Russland

Der Spiegel und Chodorkowski spekulieren über Russlands Zukunft "nach Putin"

Wer ist gefährlicher für die Welt(un)ordnung, Putin oder Trump? Für Michail Chodorkowski, Putins einstigen Rivalen, ist die Antwort klar: Der Kreml ist nicht nur gefährlich, sondern auch kriminell. 300 Gäste in Hamburg hörten ihm gebannt zu.
Der Spiegel und Chodorkowski spekulieren über Russlands Zukunft "nach Putin"© Körber-Stiftung/Claudia Höhne

von Wladislaw Sankin

Die Veranstaltungsreihe "Neue Weltunordnung" der Körber-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Spiegel sieht Podiumsdiskussionen mit hochkarätigen Experten vor einem interessierten Publikum vor. Die Sitzungen finden im Herzen des vornehmsten Viertels in der Hamburger Speicherstadt statt und werden live übertragen.

Diese Woche war der in London ansässige russische Emigrant Michail Chodorkowski an der Reihe, er sollte in Hamburg seine Sicht auf Russland und seinen Präsidenten mitteilen. In der Vormoderation hieß es, er sei seinerzeit "womöglich der reichste Mann Russlands" und später der "prominenteste russische Lagerinsasse" gewesen. Er habe Russland  zu seiner Zeit wesentlich mitgeprägt.

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Was die Gastgeber ausgelassen haben, ist der Fakt, dass gegen ihn auch jetzt noch in Russland wegen der mutmaßlichen Einfädelung eines Auftragmordes ermittelt wird und dass seine Person in der Heimat höchst umstritten ist. Letzteren Umstand räumten die Veranstalter jedoch indirekt ein, indem sie im Grußwort sagten, dass die Russen sich an die Zeit der 1990er-Jahre – den Zerfall der Sowjetunion und die Anfangsjahre des neuen Russlands als Zeiten der Armut und des Chaos – mit Schrecken erinnern.

Diese Zeit verkörpert Michail Chodorkowski wie kein anderer, denn genau damals hat er sein sagenhaftes Vermögen von geschätzten 20 Milliarden Dollar gemacht und politische Ambitionen gehegt. Es ist aber fraglich, ob dieser Widerspruch jemandem aufgefallen ist. Chodorkowski wurde mit allen Ehren empfangen, seine leise und bedächtig vorgetragenen Aussagen belohnte das Publikum mehrmals mit Applaus. Danach stand er fast noch eine Stunde in einer Menschentraube, und die Zuhörer hingen ihm weiterhin an den Lippen. Chodorkowski, der mit seinem verbliebenen Vermögen von geschätzten 500 Millionen Dollar (2016) die politische Stiftung "Offenes Russland" betreibt, ist im Westen so etwas wie ein Politguru.

Und es ist klar, warum. Während der ersten Amtszeit von Wladimir Putin unterstützte Chodorkowski mehrere Oppositionsparteien, kaufte sich in die Medien ein und baute seinen Einfluss in den Regionen aus. Er plante auch den Verkauf von bis zu 40 Prozent seines Ölunternehmens an die US-amerikanische Öl-Riesen Exxon Mobile und Chevrron. Die Deal sollte 15 Millionen Dollar umfassen. Ihm werden auch Gespräche mit damaligen US-Amerikanischen Vertretern wie Condoleezza Rice nachgesagt, wonach er im Falle einer Machtübernahme der von ihm unterstützten Kräfte in Russland eine "Entnuklearisierung" Russlands geplant habe. Für diese Maßnahme hätten die Russen 160 Milliarden Dollar bekommen sollen.

Chodorkowski bestritt später, solche Pläne gehegt zu haben. Unbestritten ist jedoch, dass er im Jahr 2003 der politisch aktivste Vertreter von Kompradoreneliten war und zusammen mit anderen Oligarchen die Rückkehr Russlands zu einer Republik mit einer schwachen Präsidialmacht plante. Der im Jahr 2002 gegründete Rat für nationale Strategie nannte diese Prozesse in einer Denkschrift im Frühling 2003 "Oligargischer Umsturz". Wladimir Putin, der Kurs auf nationale Souveränität nahm, sah im umtriebigen und klugen Milliardär eine unmittelbare Gefahr für sich und das politische System, das er in Russland errichtete. Einer der beiden musste weichen.

