Meinung

Kanada oder Deutschland – Geschichte wird passend zurechtgebogen

Die deutschen Ausflüchte zum Umgang mit der ersten Generation ukrainischer Nazis und jene des kanadischen Ministerpräsidenten sind einander sehr ähnlich. Im Kern leugnen sie das Ergebnis der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Die gezeigte Nähe der Gedanken ist nicht nur oberflächlich.
Kanada oder Deutschland – Geschichte wird passend zurechtgebogenQuelle: www.globallookpress.com © Sean Kilpatrick

Von Dagmar Henn

Man hat fast das Gefühl, alles, was historisch solide ist, soll verflüssigt werden. Oder vielleicht ist es auch ein eigenartiger Prozess politischer Verwesung, der dahintersteckt. Jedenfalls ist keines der Details im Skandal rund um den Auftritt des SS-Mannes Jaroslaw Hunka im kanadischen Parlament so banal, wie es auf den ersten Blick scheint. Im Gegenteil, es ist die Enthüllung eines Zustandes, den man schon länger vermuten konnte, spätestens seit der "Solidarität mit der Ukraine", ein Zustand, der selbst die Grundlagen des Völkerrechts tangiert.

Warum? Die Urteile der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse sind, nach allgemein anerkannter Ansicht, die Grundlage des modernen Völkerrechts. Mehr noch, selbst der "Menschenrechts"-Imperialismus der vergangenen Jahrzehnte versucht, sich darauf zu berufen. Ein nicht ganz unwichtiger Bestandteil dieser Urteile ist aber, dass eine Reihe von Organisationen für verbrecherisch erklärt wurden; die erste Stelle auf dieser Liste belegt die SS. Und auch deren Unterabteilung, die Waffen-SS, mit einer winzigen Ausnahme für Zwangsverpflichtete und jene, die nachweislich an keinerlei Verbrechen beteiligt waren.

Die Division Galizien der Waffen-SS war eine Freiwilligendivision; für die 12.000 Mann umfassende Truppe gab es sogar über 80.000 Bewerbungen. Die Liste ihrer Verbrechen ist umfangreich. Einige davon waren unmittelbar Gegenstand der Anklagen während der Nürnberger Prozesse. Es gibt nicht den mindesten Zweifel daran, dass wir hier von einer verbrecherischen Organisation zu reden haben.

Aber die Sicht des Nürnberger Urteils wurde und wird im Westen vielfach aufgeweicht. In diesem Zusammenhang ist es ausgesprochen vielsagend, dass das deutsche Auswärtige Amt jüngst in seiner Antwort auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen von der Fraktion Die Linke mit seinem ausweichenden Kommentar auch die Waffen-SS mit einschloss.

Im Punkt 22 der Anfrage geht es explizit um eine Ehrung für den Organisator der SS-Division Galizien und die Position der deutschen Bundesregierung den Umgang mit der ukrainischen die Waffen-SS betreffend. Und die Erwiderung auf diesen Punkt begnügt sich nicht nur der üblichen Bemerkung, man habe keine weiteren Kenntnisse, sie beinhaltet auch noch den entlarvenden Satz "Ergänzend wird auf die Vorbemerkung verwiesen".

Die Vorbemerkung, in der erst erklärt wird, man verurteile jede Form von Rassismus, fügt dem dann noch hinzu:

"Die Bundesregierung macht sich die in der Vorbemerkung und den Fragestellungen enthaltenen rechtlichen Wertungen und Tatsachenbehauptungen, insbesondere hinsichtlich der pauschalen Einordnung bestimmter (historischer) Gruppierungen oder Personen als rechtsextrem, antisemitisch, antiziganistisch oder sonst rassistisch, ausdrücklich nicht zu eigen."

Noch einmal langsam zum Mitlesen: das bedeutet, das Auswärtige Amt erklärt, es mache sich die "pauschale Einordnung" der SS-Division Galizien als "rechtsextrem, antisemitisch, antiziganistisch oder sonst rassistisch ausdrücklich nicht zu eigen". Wer die Blutspur dieser Division kennt, fragt sich, welche Nazi-Organisationen dann überhaupt noch als Nazitäter gelten sollen, ganz zu schweigen von einer völligen Verleugnung des Ergebnisses der Nürnberger Prozesse, mit welchem die gesamte SS als verbrecherische Organisation bewertet wurde. Übrigens insbesondere die Waffen-SS, denn unter dieser Überschrift finden sich auch die Totenkopfverbände, die die Wachmannschaften der Konzentrationslager stellten, und zwischen denen ein reger Austausch mit den der Wehrmacht unterstellten Verbänden herrschte, auch was die in der SS organisierten Ukrainer betraf.

Wenn das Auswärtige Amt in Berlin selbst nicht mehr imstande ist, eine eindeutige Position zur SS-Division Galizien zu beziehen, dann verwundert es auch nicht, wenn sich die deutsche Botschafterin in Kanada für ihren Applaus für Jaroslaw Hunka damit entschuldigt, sie habe das nicht gewusst. Es ist kein Nichtwissen, es ist eine absichtliche Verfälschung, die in der Antwort des Auswärtigen Amtes auf die Nachfrage, was es denn vom Auftreten der Botschafterin halte, noch einmal verstärkt wurde, indem die polnische Heimatarmee mit der SS-Division Galizien gleichgesetzt wurde, nach dem Schema, das sei doch ein großes Durcheinander gewesen, so genau könne man das da nicht wissen. Die polnische Heimatarmee habe schließlich auch gegen Russen gekämpft.

