Meinung

Die EU muss sich nun mit den Folgen ihres gewaltigen strategischen Versagens auseinandersetzen

Die Europäische Union versuchte, über das Vehikel des Krieges in der Ukraine eine unabhängige Weltmacht zu werden und dabei gleichzeitig Russland in die Knie zu zwingen – und scheiterte damit grandios. Jetzt muss die EU erfahren, dass, wer anderen eine Grube gräbt, selbst hineinfällt.
Die EU muss sich nun mit den Folgen ihres gewaltigen strategischen Versagens auseinandersetzenQuelle: Legion-media.ru © Björn Trotzki

Von Timofei W. Bordatschow

Ob man es in Russland zuzugeben bereit ist oder nicht, der Platz der Europäischen Union in der internationalen Politik wird unweigerlich zu einer wichtigen Frage von sowohl theoretischer als auch praktischer Bedeutung werden. Für die Großmächte hängt die Dringlichkeit dieser Frage davon ab, was sie innerhalb ihrer eigenen Plänen mit Westeuropa assoziieren und wo sie folglich sehr wahrscheinlich enttäuscht werden. Im Fall der USA wird die strategische Bedeutung der EU durch ihre Fähigkeit bestimmt, Russland zumindest teilweise aus eigener Kraft einzudämmen.

Für Russland selbst ist die EU ein potenzielles "schwaches Glied" innerhalb des von den USA geführten kollektiven Westens, der die Interessen und das Überleben des russischen Staates bedroht. Eine ähnliche Position vertritt China, dessen Staatsführung ebenfalls davon ausgeht, dass der Einfluss der USA in Europa allmählich schwinden wird. Somit kann Peking trotz einer unvermeidlichen "Scheidung" von den USA weiterhin einen Zugang zu westlichen Technologien und Märkte beibehalten. Aus Sicht Indiens ist die EU ein weniger anspruchsvoller Partner als die USA im Zuge der Modernisierung der indischen Wirtschaft und der Lösung einiger seiner Herausforderungen bei der nationalen Entwicklung.

Gleichzeitig ist es schwierig, bei einigen der globalen Partner von echter Sympathie für die Westeuropäer zu sprechen. Unter diesen außenpolitischen Umständen stehen die führenden Länder der EU vor der Aussicht, nach und nach zu Grenzgebieten zu werden, die von allen globalen Akteuren lediglich als politische oder wirtschaftliche Ressourcenbasis betrachtet werden. Die Frage ist, ob die Westeuropäer aufhören können, sich in diese Richtung zu bewegen. Oder – was noch wichtiger ist –, ob sie in der Weltpolitik mehr Individualismus an den Tag legen können.

Wie wir wissen, haben sich die Absichten der führenden EU-Länder – allen voran Deutschland und Frankreich – im Vergleich zu den "goldenen" Jahren der Entwicklung ihres strategischen Projekts der europäischen Integration nicht wesentlich geändert. Wie in den 1990er- und 2000er-Jahren sprechen Berlin und Paris mit unterschiedlicher Intensität über ihren Wunsch, eine unabhängige Rolle im Weltgeschehen zu spielen. Aber selbst sie mussten zugeben, dass die Chancen auf die Verwirklichung solcher Pläne inzwischen erheblich gesunken sind. Und es könnte bald klar werden, dass sich Westeuropa tatsächlich in der Situation befinden wird, die den Vorhersagen der größten Skeptiker der EU am ehesten entspricht. Mit anderen Worten: Die tatsächliche Position der EU in der Weltpolitik stimmt zunehmend mit der Art überein, wie wir sie im Hinblick auf abstrakte Einschätzungen ihrer Beziehung zu den USA und ihrer Fähigkeit, unabhängig zu handeln, sehen können.

