Europa

20 Jahre seit NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien: Momentaufnahme zwei Tage vor dem Angriff

Am Sonntag jährt sich der militärische Überfall der NATO auf Jugoslawien zum 20. mal. Der Geheimdienstexperte und Analyst Rainer Rupp schrieb damals zwei Tage vor dem Angriff seine Gedanken dazu auf - die RT Deutsch im folgenden dokumentiert.
20 Jahre seit NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien: Momentaufnahme zwei Tage vor dem AngriffQuelle: www.globallookpress.com

von Rainer Rupp

Am 22. März 1999, unmittelbar vor dem absehbaren NATO-Angriff auf Jugoslawien, hatte der Autor dieser Zeilen seine Gedanken zu dem bevorstehenden mörderischen Wahnsinn in einer Zelle in der Justizvollzugsanstalt Saarlouis auf einer alten Schreibmaschine zu Papier gebracht und per Post an eine linke Tageszeitung in Berlin geschickt. Zwei Tage später fielen die ersten NATO-Bomben. Es folgen Auszüge aus dem Text.

(Hinweis der Redaktion: Rainer Rupp war über 20 Jahre als Kundschafter für die Hauptverwaltung Aufklärung des DDR-Ministeriums der Staatssicherheit tätig. Als Topagent "Topas" war er im NATO-Hauptquartier tätig und hat den Diensten im Osten hochbrisante Informationen geliefert. Sowohl ehemalige CIA- als auch KGB-Agenten bestätigten, dass Rupp mit seinem Engagement verhinderte, dass das NATO-Manöver "Able Archer" zum Dritten Weltkrieg führte. Rupp wurde 1994 zu einer zwölfjährigen Haftstrafe wegen "schweren Landesverrats" verurteilt.) 

"Von dem Moment an, wo die NATO-Bodentruppen im Kosovo sind, ist die serbische Herrschaft über die Provinz beendet" freute sich der Korrespondent des amerikanischen "Christian Science Monitor" am 19.3. im BBC-World Service. Er unterstrich die Notwendigkeit, nun schnell die "diplomatische Zustimmung" Belgrads zur Besetzung seines nationalen Territoriums durch NATO-Truppen mit Luftangriffen herbei zu bomben. Mit der Schlagzeile: "Milošević will es nicht anders" hieb die Washington Post in die gleiche Kerbe. 

Auch die staatstragenden deutschen Medien heizen die Kriegspropaganda gegen die bösen Serben an, die den guten NATO-Frieden ablehnen und sich stattdessen auf einen "Krieg mit der internationalen Völkergemeinschaft(!)" vorbereiten. So weist die freie, demokratische West-Presse bereits den Weg in die schöne NATO-Zukunft. Nicht mehr die UNO, sondern die NATO soll den Willen der "internationalen Völkergemeinschaft" verkörpern. In der NATO seien schließlich 19 demokratisch gewählte Regierungen vereint, die sich bei einem gemeinsamen Beschluss gar nicht irren könnten, belehrte neulich ein deutscher Polit-Professor die Leser der "Blätter für deutsche und internationale Politik". 

Weiter führte der Herr Professor aus, dass die NATO die Werte der "internationalen Völkergemeinschaft" sogar noch besser verkörpere als die UNO. Denn in der UNO seien jede Menge unsicherer Kantonisten vertreten, und China und Russland seien sogar im UNO-Sicherheitsrat, was bedeutet, dass diese autokratischen Regime sogar die Beschlüsse der freien NATO mit einem Veto torpedieren können. Jedem vernünftigen Menschen müsse doch klar sein, das die internationale Gemeinschaft dies nicht länger hinnehmen könne. Deshalb dürfte sich in Zukunft die NATO keiner anderen Organisation mehr unterordnen, erst Recht nicht der reformbedürftigen UNO. 

Das Gewaltmonopol der UNO? Die Beachtung des Völkerrechts? In der "Neuen Weltordnung" des "liberalen" Amerikas sind das Ladenhüter, die das Recht des Stärkeren auf unerträgliche Weise einschränken. Und da die Amerikaner nicht nur die Stärkeren, sondern auch die Guten sind, führen sie folgerichtig auch nur gute Kriege. Sie kämpfen und bombardieren immer nur für die Freiheit, für die Menschenrechte und für die freie Marktwirtschaft und den unbehinderten, weltweiten Zugang freier amerikanischer Konzerne zu Rohstoffen und Märkten. Ganz besonders aber setzen sie sich für die freie Entfaltung der Börsenspekulanten ein, indem sie mit großer Zähigkeit für den freien, unkontrollierten, internationalen Kapitalverkehr kämpfen. 

