Meinung

Energiemangel – die neue Strategie des Westens, den Süden in Ketten zu halten?

Energie und Wohlstand sind untrennbar miteinander verknüpft – das zeigen gerade die Nebenwirkungen der antirussischen Sanktionen. Da muss es nicht wundern, wenn Energie auch ein Hebel ist, über den die Länder des Südens in Abhängigkeit gehalten werden sollen.
Energiemangel – die neue Strategie des Westens, den Süden in Ketten zu halten?Quelle: www.globallookpress.com © Thomas K o e h l e r/photothek.

von Dagmar Henn

Über Jahrtausende hinweg war es die Begrenzung der zur Verfügung stehenden Energie, die die Entwicklungsgeschwindigkeit menschlicher Technik begrenzte. Die Verwendung der Steinkohle, gekoppelt mit der Dampfmaschine, die den Brennwert der Kohle in Bewegung umsetzte, führte zu einer massiven Beschleunigung technischer Veränderungen.

Auch wenn man es sich aus dem heutigen europäischen Blick kaum mehr vorstellen kann, erst die Mechanisierung der Landwirtschaft setzte genügend Arbeitskräfte aus der Produktion der täglichen Nahrung frei, sodass größere Industrien entstehen konnten. Der Einsatz der neuen Maschinen und die Entstehung neuer Produktionszweige verstärkten sich wechselseitig. So verringerte sich in Deutschland der Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen von 95 Prozent der Bevölkerung im Jahr 1810 auf 50 Prozent im Jahr 1950 bis auf inzwischen nur noch ein Prozent. Ohne fossile Brennstoffe anstelle von Menschen- und Pferdekraft wäre das nicht möglich gewesen.

Da die industrielle Entwicklung in England begann, verbreitete sie sich zuerst in Europa und Amerika. Sie hätte auch an ganz anderem Ort beginnen können, in China beispielsweise, das Europa in vielen Bereichen vor langen Zeiten weit voraus war. Tatsächlich war die zündende Kombination aus Dampfmaschine, Kohle und Stahl das Produkt eines Zufalls; billiges Eisen gab es dank der Hochöfen, die mit Koks befeuert wurden, und Koks war eine Erfindung der Bierbrauer in Derbyshire, die keine Holzkohle zum Mälzen mehr bekommen konnten und so lange herumprobierten, bis es ihnen gelang, aus der Steinkohle den Schwefel zu entfernen, der das Malz ungenießbar machte.

Die deutsche industrielle Entwicklung machte dann vor, wie man auch als Nachzügler eine erfolgreiche Industrie aufbaut: durch Schutzzölle und gezielte staatliche Förderung. Das gilt nach wie vor bis heute und ist der Grund, warum Schutzzölle so verteufelt werden – sie bieten die Möglichkeit aufzuholen, bieten eine Möglichkeit, die große Teile der Menschheit auch heute gerne nutzen würden. Die westlichen Länder, die sich die Welt unterwarfen, haben daran allerdings deswegen gar kein Interesse.

Nachdem am Ende des zweiten Weltkriegs die alte koloniale Struktur zusammenbrach, in der zumindest die afrikanischen und asiatischen Kolonien immer noch aus dem "Mutterland" regiert wurden (Mütter nähren sich eigentlich nicht von ihren Kindern), etablierte sich bis in die 1970er Jahre hinein ein neues Modell, um Abhängigkeit und Kontrolle zu gewährleisten. Das Mittel der Wahl waren Kredite, gewährt vor allem über den internationalen Währungsfonds (IWF). Das waren Kredite, die vor allem benötigt wurden, um Zugang zu den Energien zu erhalten, die den Produktivitätsschub erst möglich machten, der auch dem Westen einst zur Macht verholfen hatte. Importe von Energieträgern und Kredite für den Aufbau einer Stromversorgung waren massive Posten, die nicht ohne weiteres anders finanziert werden konnten.