Damit stehen Putin und Chodorkowski schon seit zwei Jahrzehnten sinnbildlich für zwei verschiedene Modelle der russischen Entwicklung – eines des Ausverkaufs an den Westen und eines der Eigenständigkeit und Souveränität. Chodorkowski als einen unvoreingenommenen Analysten darzustellen, käme in diesem Zusammenhang fast einer Täuschung gleich. Außerdem ist die Causa Chodorkowski eine durchaus deutsche Angelegenheit. Es waren die Deutschen um den Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher, die sich für seine Freilassung einsetzten. Seine erste Pressekonferenz nach der Freilassung fand im Deutschen Mauermuseum statt. Der Hype um seine Person im Westen ist enorm.

Russland, dessen Boden der 54-Jährige bereits seit 15 Jahren in Freiheit nicht mehr betreten hat, ist für ihn ein Land, dessen Bevölkerung am Stockholm-Syndrom leidet. Im Land werde alles von einem tiefen Staat geleitet, der hauptsächlich aus Geheimdiensten bestehe und wie ein Krimineller handele. Putin interessiere sich nicht für die Leute und werde nach seinem Abgang einen ruinierten Haushalt hinterlassen.

Ich hoffe, ich werde in diesem Moment zu alt dafür sein, seine Hinterlassenschaft ausmisten zu müssen", kokettierte Chodorkowski.

Und wahrscheinlich, um im Falle des Falles weniger "ausmisten" zu müssen, machte der Ex-Ölmagnat dem Westen jede Menge Vorschläge. So warnte er die Deutschen vor dem Projekt Nord Stream 2, das der deutschen Wirtschaft durch einen Preisvorteil 17 Milliarden Euro jährlich sichern, aber auf der anderen Seite durch den Zerfall der EU, den Deutschland mit Nord Stream 2 riskiere, wegen des Wegfalls von Absatzmärkten Hunderte Milliarden Euro kosten könnte. Und man dürfe nicht vergessen, dass 50 oder gar 70 Cent von jedem Euro, den die Deutschen für Gas bezahlen, "in die Taschen des Kremls" flössen.

Der Westen geht bei Putin von der fehlerhaften Grundannahme Putins aus, er sei ein Staatslenker wie jeder andere. Aber er ist autoritär. Er stammt aus den Geheimdiensten, die über eine kriminelle Mentalität verfügen. Mit einer 'Win-Win'-Situation kann er nichts anfangen. Er bereitet Ihnen ein künstliches Problem, indem er ihnen etwas wegnimmt, und danach redet er mit Ihnen", analysierte Michail Chodorkowski.

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Er ist nicht der einzige Urheber dieser Putin-Theorie. Der westliche Medienmainstream arbeitet bald schon seit zwei Jahrzehnten an diesem Image. Die Angst vor Putin oder genauer gesagt, die Angst davor, falsch ihm gegenüber aufzutreten, sitzt tief. Bezeichnend war die Frage der Spiegel-Frau Britta Sandberg an Chodorkowski, ob Kanzlerin Merkel gut beraten wäre, zum WM-Finale nach Moskau zu fahren, und was für ein Signal es wäre, wenn sie führe. Der Atem der Zuhörer schien während seiner Antwort besonders lange angehalten zu sein.

Der letzte Ratschlag an den Westen, den Chodorkowski seinen Zuhörern an diesem Abend gab, war, in Bezug auf Russland nicht in einer "Beobachterrolle zu verharren" und aktiv mit "Regionen, regionalen Eliten und der Zivilgesellschaft" zu arbeiten.

Nicht alles, was Michail Chodorkowski während seines Hamburger Abends gesagt hat, war politische Propaganda, es gab auch interessante Anmerkungen, beispielsweise zum Generationswechsel, der laut ihm in Russland unabhängig von der Politik stattfindet. Aber dem Anspruch, eine Expertise zur "Neuen Weltunordnung" zu liefern, wurde die Veranstaltung nicht gerecht, denn beim traditionellen Fokus auf des Westens "liebsten Feind", den im März wiedergewählten russischen Präsidenten Wladimir Putin, fehlte es wieder am Kontext in dem der abwesende Protagonist Putin agiert. Damit war es wieder eine Ein-Mann-Show, die in einem Vakuum aus wohlwollenden, selbstlosen und von den eigenen Werten überzeugten westlichen Akteuren abgeliefert wurde.

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