Da sich "Deutschland als Nicht-Nuklearmacht mit weltweiten Interessen nicht allein behaupten kann", so steht es seit 1992 in den "Verteidigungspolitischen Richtlinien" heißt, "gilt die Bündnisbindung an die Nuklear- und Seemächte in der Nordatlantischen Allianz". Deshalb  unterstützt die rot-grüne Regierung in Bonn fleißig die USA bei der Führung und Vorbereitung ihrer Menschenrechtskriege, besonders gegen Serbien, denn auch Deutschland beansprucht den Balkan als sein Interessensgebiet nicht erst seit gestern.

Allerdings gibt es in Serbien noch anachronistische Überbleibsel aus einer dunklen sozialistischen Zeit, die dem freiheitsliebenden, internationalen Kapital immer noch diktatorisch Schranken setzten. Auch sind die Serben ein widerspenstiges Volk, das die Vorzüge einer Besatzung durch NATO-Truppen einfach nicht einsehen will. Überhaupt gilt, dass Serbien auf dem Balkan das Haupthindernis für die Etablierung der neuen Weltordnung in dieser Region darstellt.

Hauptschuld trägt der mit großer Mehrheit demokratisch gewählte Diktator Milošević. Als Präsident Jugoslawiens betreibt er im Kosovo Völkermord an den doch so harmlos in die amerikanischen Kameras lächelnden, netten UÇK-Terroristen. Er verfolgt diese armen Gewaltseparatisten gnadenlos, nur weil die ihre serbischen Nachbarn und Sicherheitskräfte ermorden, die sie beschützen sollen. Dieser "neue Hitler" besitzt sogar die Frechheit, die Zahl der jugoslawischen Soldaten in der serbischen Provinz Kosovo noch zu erhöhen, obwohl ihm die USA und die NATO das strikt verboten haben. Der internationalen NATO-Völkergemeinschaft bleibt also nichts anderes übrig, als die Serben mit Bomben zu stoppen. 

An dieser Stelle wird allerdings von Seiten weltfremder Idealisten Kritik an den USA und ihrer NATO laut. Wenn man - so lautet der Vorwurf - überhaupt von "genozidartigen Verfolgungen" reden kann, dann fänden diese nicht im Kosovo statt, sondern in der Türkei, wo jüngst etwa 3.000 kurdische Dörfer zerstört und die Bevölkerung vertrieben wurde. Der Krieg in den kurdischen Gebieten habe bereits mehrere Zehntausend Tote gefordert. Gefangene werden systematisch gefoltert und die Menschenrechte mit Füßen getreten! Obwohl diese Angaben von unabhängigen Quellen bestätigt sind, ist es trotzdem ausgesprochen naiv und altmodisch, von der NATO zu verlangen, wegen der Kurdenverfolgung auch gegen die Türkei vorzugehen. Wer so argumentiert, der hat die moderne, von den USA dynamisch geführte Menschenrechtsdebatte überhaupt nicht verstanden. 

Die fundamentalen Rechte der US-amerikanischen und westeuropäischen Großunternehmen sind nämlich in der Türkei bestens gesichert. Seit Jahren hat sich kein westlicher Konzern oder Investmentbanker über die Freiheiten in der Türkei beschwert. Deshalb wird die NATO auch nicht Ankara, sondern Belgrad bombardieren.

Die bestechende Logik der US- und NATO-Menschenrechtskriege lässt sich am sehr gut am Beispiel der aktuellen Situation im Irak darlegen. Im andauernden amerikanisch-englischen Luftkrieg gegen die irakische Bevölkerung fallen täglich neue Bomben. Täglich steigt die Zahl der zerfetzten, unschuldigen Opfer, täglich sterben Kinder, weil Medikamente oder Lebensmittel fehlen. Letztere können nicht mehr beschafft werden, weil die USA das Programm der UNO "Irakisches Öl gegen Lebensmittel und Medikamente" zerbombt haben. US-Kampfjets, die angeblich nur die irakische Luftabwehr bekämpfen, zerstörten nämlich rein zufällig eine der beiden Pipelines, die im Rahmen eines UN-Abkommens eine begrenzte Menge Öl exportierten dürfen, um von dem Erlös Medizin und Lebensmittel zu importieren. 

Die täglich neuen Opfer des US-Bombenkrieges unter der irakischen Zivilbevölkerung haben für die westlichen Medien nicht den geringsten Nachrichtenwert. Man will unsere Politiker in der Ausübung ihrer schweren, aber notwendigen Entscheidungen nicht mit einem moralischen Dilemma behindern. Die Menschenrechtsexperten im amerikanischen und englischen Kriegsministerium sind sich nämlich mit ihren sozialdemokratischen und grünen Kollegen in Deutschland einig, dass die westliche Wertegemeinschaft hart bleiben muss und dass deshalb noch mehr Iraker sterben müssen, bis sie begriffen haben und das tun, was Washington von ihnen erwartet, nämlich sich gegen Saddam Hussein zu erheben und ihn davonzujagen. Nur so kann sich die irakische Bevölkerung von dem verbrecherischen Saddam Hussein befreien, und deshalb helfen ihnen die US-Bomber dabei. Wer glaubt, das sei ein Hirngespinst, der möge sich bitte in die politische Diskussion einlesen, die zu diesem Thema in den USA stattfindet. 

