Nahost

Interview: Die Atheisten aus Damaskus – Allein in der Fremde

Yasser ist Flüchtling aus Damaskus. Was ihn von anderen Flüchtlingen unterscheidet, ist seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Atheisten. In der Fremde aber behalten sie ihre Ansichten lieber für sich, zu groß sind die Unterschiede zu anderen Geflüchteten. Ein RT-Deutsch-Interview.
Interview: Die Atheisten aus Damaskus – Allein in der Fremde Quelle: Reuters © Ammar Awad

Aus einem Facebook-Eintrag eines Syrers, der sich zu den Atheisten zählt: Nach Deutschland geflüchtet klagt er an, dass er sich in seiner Unterkunft unter Flüchtlingen verstecken und anpassen müsse. Sein Name verrät, dass er zu den syrischen Christen gehören müsste: 

Hi. In den letzten zwei Jahren habe ich mich an die Unterdrückung der Meinungsfreiheit gewöhnt. In Syrien musste ich das nicht. Ich spiele mit Worten. Ich sage zu den religiösen Menschen dieser verrückten Art "Gott segne Sie", "hoffentlich werden Sie zum Märtyer und treffen Ihre Geliebte" [...] Sie sind dumm und sie denken, ich bin einer von ihnen. "Der Friede sei mit Ihnen" sage ich in Deutschland, nie hätte ich das in Syrien gesagt. Ich fühle Angst, besonders im ersten Jahr hatte ich Panik, die ich vorher nicht kannte – na ja, vielleicht nur in der Türkei. 

Zu Beginn des Ausbruchs des Krieges in Syrien erblühte eine Strömung von Atheisten, die frei von Konventionen und gessellschaftlich-religiösen Korsetts leben wollte.

RT-Deutsch sprach mit einem von ihnen über den Nicht-Glauben in der Heimat und in Europa.  

Erzählen Sie unseren Lesern etwas über sich. 

Mein Name ist Yasser [Name von der Redaktion geändert], ich stamme aus Damaskus und lebe jetzt in einer schwedischen Kleinstadt. In Damaskus habe ich die Schule besucht und studiert. Anschließend arbeitete ich im Marketing und bei humanitären Projekten. 

Sie bezeichnen sich als Atheist. Was macht einen Atheisten ihrer Meinung nach aus? 

Ein Atheist ist eine Person, die nicht an die Existenz jedweder metaphysischer Form glaubt. Das beinhaltet den Glauben an einen Gott, an Engel, an spirituelle Existenzen. Um genau zu sein in Syrien [in der Gruppe der Atheisten] sind nicht alle Atheisten, einige sind Atheisten in meiner Gemeinschaft, andere sind einfach Leute, die nicht an Religion glauben und der Meinung sind, dass es etwas Höheres geben könnte. Manche haben kein Problem mit der Religion. Es gibt eine Vielzahl von Vorstellungen und Einstellungen. 

Wann wurden Sie zu einem Atheisten?

Auf dem gewöhnlichen Weg. Viele Leute werden es, wenn sie viel lesen, besonders über ihre eigene Religion – dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man Atheist wird. Es geht darum, über Religion zu lesen. Also werden sie Atheisten. Ich war nie eine sehr religiöse Person. Ich war einfach neugierig und las viel. Ich denke, es gibt eine Erklärung für die Sache mit der Religion, die historisch bedingt ist. Es war für mich nie eine Sorge, bis ich diese Freunde traf.

Wie genau traten Sie in Kontakt mit ihnen?

Im Jahr 2011 oder 2010 fügte mich jemand einer Facebook-Gruppe hinzu, die sich "privates syrisches atheistisches Netzwerk" nannte. Ein paar Monate später traf ich mich mit ihnen, sie hatten ein Treffen mit anderen vorbereitet. Die Krise in Syrien hatte begonnen, also – wie soll ich das erklären – es besteht eine Verbindung zwischen der Krise und der [Atheisten-]Bewegung. Viele von ihnen, vielleicht 60 Prozent, waren gegen die Regierung und waren der Meinung, dass diese den religiösen Gruppen half. Und natürlich denken viele auch, dass die Regierung das einzige Mittel ist, um das Land vor der islamistischen Gefahr zu bewahren. 

Ist das auch Ihre Meinung? Was denken Sie? 

Ich denke, beide haben irgendwie recht. Ja, das syrische Regime hat den islamischen Gruppen geholfen zu wachsen, aber gleichzeitig haben wir keine Alternative zur Regierung. Wenn das Regime weg ist, dann übernehmen die islamistischen Gruppen die Macht und das ist sehr gefährlich. Ich denke, politische Angelegenheiten sind sehr kontrovers. Meiner Meinung nach ist es gut, sich von politischen Angelegenheiten fernzuhalten. Das gelang uns. Wir hatten Erfolg damit. Ganz nach dem Motto: Wenn man mit uns [den Atheisten] ist, dann sollte es nicht um Politik gehen. 

Wie viele Atheisten gab es in Syrien? 

