Russland

1941/42: Massensterben in der Lüneburger Heide - "Sie aßen die Rinde der Bäume"

In den Lagern für sowjetische Kriegsgefangene kam es im Winter 1941/42 zu einem Massensterben. Eines der Opfer war Leutnant Sergej Fedosejewitsch Schewtschenko. Hier der Bericht seines Leidensweges.
1941/42: Massensterben in der Lüneburger Heide - "Sie aßen die Rinde der Bäume"Quelle: www.globallookpress.com © Scherl

von Ulrich Heyden, Moskau

Oktober 1941. Vor Moskau tobt der Krieg. Die Hitler-Wehrmacht will die russische Hauptstadt einnehmen. Die noch schlecht organisierte Rote Armee hat Probleme, eine feste Verteidigungslinie zu schaffen, um Moskau vor der Einnahme durch den Feind zu schützen. In der Roten Armee kommt es zu ungeheuerlichen Verlusten. Im Kessel von Wjasma, südwestlich von Moskau, starben vom 2. bis zum 13. Oktober mehr als 380.000 Rotarmisten. 600.000 sowjetische Soldaten gerieten in Gefangenschaft.

Einer derjenigen, die in Gefangenschaft gerieten, war  Leutnant Sergej Fedosejewitsch Schewtschenko.  Am 24. Juni 1941, zwei Tage nach dem Überfall der Hitler-Wehrmacht auf die Sowjetunion, wurde der Soldat zur Roten Armee eingezogen. Anfang Oktober war er mit seiner Einheit im Dorf Milatino stationiert. Das Dorf liegt im Kaluga-Gebiet, zwei Autostunden südwestlich von Moskau.

"Ich bin durch den Krieg verroht"

Am 1. Oktober 1941 schrieb der damals 30 Jahre alte Sergej den letzten Brief, der seine Frau Maria Iwanowna Solowjowa erreichte. "Wie soll ich Euch meine tiefe Liebe ausdrücken, von dem langen, brutalen Weg des Krieges, wo ich im Feuer der Waffen vorzeitig verroht bin? Ich kann keine passenden Worte finden." Dieser Brief war das letzte Lebenszeichen, das Maria Iwanowna von ihrem Mann erhielt. Für die beiden Söhne Tolik und Lalik, die 1941 zwei und drei Jahre alt waren, hatte der Vater auf den Brief extra kleine Pilze und Igel gezeichnet. Den Brief haben die Frau des Soldaten und seine Mutter immer wieder gelesen. Durch die Tränen wurde er mit der Zeit unleserlich.

Ich bin mit der Familie Schewtschenko gut bekannt, so konnte ich das Schicksal des verschollenen sowjetischen Leutnants Sergej Fedosejewitsch rekonstruieren. Er wurde 1911 in der Nähe von Kiew geboren. Sein Vater war Rechtsanwalt. Seine Mutter nähte Kleidung für wohlhabende Leute.

Sergej beendete ein Studium am Institut für Landwirtschaft in der Stadt Mitschurinsk, südöstlich von Moskau. Warum er die Ukraine verließ und in die Nähe von Moskau übersiedelte, ist nicht überliefert. Aber es ist wohl so wie in Deutschland. Einmal weit entfernt von dem gewohnten Umfeld zu leben, ist für viele Studenten ein schönes Erlebnis.

In Mitschurinsk lernte Sergej seine spätere Frau Maria Iwanowna kennen. Sie war acht Jahre jünger und lebte in einem Dorf. In Mitschurinsk besuchte sie Kurse über Buchhaltung. Sergej und Maria heirateten. Nach der Ausbildung wurde die Familie zur Arbeit in die Sowchose "Krasnoje" (Die Rote) geschickt, die ebenfalls südöstlich von Moskau liegt.

Auf der Sowchose befand sich eine Apfelplantage. Maria Iwanowna bezeichnete das Leben an diesem Ort später immer wieder als die schönste Zeit in ihrem Leben. Besonders gerne erinnerte sie sich an den Geruch der Apfelsorte "Karitschnoje" (Die Braunen).

