Nahost

Interview zu Protesten in Algerien: "Russland sollte sich hüten, Partei zu ergreifen"

Die derzeitige algerische Führung unter Präsident Bouteflika versucht, einen Ausweg zu finden, ohne ihre Macht und Privilegien zu verlieren. Jedoch könnte die Armee bald auf eine dritte Alternative drängen, erklärt der Nordafrika-Experte Youssef Cherif im RT-Interview.
Interview zu Protesten in Algerien: "Russland sollte sich hüten, Partei zu ergreifen"Quelle: Reuters

von Ali Özkök

RT Deutsch hat mit Youssef Cherif gesprochen. Er ist ein in Tunis ansässiger Akademiker und politischer Analyst, der sich auf geopolitische Entwicklungen in Nordafrika spezialisiert hat.Als Kommentator ist er regelmäßig für BBC, Al Jazeera und weitere bekannte Medien tätig.

Nach der Rückkehr aus der Schweiz will Abd al-Aziz Bouteflika nicht mehr an der Wahl teilnehmen. Macht er damit den Weg für einen politischen Wandel frei?

Die derzeitige algerische Führung versucht, einen Ausweg zu finden, ohne ihre Macht und Privilegien zu verlieren. Wir sprechen hier von Menschen aus Bouteflikas engstem Kreis, zu dem seine Familie und eine Reihe prominenter Persönlichkeiten aus den Bereichen Armee, Sicherheit, Politik und Wirtschaft gehören. Der "Trick", den sie fanden, besteht darin, die Aprilwahl abzusagen, eine neue Regierung aus Bouteflikas Vertrauten zu bilden und einen Ausschuss zur Änderung der Verfassung und zur Führung eines nationalen Dialogs zu ernennen. Dies ist jedoch ein zeitaufwendiger Prozess, der mindestens ein bis zwei Jahre dauern würde.

Aber wie erwartet haben sich die Demonstranten nicht beruhigt und fordern weiterhin den Abtritt von Bouteflika. Der eigentliche Machtfaktor Algeriens, die Armee, wird mit dem Clan von Bouteflika - oder auch gegen ihn - wahrscheinlich bald auf eine dritte Alternative drängen. Das wird auch den Rücktritt von Bouteflika bedeuten und zur Ernennung einer neuen Regierung mit einigen Oppositionellen führen.

Wenn dies jedoch geschehen sollte, müssen die ernannten Personen mit dem Militärapparat einverstanden sein und dürften seine Macht nicht anfechten, um von den Generälen akzeptiert zu werden. Die nächste Frage lautet: Werden die Hunderttausende von Jugendlichen, die in den Straßen Algeriens demonstrieren, diesen geordneten Übergang akzeptieren?

Während des so genannten arabischen Frühlings, als Staatsführer in Tunesien, Libyen und Ägypten gestürzt wurden, blieb Algerien weitgehend stabil. Warum war das möglich?

Tatsächlich gab es 2011 wichtige Demonstrationen, und die algerische Regierung reagierte mit einer Reihe von politischen Reformen sowie Finanzpaketen für verschiedene Bevölkerungsgruppen. Darüber hinaus hat Algerien in den letzten fünfzig Jahren eine Reihe von Umbrüchen erlebt, so dass es nie immun war. Das Land ist zwar reich, aber nicht jeder profitiert davon. Nehmen wir die Zahl der Algerier, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts nach Frankreich ausgewandert sind, zum Beispiel auf der Suche nach Arbeitsplätzen, die oft schlecht bezahlt werden und keine attraktiven Tätigkeiten bieten: Die Algerier sind nicht unbedingt glücklich.

Im Vergleich zu Libyen und Syrien blieb es dank der erwähnten Reformen - aber auch dank der gewaltfreien Reaktion der Regierung, ähnlich wie in Marokko - relativ ruhig. Aber die Frustration verflog nicht. Nun gibt es für die aktuelle Bewegung mehrere Aspekte, wie bei allen sozialen Bewegungen. Die oben beschriebenen sozioökonomischen Probleme erzeugen den anhaltenden Zorn. Aber die Frage der fünften Amtszeit des Präsidenten war der Funke. Außerdem will auch nicht jeder im algerischen Establishment diese fünfte Amtszeit, weshalb wir die Risse und Kritik auch innerhalb der Regierungspartei FLN beobachten können.

Gerüchten zufolge wurde Bouteflika bewusst in einem Krankenhaus in der Schweiz gehalten, um den politischen Übergang in der Heimat vorzubereiten. Was ist an solchen Vermutungen dran?

Dies mag die Gerüchte über einen kontrollierten Übergang erklären, wonach Bouteflika in Genf gehalten wurde, bis ein Ersatz gefunden wird. Tatsächlich geht es nicht nur um Bouteflika, sondern auch um die Clique um ihn herum. Im Inneren des Establishments findet ein Kampf der Clans statt. Aber selbst wenn dies geschehen sollte, das heißt, Bouteflika ausgegrenzt wurde, werden Menschen weiterhin auf die Straße gegen das Establishment ziehen.

Der algerische Armeechef forderte die Algerier auf, "eine Mauer gegen alles zu errichten, was Algerien unvorhersehbaren Bedrohungen aussetzen könnte". Was könnten diese sogenannten "unvorhersehbaren Bedrohungen" sein?

Was die "Bedrohungen" betrifft, so sind autoritäre Führer paranoid, wenn es um Verschwörungen geht. Die Algerier stehen da ganz oben auf der Liste. Es gibt immer die Angst, dass der Westen etwas gegen Algerien im Schilde führt. Das lässt sich zum Teil durch die koloniale Vergangenheit erklären, aber auch durch den grundlegenden Leitfaden des Autoritarismus.

Frankreich und Algerien sind historisch eng miteinander verbunden. Wie wirken sich der französische Einfluss und das koloniale Erbe auf die politischen Verhältnisse im Land aus?

Die politischen Führer Algeriens schicken ihre Kinder zum Studium und zur Arbeit nach Frankreich, sie zeigen tiefe und starke wirtschaftliche Bindungen zu Frankreich und Italien. Selbst wenn sie krank werden, gehen sie nach Europa. Daher sind die antiwestliche Rhetorik und die Bedrohung durch ausländische Interventionen heute von geringem Gewicht für die sich auflehnende Jugendbevölkerung, für die Antikolonialismus und sogar Anti-Terrorismus eine ferne Vergangenheit sind.

Andrerseits liegt es aufgrund der Angst Europas vor Migranten, Terrorismus und Energieverlusten im Interesse Europas, den Status quo in Algerien beizubehalten. Jede zukünftige algerische Führung wird enge Beziehungen zu Frankreich unterhalten.

Russland unterhält enge Beziehungen zu Algerien. Könnte ein politischer Übergang die bilateralen Beziehungen beeinflussen?

Russland muss sich davor hüten, jetzt Partei zu ergreifen, denn wenn eine radikale pro-westliche Bewegung die Macht übernimmt - noch unwahrscheinlich in diesem Moment - dann könnten viele Aufträge verloren gehen: Die russisch-algerischen Beziehungen beschränken sich auf Rüstung und Energie, sie sind nicht so tief wie die europäisch-algerischen Beziehungen und nicht so vielversprechend wie die chinesisch-algerischen. Wenn Russland die falsche Seite unterstützt, wird es der nächsten Regierung ein leichtes Spiel sein, Russland hinauszudrängen.

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