Vielleicht Zehntausende, wenn wir damit Atheisten, Agnostiker oder Nicht-Religiösen meinen. In meinem kleinen Kreis allein waren Zehntausende. Unsere Gruppe wuchs sehr schnell. Wir akzeptierten aber nicht alle als neue Mitglieder. Wir hatten Angst, dass einige von ihnen keine Atheisten sind oder keine angenehmen Leute. Wir wollten nur diejenigen, die gesellig und freundlich gesonnen sind. Die größte Gruppe von Atheisten nannte sich "Deine Religion ist dein Geist". 

Was bedeutete es, ein Atheist in Syrien zu Friedenszeiten und nach Ausbruch des Krieges zu sein?

In Damaskus habe ich mich darum nie gesorgt, manche Leute hatten Probleme. Man könnte auch sagen, es gab diese Strömung vorher, aber die Leute behielten es für sich. Nach dem Beginn der Krise wollten die Menschen eine Lösung finden, um sich abzugrenzen und klarzumachen, mit wem sie sind. Das ist sehr wichtig: Vor der Krise gab es in Syrien nicht wirklich soziale Medien. Es gab Facebook-Zugang nur über Proxys, aber mit der Krise erlaubte Assad Facebook. Das war der Beginn, als die Menschen anfingen, sich zu bekämpfen. Vielleicht besteht hier ein Zusammenhang. 

Manchmal ist es einfacher, für einen Atheisten Freund eines religiösen Christen zu sein, manchmal ist Gegenteiliges der Fall. Manchmal denken religiöse Christen und Moslems, dass man der Feind ist. Ich weiß von einem Fall aus Aleppo, als der IS kam und ein Atheist in Gefahr geriet. Aber generell ist es eine Bewegung im Untergrund. Des Öfteren gibt es Probleme in der eigenen Familie. Ein Freund wurde mal an einem Checkpoint aufgehalten, er hatte eine Bibel mit, die er aus Interesse las. Der Polizist verstand nicht, warum er, nachdem er zugeben musste, muslimischer Herkunft zu sein, eine Bibel las. Für ein paar Stunden nahm man ihn fest. 

Was wichtig ist in Bezug auf Syrien: In Syrien, denke ich, gibt es keine Statistik, die wirklich die Zahlen der Religionszügehörigkeiten belegt. Ungefähr 50 Prozent sind sunnitische Muslime, vielleicht ein wenig mehr. Dann hat man Minderheiten: Aluiten, Jeziden, Schiiten ... Und dann hat man Christen mit einer Vielzahl von Kirchen. Wir hatten einen Leitsatz: "Vertraue niemandem, der aus einer Minderheit stammt und sagt, dass er ein Atheist ist." Selbst diejenigen, die einen christlichen Hintergrund haben, haben gesellschaftliche Verpflichtungen. Sie leben nur unter sich. Sie sind gegen die religiöse Mehrheit, weil die Masse ihr Feind ist. Sie verbinden Identität mit Religion. Als Christ ist es aber einfacher, Freund eines Atheisten zu sein, als für einen Moslem. Also, es ist kompliziert. 

Gibt es viele syrische Atheisten in Schweden? 

Ich denke, die meisten jungen Leute bevorzugen Göteborg oder Stockholm. Es gibt viele in Stockholm im Moment. Da, wo ich jetzt bin, gibt es niemanden, der so denkt wie ich. Ein Großteil meiner Freunde ist jetzt in Deutschland. Ich stehe immer noch in Kontakt mit vielen Atheisten. Aber ich habe die Gruppe verlassen, weil sie zu extrem sind. Sie brachten die Probleme ihrer Gesellschaft mit. Für einige entwickelte sich der Atheismus hin zu einer neuen Religion, was falsch ist. 

Was ist anders in Schweden im Bezug auf Religion und Atheismus? 

Die Schweden sind anders. Sie sind viel entspannter mit Religion. Sie haben kein Problem damit, religiöse Ausdrücke und Wörter zu verwenden, nur weil sie einen religiösen Ursprung haben, wie etwa "Salam Aleikum". Syrische Atheisten fühlen sich unwohl dabei. Sehr extrem, vielleicht weil sie sich nicht frei ausdrücken können. Da haben die Homosexuellen und die Atheisten etwas gemeinsam. In Schweden ist es ihnen egal, wer du bist. Aber man kann die intellektuellen Syrer nicht mit den Schweden vergleichen. Ich habe bisher keine intellektuellen Schweden getroffen. 

In Deutschland haben wir die nie endende Debatte, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht. Meiner Meinung nach ein völlig falscher Ansatz. Es kann doch alles zu einem Land gehören, solang es die Freiheit einer anderen Person nicht einschränkt. 

Ja, das sehe ich auch so, es ist völlig falsch, die deutsche Gesellschaft als islamisch oder nicht islamisch zu definieren. Ich wünsche mir nur ein normales Leben mit Möglichkeiten. Dieses Wort existiert nicht im Arabischen. 

Wir bedanken uns für das Gespräch und wünschen Ihnen alles Gute für die Zukunft. Das Interview führte RT-Deutsch-Reporterin Olga Banach. 

RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

 

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