Evakuierung von Frau und Kind

Sergej arbeitete noch auf einer anderen Sowchose, nahe der südlich von Moskau gelegenen Stadt Tula. Von dort wurde er am 24. Juni 1941, zwei Tage nach Kriegsbeginn, eingezogen. Seine Frau Maria wurde mit den beiden Söhnen, Anatoli und Leonid, in Richtung der südöstlich von Moskau gelegenen Stadt Rjasan evakuiert.

Sergej war am 1. Oktober im Dorf Milatino im Kaluga-Gebiet stationiert. 1942 erfuhr Maria von einem Kommandeur, dass Sergej nach dem 1. Oktober zur weiter westlich stationierten 33. Armee abkommandiert wurde.

Nach dem Krieg bekam Maria von einem Kommandeur die schriftliche Auskunft, dass Sergej gefallen war. Nur aufgrund dieser Bescheinigung bekam die Frau des Soldaten eine Rente für ihre beiden Kinder.

Maria Iwanowna gehörte zu den Millionen von sowjetischen Frauen, die oft jahrzehntelang nach ihren Männern suchten. 4,5 Millionen Sowjetsoldaten waren verschollen oder kehrten nicht aus der Gefangenschaft zurück. Um den Hinterbliebenen zu helfen, gab es in der Sowjetunion Radio- und Fernsehsendungen mit Titeln wie "Ich warte auf Dich". Mithilfe dieser Sendungen wurde bis in den hintersten Winkeln des großen Landes nach vermissten Soldaten gesucht.

Maria wartete Jahrzehnte auf ihren Sergej

Maria heiratete kein zweites Mal. Sie hatte auch kein Liebesverhältnis, wie ihre Enkel berichten, obwohl sie eine schöne Frau war. Ihre langen hellbraunen Haare trug sie zusammengebunden in einem Dutt. Maria wartete auf ihren Sergej. Sie wollte zumindest wissen, wo er gestorben war.

Eine betrübte Frau war sie trotz allem nicht. Sie war lebenslustig, nähte und stickte gern. Geld gab es wenig, denn sie musste ihre beiden Kinder allein ernähren.

Im Jahr 2000 verstarb Maria Iwanowna im Alter von 80 Jahren. 18 Jahre nach ihrem Tod gab es ein Wunder. Ein Enkel von Sergej Fedosejewitsch, der zu Ehren des Großvaters den Namen Sergej bekam, stieß im Internet auf eine Spur. Auf einer neu eingerichteten Seite des Verteidigungsministeriums (https://pamyat-naroda.ru/), auf der Angehörige nach verschollenen Soldaten und nach deren  Dokumenten suchen können, fand der Enkel eine Erfassungskarte seines verschollenen Großvaters.

Die Karte war im Lager für sowjetische Kriegsgefangene in Oerbke, einem Dorf in der Lüneburger Heide, ausgestellt worden. Auf der Karte stand auch, wann und wo der Soldat Sergej Fedosejewitsch gefangen genommen worden war: am 4. Oktober in der südwestlich von Moskau gelegenen Stadt Mosalsk. Der Enkel erinnert sich an seine Suche im Internet:

"Ich habe schon lange immer mal wieder auf diese Webseite geguckt, aber nichts gefunden. Ein paar Tage vor meinem Geburtstag am 13. September (der Enkel Sergej hat am gleichen Tag Geburtstag wie sein Großvater) habe ich nochmal nachgeguckt. Und siehe da, ich habe die Erfassungskarte meines Großvaters aus dem Kriegsgefangenenlager in Deutschland gefunden. Man hatte wohl neue Dokumente auf die Seite gestellt. Das war wie ein Schock. Ich war erstaunt und zufrieden."

Ich frage Sergej, was Maria Iwanowna, die Frau des verschollenen Soldaten, wohl gesagt hätte, wenn sie von der Erfassungskarte aus Deutschland gehört hätte. Sergej antwortet:

"Ich glaube, es ist besser, dass sie es nicht mehr erfahren hat. Sonst hätte sie den Tod ihres Mannes noch einmal erlitten."

