Russland

Die Krim, fünf Jahre danach: Reise in die ‚Neuen Bundesländer‘ Russlands – Die "Stadt des Ruhmes"

Ein halbes Jahrzehnt gehört die Krim nun zur Russischen Föderation. Und der geopolitische Streit ist nach wie vor virulent: Von "Annexion" bis "Wiedervereinigung" reichen die Kampfbegriffe. Grund genug, hinzufahren und sich vor Ort selbst ein Bild zu machen.
Die Krim, fünf Jahre danach: Reise in die ‚Neuen Bundesländer‘ Russlands – Die "Stadt des Ruhmes"Quelle: Reuters

von Paul Loewe 

(Die vorherigen Teile können Sie hier, hier und hier nachlesen.)

"In Sewastopol musst Du unbedingt vier Tage bleiben! Mindestens!", hatte Anna, mein russischer Schutzengel auf der Krim, mir in Simferopol noch dringend ans Herz gelegt, als wir meine Reiseroute durch Russlands ‚Neue Bundesländer‘ näher planten. Innerlich war ich distanziert geblieben: Was soll an einer Stadt mit einem großen Marinehafen schon besonders sehenswert sein? Einmal im Leben war ich in Wilhelmshaven gewesen – das hatte mir gereicht! 

Heldenstadt am Wasser 

Aber weit gefehlt: Die Heldenstadt im äußersten Südwesten der Halbinsel, die man von Jalta aus mit dem Bus erreicht, ist ein sowjetischer Traum! Man kann ja gegen den stalinistischen Klassizismus sagen, was man will – hier in Sewastopol, im II. Weltkrieg nahezu vollständig zerstört, wirkt diese Architektur verblüffend stimmig. Hell reflektieren die weißgestrichenen Gebäude am Primorski Boulevard das Sonnenlicht, das sich seinerseits im Wasser bricht. Und wenn die Abendsonne in der Mitte der gigantischen Eingangsbucht langsam untergeht und Meer, Hafeneinfahrt und Promenaden dunkelrot erglühen, dann strahlt die russischste Stadt der Krim in einem fast italienischen Flair! Die Stadt ist voller Buchten und von Buchten in den Buchten. Und immer wieder eröffnen die vielen Parks, von denen die Stadt durchzogen ist, einen neuen Blick auf Wasser, Schiffe und Hafenanlagen. 

Sewastopol (griechisch: "Stadt des Ruhmes"), das lerne ich schnell, ist doppelt traumatisiert. Zweimal wurde die Stadt monatelang belagert, zweimal wurde sie trotz zähen Widerstands schließlich eingenommen und fast völlig zerstört. Es waren nicht nur die 248 Tage Belagerung durch die Wehrmacht dieses zur stärksten Festung des II. Weltkriegs ausgebauten Marinestützpunktes. Nach wie vor ist hier auch die 349 Tage währende Belagerung durch englische, französische, sardische und türkische Truppen während des Krim-Krieges 1854-55, des ersten modernen Stellungskrieges, im historischen Gedächtnis präsent.

Und so wird man hier, nicht zuletzt auf Denkmälern, auch immer wieder mit Namen konfrontiert, die man in anderen Städten des postsowjetischen Raumes vergeblich sucht: Fjodor Uschakow, Admiral und Gründer der Schwarzmeerflotte, Pawel Nachimow, Flottenadmiral und Verteidiger der Stadt während der Belagerung 1854, und auch ein Deutscher ist darunter: General Eduard von Totleben, der für die Errichtung der Verteidigungsanlagen verantwortlich war. Wer einen Eindruck vom damaligen Gemetzel erhalten will, dem sei die Rotunde am Historischen Boulevard im Süden des Stadtzentrums mit ihrem 115 Meter langen und 14 Meter hohen Panoramabild – während des II. Weltkriegs stark beschädigt und von 1951 bis 1954 detailgetreu rekonstruiert – empfohlen. 

Als Heimathafen der sowjetischen Schwarzmeerflotte war Sewastopol zu Zeiten der UdSSR eine geschlossene Stadt, in die auch die Bewohner der Krim nur mit einem Passierschein einreisen konnten. Erst im Jahre 1994 wurde die Stadt durch einen Ukas des damaligen Krimpräsidenten für die Bewohner der Krim und später für alle Bürger der Ukraine sowie für Touristen geöffnet. Zu Zeiten der Ukraine unterlag die Stadt einem Sonderstatus und unterstand direkt der Kiewer Zentralverwaltung. 2010 wurde der Pachtvertrag zwischen der Ukraine und Russland für die nun russische Schwarzmeerflotte, der 2017 ausgelaufen wäre, von den Präsidenten Janukowitsch und Medwedew bis 2042 verlängert – ein Vertrag, der mit dem Beitritt der Krim zur Russischen Föderation im März 2014 obsolet geworden ist. 