Der IWF aber wurde genutzt, um Bedingungen für diese Kredite zu stellen, die dafür sorgten, dass die Abhängigkeit ja nicht ende (beste Lektüre darüber: Perkins, Bekenntnisse eines Economic Hitman). Dazu gehörte, Schutzzölle gegen Waren aus dem industriellen Westen zu untersagen; eine nationalisierte Industrie und Rohstoffförderung zu verhindern; dafür zu sorgen, dass Konzerne aus den westlichen Ländern direkten Zugriff auf die Förderung von Rohstoffen hatten und diese nicht erst auf dem "freien" Markt erwerben mussten.

Gleichzeitig wurde durch die Orientierung der landwirtschaftlichen Produktion auf Export die Abhängigkeit weiter verstärkt, weil so oft die Ernährung der Bevölkerung aus eigener Kraft nicht mehr möglich war, was wieder Notwendigkeiten für neue Kredite schuf. Diese Bedingungen sorgten für einen kontinuierlichen Abfluss des möglichen Wohlstands aus den Empfängerländern; sie behinderten eine heimische industrielle Entwicklung und erzwangen teils sogar Rückschritte.

Das funktionierte deshalb, weil es schlicht keine Konkurrenz zu diesem Kreditgeber gab und weil Versuche, sich aus diesem Korsett zu befreien, regelmäßig mit politischer Gewalt unterdrückt wurden. Und zwar egal, ob es um die Nationalisierung des persischen Öls ging, weshalb in Iran einst Mohammad Mossadegh gestürzt wurde, oder um die der Kupferminen, was zum Pinochet-Putsch gegen Salvador Allende in Chile führte, oder um die Einführung einer afrikanischen Währung gegen den US-Dollar, was Gaddafi mit dem Leben bezahlte – all das war immer ergänzender Teil des Gesamtkonzepts.

Wie man an einigen Beispielen wie Venezuela sehen kann, funktioniert dieser Teil der Strategie des Westens nicht mehr so glatt wie einst. Und seit einiger Zeit gibt es eine Alternative; angefangen mit den ersten Kooperationen mit Angola bei der Ölförderung bereits in den 1980ern ist China immer stärker präsent und hat sowohl das nötige Geld als auch die erforderliche Technik zu bieten. Inzwischen ist China in weiten Teilen der Welt der größte Handelspartner und realisiert Großprojekte wie etwa Bahnstrecken auch quer durch den afrikanischen Kontinent.

In letzter Zeit gab es mehrere Versuche, dieses System der Abhängigkeit vom Westen wieder zu stabilisieren. Schließlich ist es nicht nur Folge, sondern gleichzeitig auch Voraussetzung westlicher Vorherrschaft.

Der erste dieser Versuche läuft unter dem Titel "Klimaschutz". Dabei wirken zwei Punkte auf die Verhältnisse zwischen dem Westen und dem globalen Süden. Zum einen wird durch die westlichen Banken die Finanzierung jeglichen Projekts zur Erschließung fossiler Energieträger blockiert. Schließlich stellen solche Rohstoffe eine Gefahr dar, dass ein Land aus der Abhängigkeit entrinnen könnte. Und das zweite sind hohe Energiepreise, die die Entwicklungsmöglichkeiten weiter einschränken, jeden Versuch, eine heutzutage noch "akzeptable" Energieversorgung aufzubauen, unmäßig teuer machen und damit neue Gründe für neue Kredite liefern, die dann wieder ... siehe oben.

Dieser Plan hat bisher nicht ganz funktioniert, weil nicht einmal alle westlichen Länder selbst dabei so mitspielen, wie man sich das vorgestellt hat, und weil da eben China ist, das in die Suppe spucken kann.

Auch mit Corona hatte man Hoffnungen verbunden, neue Kontrollmöglichkeiten zu gewinnen; diesmal über einen Impfstoff. Das ist dumm gelaufen, denn in Afrika wurde Corona kaum bemerkt (was wohl einer Mischung aus relativ jüngster Bevölkerung und unempfänglichster Blutgruppe zu verdanken ist, gekoppelt mit der Tatsache, dass man dort, wo etwa Malaria vorherrscht, so etwas wie Corona kaum noch wahrnimmt), der Impfstoff, den man so gerne zu völlig überhöhten Preisen (mit dafür zur Verfügung gestellten Krediten) geliefert hätte, wurde einfach nicht abgenommen. Oder man nahm gleich einen aus China. Eine Stabilisierung des kolonialen Systems brachte das jedenfalls nicht.

