschießen oder die Kliniken zu privatisieren. Die Haupteinsparmöglichkeiten fanden sich nämlich bei der Bezahlung des Personals, nicht nur in der Pflege, auch in der Verwaltung.

Wenn man sich die Liste der großen privaten Betreiber ansieht, fällt eines auf: Die Eigentümer sind weit überwiegend Finanzinvestoren aus dem Private-Equity-Bereich, also Firmen, die vor allem das Geld extrem Vermögender anlegen. Da findet sich "Waterland Private Equity" aus den Niederlanden, "Chequers Capital" aus Frankreich, "Nordic Capital" aus Schweden oder "Oaktree Capital Management" aus den USA. Der Marktführer "Korian" aus Frankreich ist als Aktiengesellschaft geradezu eine Ausnahme. DOMICIL ist eine im Jahre 2011 eingetragene SE, also eine Kapitalgesellschaft nach europäischem Recht, mit einem Stammkapital von 120.000 Euro. Der Jahresumsatz liegt bei über 200 Millionen Euro.

Eines kann man mit Sicherheit sagen: Dort, wo sich diese Private-Equity-Firmen niederlassen, wird Geld verdient. Und noch etwas steht fest: Das Geld, das da verdient wird, erhöht zwangsläufig die Kosten der Pflege, um hier von den Nebenwirkungen in Bezug auf Arbeitsbedingungen und Entgelt ganz zu schweigen.

Wobei DOMICIL – zumindest nach Aussagen ehemaliger Beschäftigter, die im Netz zu finden sind – nicht zu den finsteren Arbeitgebern zählt. Allerdings findet man aus einem Berliner Pflegeheim in der Steglitzer Bergstraße Beschwerden wie etwa die, dass bis vor der Übernahme noch ein 13. Monatsgehalt gezahlt worden sei. In der betroffenen Einrichtung in Friedrichsfelde scheint es zumindest keinen massiven Konflikt zu geben.

Das Kernproblem, dass es eben an Pflegekräften mangelt, hat nach wie vor mit den beiden schon lange bekannten Faktoren Bezahlung und Arbeitsbedingungen zu tun. Theoretisch würde die Zahl der jährlich ausgebildeten Kräfte genügen, wenn nicht die Abwanderung so hoch wäre – eine Abwanderung, die in dem nach wie vor überwiegend von Frauen ausgeübten Beruf beispielsweise mit der Familienzeit beginnt.

Wenn es sich um einen tatsächlichen Markt handelte, müssten – wie in manch anderen Berufen in Deutschland auch – die Löhne steigen. Oder tatsächlich auf breiter Front die Mieten sinken, was in den meisten Fällen eine valide Alternative wäre. Und es bräuchte ein höheres Ansehen körperlich und seelisch belastender Tätigkeiten.

Die Pflege wird letztlich aus drei Quellen finanziert – aus den Renten (oder Pensionen) der Gepflegten, der Pflegeversicherung und (wieder in steigendem Maß) durch Leistungen nach dem SGB XII, also aus der alten Sozialhilfe. Das ist mit einer der Gründe, warum die Löhne in der Pflege nicht ausreichend steigen.–Die Renten wurden schließlich gründlich nach unten manövriert, weil die Einnahmen der Sozialversicherungen von den Löhnen aller abhängen, die in Deutschland seit langem nicht mehr ausreichend steigen. Die Pflegeversicherung muss, um mehr zahlen zu können, den Beitragssatz erhöhen, was dann das verbleibende Netto weiter verringert, und die Sozialhilfe geht zu Lasten der Kommunen, die ohnehin zu wenig Geld haben.

Dabei ist nicht nur der private Gewinnanspruch, der sich in diesem Gewerbe immer weiter verbreitet, eine denkbare Stellschraube. Die Struktur der Sozialversicherungen in Deutschland, die im Bereich der Rentenversicherungsträger noch ziemlich aufgeräumt ist, hat sich bei den Krankenkassen (die auch die Pflegeversicherung verwalten) in ein unübersichtliches Chaos verwandelt, das vor allem für eines gut ist: für gigantische Verwaltungskosten. Auch das ist einer der Punkte, die gerne übergangen werden: Diese Bereiche sind tatsächlich überbürokratisiert und binden damit auch Arbeitskräfte, die andernorts sinnvoller tätig sein könnten.