Was nicht so ganz stimmt. Im Gegenteil, die polnische Heimatarmee ist vor allem durch den Warschauer Aufstand bekannt, und aus ihren Reihen wurde jahrzehntelang der Vorwurf gegen die Rote Armee erhoben, sie habe diesem Aufstand ihre Unterstützung verweigert, indem sie nicht schneller weiter vorgerückt sei. Dass dahinter britische Intrigen standen, steht auf einem anderen Blatt, aber die Vorstellung, die in den Köpfen des Auswärtigen Amtes herumspukt, dass eine militärische Formation, die auf ein Vorrücken der Roten Armee drängte, "gegen Russen" gekämpft habe, ist zumindest eigenartig, und es ist erstaunlich, dass die polnische Regierung auf diese Ehrverletzung, die in der Gleichsetzung der Helden des Warschauer Aufstands mit der Waffen-SS liegt, noch nicht reagiert hat.

Insgesamt erinnert die Haltung des Auswärtigen Amtes sehr an jene des kanadischen Premiers Justin Trudeau, der zwar inzwischen den Parlamentssprecher gefeuert hat, aber immer noch weder imstande ist, eine glaubhafte Entschuldigung vorzubringen, noch die absurde Behauptung zu unterlassen, er habe nicht wissen können, wer da gepriesen wurde.

Immerhin gab es, noch vor jenem unsäglichen Moment im kanadischen Parlament, ein Privattreffen von Trudeau und dem ukrainischen Präsidenten Selenskij mit eben jenem besagten Jaroslaw Hunka. Selenskij seinerseits kann unmöglich behaupten, nicht gewusst zu haben, wer auf ukrainischer Seite im zweiten Weltkrieg "gegen die Russen" gekämpft habe; schließlich sind viele dieser Massenmörder inzwischen in Kiew mit Straßennamen verewigt; selbst die Straße, die zur Gedenkstätte für Babi Jar führt, trägt den Namen eines der Mörder.

Schon ein gewöhnlicher Gast für eine Parlamentssitzung wird überprüft. Erst recht jemand, der sich mit zwei Staatsoberhäuptern für ein Privatgespräch trifft. Und Hunka hat mitnichten hinter dem Berg gehalten, was seine SS-Mitgliedschaft betrifft.

Man kann natürlich immer noch vermuten, die Unbefangenheit, mit der Justin Trudeau durch die Ehrung eines SS-Mannes die Verbindung zwischen damaligen und heutigen ukrainischen Nazis unübersehbar hergestellt hat, sei ein Teil der Einleitung eines westlichen Rückzugs aus dem gescheiterten Projekt. Schließlich erschienen in letzter Zeit einige Artikel, die den Schleier über der wahren Qualität des Kiewer Regimes stückchenweise lüfteten – sei es der Artikel im britischen Economist, der die Existenz einer Mordabteilung in der ukrainischen SBU bestätigte, der Artikel in der New York Times, der entdeckte, dass es doch eine ukrainische Rakete gewesen sein muss, die in Konstantinowka 17 Zivilisten tötete, oder die plötzlich einsetzende Abneigung gegen Kiew in Warschau.

Aber wenn man einen Blick auf die Aussagen des Institute for the Study of War (ISW) in einem Tweet zur ukrainischen Offensive wirft, erhält man den Eindruck, dass im Interesse der eigenen Wünsche inzwischen jeder Aspekt der Wirklichkeit so zurechtgebogen wird, wie es zu diesen Fantasien passt. Dazu muss man wissen, dass das ISW unter anderem von Kimberly Kagan, der Schwägerin der in Bezug auf die Ukraine so aktiven Victoria Nuland, gegründet wurde und geleitet wird. Was diese Denkfabrik veröffentlicht, kommt aus dem Herzen der Washingtoner Blase der Russlandhasser.

"Putin hat vermutlich das russische Militärkommando angewiesen, alle ursprünglichen russischen Verteidigungsstellungen zu halten, um die Illusion zu schaffen, die ukrainische Gegenoffensive habe trotz beträchtlicher westlicher Unterstützung keinerlei taktische oder operationelle Wirkung erzielt."

Sicher, Täuschung ist ein bedeutendes militärisches Mittel. Aber die Ergebnisse auf dem Schlachtfeld sind keine Illusion, sondern harte materielle Wirklichkeit. Zählbare, messbare materielle Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die sich in Gestalt zehntausender Toter in einer mit allen menschlichen Sinnen wahrnehmbaren Form verkörpert. Sie wird ebenso als "russische Propaganda" entsorgt wie die Liste der Opfer der SS-Division Galizien.

Es ist ein- und dieselbe Denkweise, die die harte, materielle Niederlage um den Preis unzähliger Menschenleben zur Illusion erklärt und die das klare Verdikt des Nürnberger Gerichts, die Waffen-SS sei eine verbrecherische Organisation, in einem Nebel aus vorgetäuschtem Unwissen und historischer Beliebigkeit zu entsorgen versucht. Deshalb hat das kanadische Parlament seine Sympathie für einen SS-Mann geäußert, deshalb hat das deutsche Auswärtige Amt erklärt, die SS nicht "pauschal einordnen" zu wollen, weil die Unmenschlichkeit des heutigen Westens, die sich in Provokation wie in Verlängerung des ukrainischen Gemetzels zeigt, sich in nichts von der Unmenschlichkeit der damaligen Waffen-SS unterscheidet.

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