Meinung

Sachsens Kretschmer fragt: "Was fehlt noch, bis wir Kriegspartei sind?"

In einer Diskussionsveranstaltung am Montag in Dresden hat der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer seine Forderungen nach einer Verhandlungslösung in der Ukraine und nach einer Vermittlerrolle Deutschlands wiederholt. Die Debatte zeigt aber auch, dass selbst ein Michael Kretschmer, der zu den konstruktivsten Vertretern der deutschen Politik zählt, die Ursachen der ukrainischen Tragödie noch lange nicht verstanden hat.
Sachsens Kretschmer fragt: "Was fehlt noch, bis wir Kriegspartei sind?"Quelle: www.globallookpress.com © Robert Michael/dpa

Von Anton Gentzen

Unter dem Motto "Deutschland und Sachsen in der Zeitenwende. Was jetzt zu tun ist." veranstaltete das Landesbüro Sachsen der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Zusammenarbeit mit der CDU-nahen Adenauer-Stiftung am 16. August ein Streitgespräch zwischen dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) und dem Frontmann der sächsischen SPD, Martin Dulig.

Kretschmer gehört bei Fragen des Umgangs Deutschlands mit der Ukraine-Krise und Russland, antirussischen Sanktionen und dem Import russischer Energieträger zu den wenigen Dissidenten in der deutschen Politik. Während der CDU-Chef Friedrich Merz erst vor einigen Tagen eine Vermittlerrolle Deutschlands im russisch-ukrainischen Krieg ausgeschlossen hat, da Deutschland "fest an der Seite der Ukraine steht und somit nicht neutral ist", wiederholte der sächsische Ministerpräsident seine Forderung nach deutschen Vermittlungs- und Verhandlungsbemühungen.

Die militantere Gegenposition zu Kretschmer musste in dem Dresdner Streitgespräch ausgerechnet ein Sozialdemokrat vertreten, nämlich der sächsische Wirtschaftsminister Dulig. Wobei Kretschmer seine Position auch gegen die beiden Moderatorinnen vertreten musste, die ihn teilweise in einer rabiaten Art und Weise unterbrachen und bedrängten. Aus dem Publikum erntete der Ministerpräsident auffallend häufigeren, längeren und kräftigeren Beifall. 

In seinem Eröffnungsstatement stellte Kretschmer klar, dass er keinen Illusionen über Russland und den russischen Präsidenten (Letzteren bezeichnete er im Verlauf der Diskussion mehrfach als "Verbrecher") verfallen sei. Sein Verhältnis zu Russland bezeichnete der Landeschef als ein "sehr reflektiertes", und formulierte seine Russland-Strategie folgendermaßen: 

"Dieses Land (Russland – Anm. d. Red.) kann man von außen nicht beeinflussen, es hat eine solche Größe, eine solche Kraft und eine große Eigendynamik, dass wenn man in Frieden leben will mit Russland, dann braucht man eine eigene Kraft, eine eigene Stärke. Das ist das Einzige, das dann funktioniert: Ein Gleichgewicht, eine Abschreckung, nennen Sie es, wie Sie wollen."   

Die gegenwärtige Einstellung zu Russland in Staat und Gesellschaft bereite ihm hingegen große Sorgen. Durch den Abbruch der Kontakte verspiele Deutschland auch die Chance, eine Vermittlerrolle einzunehmen. Kretschmer: 

"Viele sagen, der Krieg müsse auf dem Schlachtfeld gewonnen werden. Ich sage: Nein. Er muss möglichst schnell mit Verhandlungen zu einem Stillstand kommen. (...) Ich setze nicht darauf, dass wir einen militärischen Sieg erringen können. Das ist nicht realistisch, hat riesige Gefahren, wenn man es zu Ende denkt. Das ist nicht mein Weg!"