Erschwerend kommt im Irak jetzt hinzu, dass Saddam Hussein bereits Frankreich, Russland und China den Zugang zum irakischen Öl versprochen hat, sobald die UN-Sanktionen demnächst aufgehoben werden. Amerikanische und britische Konzerne hat Saddam allerdings ausdrücklich ausgeschlossen. Bei so viel verbrecherischer Energie muss Saddam erst recht weg, egal mit welchen Mitteln. Und notfalls muss die Bevölkerung in die Steinzeit zurück bombardiert werden, bis sie endlich begreift, was von ihr verlangt wird. Allerdings stellte selbst das konservative britische Wirtschaftsmagazin "The Economist" Anfang März 1999 verwundert die Frage nach dem Sinn dieser US-Politik. Den hat allerdings unser Grüner Außenminister Josef Fischer längst begriffen, denn er erklärte, er habe "vollstes Verständnis" für das Vorgehen der Amerikaner im Irak. 

Fischer - und mit ihm die Grünen - haben verstanden, dass man erst ein paar gute Kriege führen muss, um der Welt die Menschenrechte und den Frieden zu bringen. Diese realistische Einsicht in die Notwendigkeit macht Herr Fischers Größe aus. Denn es gehört schon allerhand Mut dazu, in einem solch atemberaubenden Tempo alle Prinzipien der Grünen "Friedenspartei" dem eigenen Machterhalt zu opfern. Aber Herr Fischer, der nun im Fall Jugoslawien ganz allein "über Krieg und Frieden entscheiden kann" (O-Ton Spiegel Interview Anfang März 1999), hat viel dazu gelernt, besonders wie man oben bleibt. Dazu gehört auch, dass die NATO als "größte Friedensorganisation" aller Zeiten die störrischen Serben bombardieren muss. Denn trotz aller NATO-Drohgebärden scheint Serbien weiterhin nicht gewillt, seine Souveränität kampflos aufzugeben. Wenn die NATO ihre Glaubwürdigkeit nicht dauerhaft in Frage gestellt sehen will, muss sie angreifen. 

So sind die Weichen für den Angriffskrieg gestellt. Rechtzeitig zum fünfzigjährigen Jubiläum der NATO-Gründung in Washington zeigt die nordatlantische Wertegemeinschaft ungeschminkt ihre hässliche Fratze. Bei den Feierlichkeiten in Washington soll auch das Neue Strategische Konzept der NATO verabschiedet werden: Beibehaltung der nuklearen Erstschlagoption, Selbstmandatierung und die Änderung des Artikels 5 der NATO-Charta dahingehend, das nicht mehr die territorialen Grenzen der Mitgliedsländer verteidigt werden, sondern statt dessen die weltweiten "Sicherheitsinteressen" der Mitgliedsländer. Damit lässt sich trefflich immer ein Kriegsgrund konstruieren. 

Natürlich will die NATO mit dieser neuen Strategie niemanden beunruhigen. Die Menschen müssen langsam daran gewöhnt werden. Folglich überrascht es nicht, wenn die Sprecher der NATO und der Regierung in Bonn (und bald wieder in Berlin) erklären, dass der selbstmandatierte NATO-Angriff auf Serbien, "einmalig" sein soll, also keineswegs als Präzedenzfall angesehen werden dürfe. Mit dem gleichen Brustton der Überzeugung erklärten die gleichen Herren vor nicht allzu langer Zeit, dass deutsche Soldaten niemals außerhalb der NATO-Grenzen kämpfen würden; und wegen der bekannten historischen Gründe erst Recht nicht in Serbien. Nun ist es aber bald soweit. Man mag über die Politik Miloševićs denken wie man will. Fakt bleibt, dass serbische Soldaten wieder ihre Heimat auch gegen deutsche Aggressoren verteidigen müssen. 

Wer die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht gesehen hat, hat einen Eindruck davon bekommen, wie im letzten Krieg in deutschem Namen auch in Serbien hunderttausendfach gemordet und geschändet wurde. Bei dem Gedanken, dass sich vielleicht auch die jungen serbischen Soldaten an diese Bilder und Geschichten erinnern, müsste es den deutschen Militärs, die jetzt ins Kosovo geschickt werden sollen, doppelt unwohl in ihrer Haut sein.

(JVA-Saarlouis den 22. März 1999, überarbeitet am 20. März 2019)

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