Es gibt übrigens noch eine etwas subtilere Tendenz, die Konzentrationsprozesse in der Pflege fördert. Dabei geht es um die ambulante Pflege, die auf immer größere Hürden stößt, beispielsweise Dieselfahrverbote. Noch gibt es in diesem Bereich verhältnismäßig viele Selbständige, die aber – je schwerer die Fortbewegung zu gewährleisten ist – immer weiter von größeren Anbietern verdrängt werden, sofern sich diese Variante noch aufrechterhalten lässt. Die Corona-Maßnahmen stürzten gerade die ambulante Pflege ins völlige Chaos. Je weiter dieser ambulante Sektor konzentriert und ausgedörrt wird, desto eher muss auf stationäre Pflege zurückgegriffen werden. Bisher hielt sich dieser Sektor der ambulanten Pflege aufgrund der etwas größeren Selbstbestimmung, obwohl die Sicherheit für die Beschäftigten in der stationären Pflege höher ist. Aber je enger der finanzielle Spielraum wird, desto fragiler wird der ganze Bereich. Und gerade in der ambulanten Pflege haben reihenweise Pflegekräfte wegen der Impfpflicht seinerzeit diesen Beruf verlassen.

Man kann merken, dass die Probleme in der Pflege immer nur genau dann wahrgenommen werden, wenn von der Pflege selbst die Rede ist. Schon der Zusammenhang zwischen der finanziellen Ausstattung der Sozialversicherungen und den Löhnen wird kaum jemals erwähnt. Bei Dieselfahrverboten und CO2-Abgaben auf Treibstoff denkt auch niemand an die ambulante Pflege, genauso wenig wie bei Planungen, den Autoverkehr aus ganzen Straßenzügen zu verbannen. Und die Wahrnehmung, dass und wie ungeeignet manche Bereiche zur Erzielung von Gewinnen sind, ist extrem unüblich. Aber die Millionengewinne von Unternehmen wie DOMICIL wären in den Löhnen der Beschäftigten deutlich besser angelegt.

Erstaunlich ist der Vorfall vor allem, weil DOMICIL eher Pflegeheime für die oberen Schichten betreibt. In dem betroffenen Haus in Friedrichsfelde gibt es vor allem Einzelzimmer. Die zwei Stunden, in denen Sanitäter der Feuerwehr den Betrieb absicherten, sollen am Ende darauf zurückzuführen sein, dass der Akku im Diensthandy des Heimleiters leer gewesen sei.

Interessant wird nun die Antwort auf die Frage sein, ob die Tatsache einer Nachtschichtbetreuung durch eine Zeitarbeitsfirma in einem Konzern mit 16 Berliner Häusern überhaupt noch zum Thema wird, oder ob – trotz all der Aufregung über den Feuerwehreinsatz – die Zusammenhänge, die hinter einem solchen Ereignis stehen, unangetastet bleiben. Ja, selbst die Frage einer solchen Notlage wäre auf Ebene der Kommune lösbar, wenn man es eben nicht mit unzähligen unterschiedlichen Betreibern zu tun hätte, denn daher würde selbst ein kommunaler statt konzerninterner Springerdienst zu einer wahren Monstrosität werden, sobald es am Ende um die ordnungsgemäße Abrechnung geht.

Aber während Pflegeleistungen – ob nun stationär oder ambulant – nach Sekunden aufgelistet sind, um ja nichts an Arbeitszeit zu vergeuden, wird der gesamte Aufwand, der in der Verwaltung verschwindet, niemals thematisiert. Denn um ihn zu verringern, müsste man letztlich die ganzen Privatisierungen – mindestens der letzten dreißig Jahre – zurückdrehen.

Es ist die große Absurdität, dass (womöglich nur noch begrenzte Zeit) die Verwaltungstätigkeiten, die geschaffen werden, um aus der damit verwalteten Arbeitskraft das Maximum herauszupressen, genau dadurch so viel attraktiver werden als eben diese eigentlich nötigen Arbeiten selbst, die nicht nur in der Bezahlung, sondern auch im zu ertragenden Druck im Vergleich immer schlechter dastehen, so dass dies dazu beiträgt, die verfügbaren Kräfte geradezu zu vertreiben. Während in den edlen Bereichen der Bürojobs, wie beispielsweise bei den Internet-Giganten, viel Wert darauf gelegt wird, die Arbeit möglichst wenig wie Arbeit aussehen zu lassen, wird in jenen Sektoren, in denen wie in der Pflege körperliche Arbeit verrichtet wird, alles in eine einzige große Fabrik verwandelt. Mit dem Ergebnis, dass die Fluchttendenzen stetig zunehmen.

Aber weil die Veränderungen, die erforderlich wären, um tatsächlich dafür zu sorgen, dass ein derartiger Feuerwehreinsatz nicht mehr nötig sein wird, so umfassend sind, dass sie schon den Horizont der heutigen Politiker übersteigen, wird man sich nach einer kurzen Aufregung schnell wieder Themen zuwenden, bei denen man zumindest augenblicklich so etwas wie einen Erfolg vortäuschen kann.

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