Dies wird jedoch durch mehrere wichtige Faktoren erschwert. Erstens behält Frankreich als führende politische Macht in Kontinentalwesteuropa weiterhin seinen Platz als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates. Damit steht es formal auf einer Stufe mit den führenden Staaten der internationalen Gemeinschaft. Zweitens sind die wirtschaftliche Stärke und das Potenzial der EU außergewöhnlich. Deutschland bleibt eine der führenden Wirtschaftsmächte der Welt. Drittens beteiligen sich westeuropäische Vertreter an den meisten großen internationalen Institutionen und nehmen führende Positionen bei der Gestaltung ihrer Agenden ein. All dies und noch viel mehr erlaubt es uns nicht, die EU mit Verachtung zu betrachten. Und es hindert uns auch daran, die EU gänzlich abzuschreiben und ihre Mitgliedsstaaten als bloße Juniorpartner der USA zu behandeln.

Für die letztere Ansicht gibt es jedoch triftige Gründe. Der dramatische Ausgang des Zweiten Weltkriegs, der zur Entstehung der gegenwärtigen internationalen Ordnung führte, bedeutete nicht nur das Ende Westeuropas als Weltmacht, sondern führte auch zum Verlust der Fähigkeit seiner einzelnen Staaten, ihre eigene Außenpolitik zu bestimmen. Man kann sagen, dass alle westeuropäischen Staaten durch die Ereignisse von 1939 bis 1945 eine schwere militärische Niederlage erlitten haben, auch wenn sie, wie im Fall Frankreichs, zu den formellen Gewinnern gehörten. Mit Ausnahme von Großbritannien und der UdSSR erlitten jedoch alle großen europäischen Staaten militärische Niederlagen – es gab unter ihnen keine Gewinner.

Der Zusammenbruch des Kolonialsystems in den folgenden Jahrzehnten war bereits eine Folge des dramatischen Abstiegs Europas in der Rangliste der Großmächte. Durch den Verlust grundlegender Rechte in Bezug auf ihre eigenen Positionen konnten die europäischen Kolonialreiche ihre Dominanz über andere Völker nicht mehr aufrechterhalten. Dieser Prozess verlief schleichend und wurde in einigen Fällen durch bestimmte Formen neokolonialer Abhängigkeit abgemildert. Wie wir jedoch am Beispiel des französischen Einflusses in Afrika sehen können, konnte es sich bei den in den 1960er- und 1970er-Jahren entstandenen Anpassungen beim Kolonialregime nur um vorübergehende Formen handeln, denen unweigerlich ein völliger Kontrollverlust der ehemaligen Oberherren über die ehemaligen Kolonien folgte.

Selbst Großbritannien, das durch den Zweiten Weltkrieg nicht besiegt, sondern deutlich geschwächt wurde, hat es schwer getroffen. Die führende Wirtschaftsmacht der Region, Deutschland, verlor sogar die formale Souveränität über ihre Außenpolitik. Frankreich kämpfte eine Zeit lang dagegen an, doch ab Mitte der 1970er-Jahre ging Paris allmählich dazu über, seine unabhängige Rolle in der Weltpolitik aufzugeben. Den Abschluss dieses Prozesses bildete vor 15 Jahren die Rückkehr des Landes zu den militärischen Strukturen der NATO, woraufhin auch die französische Verteidigungsplanung in das von den USA geführte System integriert wurde.

Damit waren Ende der 2000er-Jahre alle Voraussetzungen dafür gegeben, dass jegliche Träume von einer unabhängigen EU in der Weltpolitik völlig in Vergessenheit geraten konnten. Der letzte Versuch, die Souveränität in der Außenpolitik wiederherzustellen, war der deutsch-französische Widerstand gegen die Teilnahme an den Plänen der USA für den Irak in den Jahren 2002 bis 2003. Es führte jedoch zu keinem Ergebnis, das zufriedenstellend war. Den Rest erledigten die nahezu dauerhaften wirtschaftlichen Schwierigkeiten nach der Finanzkrise von 2008 bis 2009 und die gleichzeitig einsetzende Krise der politischen Systeme in den meisten Staaten der EU.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Vorgehen der EU-Staaten unter den Bedingungen einer akuten Krise in den Beziehungen zu Russland in den Jahren 2021 bis 2022 bereits ganz im Einklang mit der wahren Position der EU stand, als eher nicht autarker Partner der USA und als territoriale Basis für die Umsetzung der strategischen Pläne Washingtons.