Deutschland sieht Kretschmer in einer besonderen Verantwortung, aufgrund der Größe und der wirtschaftlichen Stärke innerhalb der EU, der Geschichte und des in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Staatengemeinschaft erworbenen Respektes: 

"Wir sind das Land, das in solchen Konflikten sonst verhandelt (...) Wen gibt es jetzt noch? Sollen es die Chinesen machen, sollen es die Türken machen?"

Dagegen mache ihm die Entwicklung, die Deutschland in den letzten Monaten genommen habe, Angst. Man sei auf dem besten Wege, selbst zur Kriegspartei zu werden: 

"Was fehlt eigentlich noch, dass auch wir, jeder von uns, der das eigentlich nicht will, sagen muss: Wir sind Kriegspartei? (...) Ehrlich gesagt, es fehlt nur noch, dass deutsche Soldaten dort eingesetzt werden. Und das ist aus meiner Sicht ein Riesenproblem. Wir haben immer gesagt, wir wollen nicht Kriegspartei werden, wir wollen uns fernhalten. (...) Wir sind sehr, sehr weit auf einer schiefen Ebene gegangen."

Die Position Duligs lässt sich im Wesentlichen auf die im Laufe der Diskussion mehrfach wiederholte Frage herunterbrechen, wie man denn "Putin und Selenskij" an den Verhandlungstisch zwingen könne, sowie das ebenso oft manifestierte Credo, dass der Druck auf die Konfliktparteien, den die Weltgemeinschaft ausüben müsse, um sie zu einer Verhandlungslösung zu bewegen, nicht darauf hinauslaufen dürfe, die militärische Widerstandsfähigkeit der Ukraine zu reduzieren.

Dabei war die Antwort Kretschmers auf Duligs Frage bereits beim ersten Mal erschöpfend:    

"Indem diejenigen, die eine unmittelbare Wirkung haben, wie beispielsweise auch die Europäische Union, wie die chinesische Regierung, wie die amerikanische Regierung (...) gemeinsam diese Forderung (nach Verhandlungen – d. Red.) erheben. (...) So enden Konflikte immer, so beginnen Verhandlungen immer. (...) Ist das, was wir derzeit von der EU, von der deutschen Bundesregierung hören, von den amerikanischen Verbündeten, dass man Russland und der Ukraine sagt: 'Jetzt ist hier aber mal Schluss, jetzt wird verhandelt.' Das hören wir nicht. Sondern wir hören nur darüber, welche Waffen wir noch liefern können." 

Allerdings leidet auch die Position des sächsischen Ministerpräsidenten daran, dass er zu keiner substantiellen Kritik auch der ukrainischen Position und der ukrainischen Politik der vergangenen Jahre findet. Sowohl Dulig als auch Kretschmer argumentieren allein vom Standpunkt der "Unverletzlichkeit der territorialen Integrität", als gäbe es nicht das damit in stetiger Konkurrenz und in einem dialektischen Verhältnis dazu stehende Selbstbestimmungsrecht der Völker. Als habe das Völkerrecht nicht jedem Staat die Verpflichtung auferlegt, die Rechte ethnischer und sprachlicher Minderheiten zu achten, und als verstieße die Ukraine nicht seit acht Jahren dagegen. 

Solange die legitimen russischen Interessen nicht ernst genommen werden, solange die russische Minderheit der Ukraine missachtet wird, solange der Ukraine vom Westen ein Freifahrtschein für jede Art von Verstößen, Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen zugestanden wird, nützt auch eine scheinbar konstruktive Position wie die von Kretschmer nichts. Eine Verhandlungs- und Friedenslösung kann es nur geben, wenn auch die Ukraine von der Staatengemeinschaft zurechtgewiesen wird. 

Eine Aufzeichnung der Diskussion kann man sich hier ansehen. Es ist lohnenswert, allerdings sollte man bei so manchem Einwurf der beiden wenig kompetenten Moderatoren tief durchatmen und Ruhe bewahren.  

Mehr zum Thema - Michael Kretschmer fordert "Einfrieren" des Ukraine-Krieges

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