Osternacht und ein wiedergefundenes Smartphone 

Osternacht in Sewastopol. Wer hier am orthodoxen Karsamstag gegen 23:00 Uhr die Kirche betreten will, muss, wie an einem Flughafen, zunächst eine Sicherheitsschleuse passieren. Das gilt auch für die gläubigen Babuschkas, die in ihren Körben Ostereier und Kulitsch – den russischen Osterkuchen aus Hefeteig – zum Segnen mitgebracht haben. Nach den islamistischen Anschlägen auf christliche Kirchen in Sri Lanka eine Woche zuvor eine verständliche Maßnahme. Die russische Polizei, mit mehreren Beamten die ganze Nacht vor Ort, passt auf – und ich fühle mich beschützt! Eine orthodoxe Osternacht dauert mehrere Stunden und erfordert, im wahrsten Sinne des Wortes, Stehvermögen. Nach zwei Stunden gebe ich erschöpft auf – voller Bewunderung für die russischen Babuschkas, die viel länger durchhalten als der degenerierte Deutsche! 

Chersones, die Relikte der griechischen Stadt aus dem fünften Jahrhundert vor Christus, westlich des heutigen Sewastopol und ebenfalls an einer der zahlreichen Buchten gelegen, heute ein Freilichtmuseum. Hier verliere ich irgendwo in den Ruinen einer spätantiken Basilika mein iPhone – und erhalte es einen Tag später postwendend zurück! Ein ehrlicher Finder hatte es zur nächsten Polizeistation gebracht, wo man – das stelle ich später fest – anhand meiner letzten Anrufe solange recherchierte, bis man schließlich einen Freund von mir in Moskau ausfindig gemacht hatte, der mir per Mail die Frohe Osterbotschaft von meinem wiedergefundenen Handy vermittelte.

„Erzählen Sie bei Ihnen zuhause, wie gut hier mittlerweile alles funktioniert!“, trägt mir der Polizeibeamte mit einem freundlichen Grinsen auf, während er mir stolz mein für immer verloren geglaubtes Smartphone überreicht. Als Soldat der Sowjetarmee war er mehrere Jahre in Magdeburg stationiert und hat gute Erinnerungen an diese Zeit. Finderlohn will er auf keinen Fall annehmen. 

Was auch hier in Sewastopol immer wieder auffällt: die Ruhe in dieser Stadt bereits am späteren Abend! Zwar versammeln sich vor Sonnenuntergang an der Hafenpromenade, besonders in der Eingangsbucht vor dem bekannten Denkmal für die während des Krimkrieges versenkten russischen Schiffe zahlreiche Menschen, um das beeindruckende Schauspiel zu genießen, zwar spielen fast immer um diese Zeit in den angrenzenden Parkanlagen russische Rockbands – wie in Jalta ist jedoch abends schon gegen 22:00 Uhr kaum noch jemand auf den Beinen, und das nicht nur an Werk-, sondern auch an Sonn- und Feiertagen. Vielleicht liegt es ja an der Vorsaison! (Dass Touristen aus dem westlichen Ausland auch hier fehlen, dafür hat sich mein Blick mittlerweile geschärft.)

Allerdings ist es meinem Gefühl nach keine Grabesruhe, sondern eine entspannte Ruhe, die diese Stadt durchzieht – ähnlich wie die Gelassenheit der auffallend höflichen Autofahrer, die fast alle von sich aus stoppen, wenn ich mal wieder einen der breiten Boulevards an einer Stelle überqueren will, wo es keinen Zebrastreifen gibt. Ein rücksichtsvolles Verhalten, das mir so bislang in anderen Städten des postsowjetischen Raums nur selten begegnet ist! 

„Das beste Mittel gegen Nationalismus ist Reisen!“

Balaklawa, die tiefe Bucht am Schwarzen Meer circa 18 Kilometer südlich des Stadtzentrums mit den Ruinen einer Genueser Festung aus dem 14. Jahrhundert. Wie viele Orte auf der Krim hat sie eine bewegte Geschichte hinter sich, die bis in die Antike zurückreicht. Während des Krimkrieges spielte sie eine bedeutende logistische Rolle: Engländer verlegten von diesem Stützpunkt aus ein Schienennetz zur Sicherstellung des Nachschubs an die Front. Von englischen Architekten stammt auch die wunderschöne Uferpromenade, die sie ‚Klein-London‘ nannten. Heute ein beliebter Urlaubsort für etwas betuchtere – meist russische – Touristen. 