Wie Vieh ohne ein Dach über dem Kopf

Der Leidensweg von Sergej Fedosejewitsch war lang. Man brachte den Soldaten – vermutlich in einem Güterzug mit Tausenden sowjetischen Soldaten – mit einem Zwischenstopp in Minsk ins Deutsche Reich, genauer gesagt in das Dorf Oerbke. In dem niedersächsischen Dorf befand sich das Stammlager Stalag XI D 321. Es war eines von mehreren Lagern für Kriegsgefangene aus der Sowjetunion in Niedersachsen. 

Am 23. Oktober 1941 traf der Kriegsgefangene Sergej Fedosejewitsch im Lager Oerbke ein. Die Gefangenen – insgesamt wurden in Oerbke 30.000 sowjetische Soldaten interniert – wurden mit deutscher Gründlichkeit registriert. Auf der Erfassungskarte von Sergej Fedosejewitsch steht "gesund". In dem Feld "Staatsangehörigkeit" steht "Russe Ukrainer". Rechts oben auf der Erfassungskarte steht in fetten Ziffern Sergejs Lagernummer "19811".

In dem Lager wurden die Kriegsgefangenen wie Vieh unter freiem Himmel gehalten, eingezäunt von Stacheldraht. Baracken, geschweige denn Häuser für die Gefangenen gab es nicht.

Wie Überlebende berichteten, gruben sich die Gefangenen mit ihrem Essgeschirr Erdhöhlen, um sich vor der Kälte zu schützen. Im Herbst 1941 grassierte in dem Lager Fleckfieber, wodurch 90 Prozent der Gefangenen starben. Ein Deutscher, der zum Wachpersonal des Lagers gehörte, erinnert sich, dass die Gefangenen die Rinde von den Bäumen aßen.

Ein Opfer dieses durch Faschisten erzwungenen Massenmordes wurde auch Sergej. "Am 24. Januar 1942 im Lager verstorben" steht in schöner, geschwungener deutscher Schrift auf der Erfassungskarte von Sergej. Diese Erfassungskarte hat nie eine Träne gesehen und wohl nicht mal ein Gefühl von Mitleid. Über die Umstände des Todes von Sergej weiß seine Familie bis heute nichts. Es gibt in Deutschland offenbar auch keine staatliche Einrichtung, die das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen erforscht.

Jedes Jahr wird in Oerbke den Ermordeten gedacht

Nach dem Sieg über Hitler-Deutschland entstand auf dem Friedhof der sowjetischen Kriegsgefangenen – man schätzt dass in Oerbke 14.000 sowjetische Soldaten starben – auf Initiative der sowjetischen Militärmission ein kleines Mahnmal mit Hammer und Sichel. Es wurde von dem Kiewer Bildhauer Mykola Muchin geschaffen. Auf dem Mahnmal war eine Tafel angebracht, auf der stand:

"Ihr seid gestorben, aber wir Zeugen leben, wir werden uns das ganze Leben an die Folter der Henker erinnern, und unserem großen Volk werden wir von der Wut der Menschen erzählen, die durch die Faschisten gequält wurden."

Anfang der 1960er-Jahre wurde der Friedhof neu konzipiert. Das sowjetische Mahnmal mit den vor Wut bebenden Worten verschwand zugunsten einer modernen, flammenähnlichen Skulptur.

Doch die Geschichte bleibt nicht stehen. Seit 2007 gibt es in Oerbke eine schöne Tradition. Lehrer und Schüler des nahegelegenen Gymnasiums Bad Fallingbostel und Mitglieder der Gruppe "Weg der Erinnerung" fertigen Tontafeln mit Namen der im Kriegsgefangenenlager verstorbenen Soldaten aus der Sowjetunion an.

Jedes Jahr im November, am Buß- und Bettag, werden neue Tafeln aus Ton auf den Friedhof gebracht und dort an Stelen befestigt. Die Zeremonie beginnt mit einem Marsch von dem Bahnhof in Fallingbostel, an dem die Kriegsgefangenen ankamen, und endet an dem Mahnmal. Die Schüler lesen über Mikrofon die Namen der verstorbenen Soldaten vor.

Auch in diesem Jahr wird es wieder so eine Gedenkzeremonie gaben. Es ist ein wichtiges Zeichen der Trauer und des Friedens in einer Zeit, in der ein neuer Krieg möglich scheint.

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