Meinung

Verhandlungsfenster? Russland braucht kein Einfrieren dieses Konflikts

Der Westen will Russland nun dazu bewegen, Verhandlungen mit Kiew aufzunehmen. Russland braucht jedoch diese Verhandlungen nicht – weder die territorialen noch die politischen Bedingungen sind dafür reif, meint der russische Politikwissenschaftler Geworg Mirsajan.
Verhandlungsfenster? Russland braucht kein Einfrieren dieses KonfliktsQuelle: Sputnik © Ramil Sidtikow

Von Geworg Mirsajan

Die ukrainische "Sommer-Gegenoffensive" hat sich bis zum Herbst hingezogen. Ihr Tempo (mehrere Monate lang wurde nicht einmal die erste russische Verteidigungslinie durchbrochen – alle Kämpfe fanden im Vorfeld statt), die kolossale Zahl der Verluste und die zerstörte westliche Ausrüstung lassen bereits den Schluss zu, dass diese Gegenoffensive gescheitert ist.

Dies stellt den Westen vor eine äußerst schwierige Aufgabe – es gilt nicht nur, diesen gescheiterten Feldzug informationell zu glätten (es wurden so viel Geld, Waffen und politische Hoffnungen investiert), sondern auch eine russische Vergeltungsoffensive zu verhindern. Denn diese könnte – angesichts der angehäuften Reserven Moskaus und der Freizügigkeit bei der Auswahl der Richtung – zur Befreiung ehemaliger ukrainischer Gebiete und damit zu einer schweren Image-Niederlage des Westens führen.

Aus diesem Grund verdichten sich die Gerüchte, dass sich im Herbst ein "Fenster für Verhandlungen" öffnen werde. Westliche Medien machen deutlich, dass die US-amerikanische und die europäischen Regierungen die Ukraine zu einem Dialog mit Moskau über einen Kompromiss als Ausweg aus der Sackgasse bewegen wollen, indem sie den Konflikt einfrieren. Einige schreiben sogar, dass das Kiewer Regime territoriale Zugeständnisse machen solle und der Beibehaltung der russischen Kontrolle über einen Teil der von Moskau kontrollierten Gebiete zustimmen müsse.

Die westlichen Medien und Beamten demonstrieren auch auf jede erdenkliche Weise, dass die USA und die EU damit Russland einen großen Gefallen täten, indem sie diese Zugeständnisse diskutieren würden und das Kiewer Regime zu dieser "Akzeptanz der Realität" drängen.

Russische Experten betrachten dieses ganze diplomatische Spiel bestenfalls mit Interesse und schlimmstenfalls mit einem Anflug von Ekel. Ich spreche natürlich nicht von denjenigen Experten, die ständig eine Niederlage Russlands herbeireden und grundsätzlich Gegner der Militäroperation sind – sie werden sich den westlichen Bemühungen anschließen und Russland aus dem Inneren heraus davon überzeugen wollen, diese Verhandlungsbedingungen zu akzeptieren. Nein, wir sprechen von jenen Russen, die erkennen, dass dieser Konflikt ein Vabanquespiel ist. Wir können entweder gewinnen und in einer besseren Welt leben – oder wir können verlieren und überhaupt nicht mehr leben – als ein Volk und als ein Staat.

Ja, ein Sieg kann (und wird wahrscheinlich auch) errungen werden in Form einer Kompromisslösung, bei der die meisten Bedingungen Russlands erfüllt werden. Doch mit dem, was der Westen jetzt will und vor allem anbieten kann, ist Russland absolut nicht zufrieden – es ist weniger ein Eingeständnis eines russischen Sieges als ein Angebot zur Kapitulation.

Warum würde vielmehr Russland durch das Einfrieren des Konflikts benachteiligt werden? Moskau hat sich jetzt für die Taktik des Kampfes "bis zur Erschöpfung" entschieden – das heißt, es will seine Ziele nicht durch einen Blitzkrieg erreichen, sondern auf Kosten eines Vorteils gegenüber der Ukraine beim Potenzial an Ressourcen. Aus diesem Grund sind die Truppen in der Gegend von Saporoschje in aktiver Verteidigung (und zerstören die vom Westen an die Ukraine gelieferte Ausrüstung). Und aus demselben Grund konzentrieren sich die russischen Luftstreitkräfte darauf, das ukrainische Industrie-, Hafen- und Energiepotenzial dauerhaft zu beschädigen. Wenn der Konflikt jetzt eingefroren würde, hätte das Kiewer Regime die Chance, seine Verluste wieder wettzumachen.