Es wäre etwas naiv, sich darüber zu beklagen, dass die Staats- und Regierungschefs der führenden EU-Länder sowie ihre Institutionen sich völlig den Ereignissen ergeben haben, die sie nicht kontrollieren konnten. Die Schwere der sich abzeichnenden Krise – praktisch ein von der Ukraine angezettelter militärischer Zusammenstoß zwischen Russland und den USA – ließ keinen Raum für außenpolitische Manöver in dem Ausmaß, wie es den Westeuropäern während der Zeit des Kalten Krieges von 1949 bis 1991 noch möglich war. Dies gilt umso mehr, als die Ukraine-Krise selbst in gewissem Maße darauf zurückzuführen ist, dass Kontinentaleuropa jegliche Fähigkeit zur strategischen Unabhängigkeit verloren hat.

Wie wir oben erkannt haben, vollzog sich dies in einem schleichenden Prozess, der die Folgen der Ereignisse Mitte des vergangenen Jahrhunderts mit dem Scheitern der Versuche verbindet, eine echte politische Union, auf der Grundlage der europäischen Integration aufzubauen. Dies wird begleitet von einer Erweiterung der EU-Mitgliedschaften und Schaffung einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik durch Finanzinstrumente innerhalb der Eurozone.

Ein weiterer Beweis dafür ist das spezifische Verhalten der Institutionen der Europäischen Union, die nach Februar 2022 lediglich als ausführender Arm der NATO dienten. Dass die westeuropäischen Staats- und Regierungschefs zu Beginn des vergangenen Jahres dermaßen hilflos aussahen, lag nicht daran, dass sie inkompetent sind. Der wahre Grund für ihre Unfähigkeit, das Abgleiten des Kontinents in die schlimmste Krise seit Mitte des 20. Jahrhunderts und ihre anschließende Unterordnung an die US-Politik gegenüber Russland zu verhindern, liegt darin, dass der EU die Möglichkeiten zur Autonomie abhandengekommen ist.

Es bleibt nun zu beobachten, wie gravierend die Folgen dieses Prozesses sein werden, der 2022 sein Endstadium erreicht hat. Im Gegensatz zu Großbritannien ist die EU zu groß und zu vielfältig, als dass sie vollständig vom US-Einfluss eingenommen werden könnte. Westeuropäische Unternehmen verfügen über die nötige Größe, um unabhängige Verbindungen zum russischen und chinesischen Markt aufrechtzuerhalten. Die großen Staaten der EU folgen ihren Interessen und befinden sich in einer Doppelposition: Sie sind Washington strategisch völlig untergeordnet, genießen aber gleichzeitig eine gewisse Autonomie in ihren wirtschaftlichen Kontakten.

Infolgedessen können westeuropäische Länder buchstäblich in einem Zustand "schweben", in dem die Gegner der USA auf der Weltbühne weiterhin Einfluss auf sie haben können, sie jedoch nicht mehr in der Lage sein werden, selbst Entscheidungen zu treffen. Dadurch wird die EU zu einer Arena des Wettbewerbs zwischen den Großmächten. Und es ist noch nicht klar, wie sich eine solche Situation auf die Fähigkeit ihrer Mitgliedsstaaten auswirken wird, den Interessen der zahlreichen Rivalen gerecht zu werden.

Aus dem Englischen.

Timofei W. Bordatschow (geboren 1973) ist ein russischer Politikwissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der Wirtschaftshochschule Moskau. Unter anderem ist er Programmdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.

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