In einem Restaurant komme ich mit einer jungen Frau aus Moskau ins Gespräch. Auch sie erzählt mir von der Begeisterung, mit der die meisten Menschen auf der Krim vor fünf Jahren für die ‚Wiedervereinigung mit Russland‘ gestimmt hätten. Auf die neuen Spannungen zwischen dem Westen und Russland angesprochen, meint sie, im Gegensatz zu den Zeiten des Kalten Krieges würden sich die Menschen beider Seiten heute viel besser kennen. „Das beste Mittel gegen Nationalismus ist Reisen!“ Allerdings hätten viele ihrer Altersgenossen Angst vor einem neuen ‚Eisernen Vorhang‘. „Sie fürchten, dass uns das Reisen wieder verboten werden könnte! Einige halten das nun beschlossene ‚Souveräne Internet‘ für den ersten Vorboten". Gerade deshalb, antworte ich, sei es so wichtig, dass beide Seiten – wie von Russland seit Jahren angeregt – endlich Visafreiheit vereinbaren würden. Der Kontakt zwischen den Menschen dürfe gerade jetzt nicht abreißen!

Der „Aufbau Süd“ 

Während einer Busfahrt nach Bachtschissarai, die 50 Kilometer nordöstlich von Sewastopol in den Bergen gelegene ehemalige Hauptstadt der Krimtataren mit dem berühmten Khan-Palast, fallen mir immer wieder Straßenarbeiten auf: Manche Straßen werden verbreitert, einige Abschnitte komplett neu gebaut, bisweilen stehen Autobahnbrücken noch ohne Verbindung einsam in der Landschaft herum. Hier wird an der geplanten 300 Kilometer langen vierspurigen Taurusautobahn, der „Tavrida“, gebaut, die ab Ende 2020 die an der Passage zum Asowschen Meer gelegene Stadt Kertsch – und damit über die neuerrichtete Auto- und Eisenbahnbrücke das russische Festland – mit Simferopol und Sewastopol verbinden wird. Die Kosten sollen mittlerweile bei umgerechnet etwa zwei Milliarden Euro liegen. Moskau, das ist unübersehbar, investiert massiv in die Infrastruktur von Russlands ‚Neuen Bundesländern‘. 

Und dazu gehören auch Maßnahmen zur Sicherstellung der Wasser-, Gas- und Stromversorgung. Wasser: Für die von der Landwirtschaft dringend benötigte Bewässerung größerer Flächen wurden artesische Brunnen gebohrt und drei Stauseen gebaut. Zusätzlich soll vom russischen Festland aus eine Wasserleitung durch die Straße von Kertsch zur Halbinsel gelegt werden. Gas: Im Dezember 2016 wurde die 400 Kilometer lange Gaspipeline „Krasnodar-Krim“ in Betrieb genommen.

Strom: Um die seit Jahresbeginn 2016 von der Ukraine komplett eingestellte Stromlieferung, die 2013 noch 80 Prozent der Elektrizitätsversorgung der Krim ausgemacht hatte, zu kompensieren, wurden als „Energiebrücke“ Seekabel ebenfalls von Krasnodar zur Krim verlegt, die sich 2016 auf eine Gesamtkapazität von 800 Megawatt beliefen. Neuinstallierte mobile Gasturbinenkraftwerke lieferten 2017 weitere fast 300 Megawatt. Zusammen mit den bereits zuvor vorhandenen Anlagen kann der Energiebedarf der Krim mittlerweile abgedeckt werden. Allerdings kommt es immer mal wieder zu Betriebsstörungen. 

Die Frage aller Fragen: Wie wird‘s finanziert? Zusätzlich zu den erheblichen Investitionen zur Verbesserung der Infrastruktur für den „Aufschwung Süd“ zahlt Russland, will sagen: der russische Steuerzahler, ja zum Beispiel jetzt auch noch die Renten der Krimbewohner. Und da die Staatsausgaben, wie überall auf der Welt, auch in Russland ein Nullsummenspiel sind und ein „Solidaritätszuschlag“ für den „Aufbau Süd“ ja nicht erhoben wurde, wird das in die Krim investierte Geld nun anderen Projekten im Staatshaushalt fehlen. So wurden Haushaltsmittel der Krim zur Verfügung gestellt, die ursprünglich für andere Regionen wie den Nordkaukasus und den Fernen Osten vorgesehen waren. Wird es daher früher oder später auch in Russland, wie bei uns nach der Wiedervereinigung, zu Verteilungskämpfen zwischen den unterschiedlichen Regionen kommen? 

Nach anderthalb Wochen Arkadien geht es wieder zurück zum Dreh- und Angelpunkt der Halbinsel, nach Simferopol, wo mich noch ein Abenteuer der besonderen Art erwartet.

(Fortsetzung folgt)

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