Jetzt erfolgt also der dritte Anlauf – zumindest, wenn man den Äußerungen von Janet Yellen, der ehemaligen Chefin der FED und jetzigen US-Finanzministerin glauben darf. Die Probleme, die durch hohe Energie- und Getreidepreise ausgelöst werden, sind natürlich dort größer, wo diese beiden Produkte die Hauptpositionen der Importe sind, also vor allem in Ländern des globalen Südens. Gleichzeitig sind diese beiden Importwaren kein Luxus, den man nehmen oder lassen kann, sondern unmittelbare Überlebensvoraussetzung. Also müssen sie gekauft werden, egal wie viel sie kosten.

Der Wunschtraum seitens des IWF geht nun dahin, zur Finanzierung dieser Importe Sonderziehungsrechte zu gewähren, also außerordentliche Kredite, die man dann wieder mit Auflagen versehen kann. Da die Kombination aus Krediten und Auflagen so gestaltet ist, dass die Kredite kaum jemals abbezahlt werden können, wäre durch einen plötzlichen Zwang zur Kreditaufnahme das ganze System wieder eine Zeit lang stabilisiert. Wenn es dann noch gelänge, über den Klimaschutz eine zusätzliche Kette anzulegen ...

Allerdings: ganz so einfach funktioniert auch dieses Spiel nicht. Denn zum einen gibt es Anzeichen dafür, dass die Folgen für den Westen selbst massiv unterschätzt wurden, und es steht bereits fest, dass dank einer Kombination von Dürre und Mangel an Düngemitteln die Weizenernte in den USA dieses Jahr weit unterdurchschnittlich ausfallen wird, was bedeutet, dass es hier keinen Überschuss geben wird, den man feilbieten könnte. Zum anderen aber kann die Kombination Russland/China beides bieten, und das auch noch zu günstigeren Konditionen. China hat schon den gesamten russischen Getreideüberschuss dieses Jahres aufgekauft; Russland besitzt das Erdöl, zusammen könnten sie die Gelegenheit nutzen, um den vom Westen mit Hintergedanken ausgelösten Mangel gegen ihn selbst zu wenden.

Es sind solche Möglichkeiten, die dahinter stehen, wenn jetzt sogar versucht wird, Tankergesellschaften generell am Transport von russischem Erdöl zu hindern. Der Hebel geht in diesem Fall über die Versicherungen, die solche Transporte nicht länger versichern sollen. Aber auch das wird wohl nicht glatt gehen, denn zum einen verärgert das die griechischen Reeder, die weltweit die größte Tankerflotte besitzen, und zum anderen gibt es kein Gesetz, das es verbieten würde, in China eine neue Versicherung für Öltanker aus dem Boden zu stampfen.

Letztlich sind alle diese Manöver Verzweiflungsakte und mit einem immer höheren Risiko behaftet. Wenn man sehen will, in welchem Zustand sich das System kolonialer Kontrolle momentan befindet, muss man nur einen Blick auf die Weltkarte werfen und nachsehen, welche Länder Russland sanktionieren. Nicht einmal Brasilien unter Bolsonaro war noch bereit, bei den Sanktionen mitzuziehen; dabei wurde dieser Präsident quasi per Handaufzucht von den USA installiert. Außerhalb des Wertewestens kann man dabei zuhören, wie hier und da die Ketten zerspringen.

Es gibt natürlich keine Garantie dafür, dass die Sanktionen der letzte Versuch bleiben werden. Wenn man an die vielen Biolabore der USA denkt und an die Erpressungspraktiken, die sich in den Verträgen der EU und anderer Länder mit BioNTech-Pfizer finden, kann man sich so einiges vorstellen. Aber die bisherigen Anläufe haben im Grunde schon gezeigt, dass die Macht, die Vorherrschaft wieder herzustellen, gar nicht mehr vorhanden ist, und jeder Versuch, wie etwa die Klimarettung, letztlich dem Westen selbst auf die Füße fallen wird.

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