Außerdem würde ein Einfrieren bedeuten, dass das derzeitige Kiewer Regime an der Macht bliebe und ein ziemlich großes Gebiet mit einer Bevölkerung von mindestens zwei Dutzend Millionen Menschen regiert. Um zu regieren – und dabei zugleich die Gehirne dieser Menschen weiterhin systematisch mit Russophobie zu vergiften. Infolgedessen würde es in der Nähe der russischen Grenzen weiterhin einen großen antirussischen Staatsverband geben, der bereit ist, Russland mit allen Mitteln (einschließlich Nuklearterrorismus) zu schaden. Das passt Moskau verständlicherweise überhaupt nicht – schließlich war es eines der Hauptziele dieser Militäroperation, die von einem solchen ukrainischen "Anti-Russland" ausgehende Bedrohung zu beseitigen.

Zu den Mindestaufgaben Russlands gehört auch die Befreiung seines gesamten Territoriums von der ausländischen Besatzung. Das heißt, die Kontrolle über Slawjansk, Cherson, Saporoschje, Kramatorsk und andere Städte zu übernehmen, die derzeit noch von ukrainischen Truppen besetzt sind. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass der derzeitige Kompromiss über das Einfrieren den Abzug dieser Truppen aus dem russischen Hoheitsgebiet umfassen würde, was bedeutet, dass Moskau praktisch anbieten müsste, dort die fortdauernde ukrainische Besetzung seiner Gebiete zu akzeptieren. Dies würde nicht nur der nationalen Verfassung widersprechen, sondern auch die Glaubwürdigkeit Moskaus in den Entwicklungsländern beeinträchtigen. Bis heute gibt es keine einzige Atommacht in der Welt, deren Territorium von einer nichtnuklearen Macht besetzt wurde.

Russland wird auch andere Territorien noch befreien müssen. Odessa unter der Kontrolle des derzeitigen Regimes in Kiew zu belassen, bedeutet nicht nur die Möglichkeit, die Hafenressourcen der Stadt zur Finanzierung des ukrainischen militärischen Potenzials zu nutzen, sondern auch die Möglichkeit, Provokationen in Transnistrien durchzuführen. Wenn ukrainische Truppen auf "Ersuchen der moldawischen Führung" beschließen sollten, in solch einer Region mit mehreren Hunderttausend russischen Bürgern "die verfassungsmäßige Ordnung durchzusetzen", werden ein paar Tausend dort stationierte russische Friedenstruppen nicht in der Lage sein, sie aufzuhalten. Das bedeutet, dass Russland seine militärischen Operationen wieder aufnehmen müsste – aber nicht in Form eines Zermürbungskrieges, sondern eines Blitzkrieges (um seinen Bürgern wirklich zu Hilfe kommen zu können). Und zwar nicht gegen einen durch anderthalb Jahre andauernde Kämpfe geschwächten Gegner, sondern dann gegen einen Staat mit seinem während des eingefrorenen Konflikts wiederhergestellten Potenzial.

Schließlich bedeutet das Einfrieren auch nicht die Aufhebung der antirussischen Sanktionen, die Freigabe russischer Konten und andere wirtschaftliche Aspekte. Deshalb braucht Russland jetzt kein Einfrieren.

Verhandlungen sind dann notwendig, wenn die Bedingungen dafür reif sind, auch in territorialer Hinsicht. Denn angesichts des fehlenden Vertrauens in westliche Versprechungen sollte die Formel für die Lösung des Konflikts nicht in einer "Road Map" bestehen, zu deren Einhaltung die Parteien verpflichtet sind, sondern in einer politischen Fixierung der militärischen Ergebnisse.

Russland betont offiziell, dass es nur dann zu substanziellen Verhandlungen bereit sei, also zu Gesprächen unter solchen Bedingungen, dass die Ukraine zuallererst die neuen territorialen Realitäten akzeptiert. Gleichzeitig macht die Hartnäckigkeit der ukrainischen Seite solche Verhandlungen derzeit nahezu unmöglich. Die Kiewer Führung hat ihre Weigerung, das Verhandlungsfenster zu öffnen, sogar in den Dekreten des Präsidialamtes und der Werchowna Rada festgeschrieben.

Es soll also geschlossen bleiben – bis ein echtes, vollwertiges Verhandlungsfenster geöffnet werden kann. Irgendwann Anfang 2025, wenn die US-Regierung wechselt und Russland wahrscheinlich seine derzeitigen und künftigen Gebiete befreit haben wird.

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad. 

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