Russland

Im angeblichen Dopingfall um Kamila Walijewa passt einiges einfach nicht zusammen

Auf dem Weg zu den Olympischen Winterspielen in Peking, hätte man es Kamila Walijewa verziehen, sollte sie angenommen haben, dass ihre größten Gegner ihre Rivalen auf dem Eis sein würden. Die Nachricht, dass Walijewa positiv auf eine verbotene Substanz getestet wurde, wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten liefert.
Im angeblichen Dopingfall um Kamila Walijewa passt einiges einfach nicht zusammenQuelle: Sputnik © Alexander Vilf

Eine Analyse von Liam Tyler

Für Kamila Walijewa, die während der ganzen Saison auf dem Eis absolut dominierte, sah es danach aus, als würde sie in Peking den Einzeltitel der Damen gewinnen, nachdem sie sich in den vergangenen Monaten bereits die europäische und die russische Krone erkämpft hatte und sich mit einer Glanzleistung eine Goldmedaille für das Olympische Team (ROC) beim Teamwettkampf im Eiskunstlauf hatte sichern können. Doch wie wir heute wissen, steht die 15-Jährige für ihren weiteren Erfolg in Peking weitaus größerem Widerstand gegenüber als nur jenen ihrer Eiskunstlauf-Konkurrentinnen.

Beklemmende Spekulationen

Die Internationale Test-Agentur (ITA) verkündete am Freitag, dass Walijewa bereits im vergangenen Dezember positiv auf eine verbotene Substanz getestet worden war, bei einem Test unter den russischen Teilnehmern eines internationalen Wettbewerbs. Die Nachricht beendete zumindest einige der beklemmenden Spekulationen, die Walijewa umgeben hatten. Seit der Ankündigung vom vergangenen Dienstag, dass die Medaillenzeremonie für den Eiskunstlauf-Teamwettkampf verschoben wird, hatte sich das allgemeine Gemurmel in ein unaufhörliches Dröhnen verwandelt, das fast alles andere übertönte, was mit dem ROC-Team in Peking vor sich ging. In gewisser Weise ist es fast eine Gnade, dass wir jetzt einige Fakten kennen.

Als Grund, weshalb die ITA Walijewa in ihrer Ankündigung namentlich als die fragliche Athletin benannt hatte, nannte sie die Berichte in russischen Medien und anderswo, dass die 15-jährige Eiskunstläuferin im Zentrum einer "rechtlichen Angelegenheit" stehe, mit der sich das Internationale Olympische Komitee (IOC) befasste. Dass Walijewa namentlich genannt wurde, sei der ITA durch die Umstände aufgezwungen worden, "weil einige Medien ihr keinen Schutz und keine Unschuldsvermutung gewährten und bloß auf der Grundlage inoffizieller Informationen berichteten".

Das trifft zu: Ein Großteil der Medienreaktionen – unter geringer Beachtung ihres Status als Minderjährige – ist ein besonders unappetitlicher Aspekt dieser Saga. Man könnte argumentieren, dass wir zumindest jetzt eine offizielle Version der Ereignisse haben, die ordentlich in eine Zeitleiste der ITA eingebunden ist.

Die positive Probe Walijewas stammt vom 25. Dezember, als sie von der russischen Anti-Doping-Agentur (RUSADA), auf ihrem Weg zum russischen Titelgewinn in Sankt Petersburg getestet worden war. Die Dopingprobe wurde zur Analyse an ein von der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) akkreditiertes Labor in Stockholm geschickt, da Russland derzeit keine WADA-Zulassung für ein eigenes Labor hat. Dort ergab die Auswertung der Probe Spuren der verbotenen Substanz Trimetazidin – eines Medikaments zur Behandlung von Angina pectoris und Brustschmerzen.

Anschließend – und wir werden später noch auf diesen Punkt zurückkommen – wurde das Ergebnis der Analyse am 8. Februar den zuständigen Funktionären in Peking gemeldet, während russische Funktionäre vom 7. Februar sprachen. RUSADA wurde informiert und Walijewa mit sofortiger Wirkung vorläufig suspendiert. Das junge Talent legte jedoch am 9. Februar beim unabhängigen disziplinarischen Anti-Doping-Ausschuss von RUSADA erfolgreich Berufung gegen diesen Entscheid ein – was ihr die Freiheit gab, vor ihrem geplanten Auftritt beim Eiskunstlauf-Einzelwettbewerb der Damen, der am Dienstag beginnt, in Peking zu trainieren.

Das Problem ist, dass Walijewa, um an diesem Tag auf dem Eis anzutreten, eine ganze Reihe rechtlicher Hindernisse überwinden muss, bevor sie überhaupt daran denken kann, einen ihrer typischen kunstvollen Sprünge zu landen. Die großen Geschütze des IOC, der WADA und der Internationalen Eislaufunion (ISU) schlossen sich alle in der Absicht zusammen, Berufung einzulegen und die Aufhebung der Suspendierung Walijewas wieder rückgängig zu machen. Wenn sie sich damit beim Internationalen Sportgerichtshof (CAS) durchsetzen können, werden wir Walijewa in Peking wahrscheinlich nicht wieder auf dem Eis sehen.

Verzögerungen bei Dopingtests

Die rechtlichen Fronten sind klar gezogen, und Walijewa wird vom ROC, dem russischen Sportministerium und dem russischen Eiskunstlaufverband unterstützt – sowie von Millionen Menschen in ihrem Heimatland. Aber während es jetzt den Juristen überlassen ist, scheinen bei näherer Betrachtung bereits einige Dinge einer Überprüfung nicht standzuhalten.

Der wichtigste Aspekt ist die Zeit, die das WADA-Labor in Schweden verstreichen ließ, um den positiven Test zu melden. Warum hat man, wenn die Probe bereits am 25. Dezember entnommen wurde, erst mehr als sechs Wochen später von positivem Ergebnis erfahren – und zwar nachdem Walijewa bereits die Goldmedaille für das ROC-Team erkämpft hatte?

Das ist eine eklatante Diskrepanz, die der ROC-Chef Stanislaw Posdnjakow nicht übersah. Den Medien in Peking sagte er: 

"In Übereinstimmung mit den internationalen Standards für Labors der WADA beträgt die Frist für eine A-Probe 20 Tage ab dem Moment, in dem die Dopingprobe im Labor eingegangen ist. Es sieht sehr seltsam aus, dass es fast einen Monat dauerte, bis die Dopingprobe aus Sankt Petersburg in Stockholm eintraf. Das wirft für mich sehr ernste Fragen auf. Es scheint, als habe jemand diese Dopingprobe bis zum Ende des Teamwettkampfs zurückgehalten."

Auf den ersten Blick ist es eine legitime Frage, die nach einer Antwort schreit – und eine, auf die eine RUSADA-Erklärung am Freitag nur einen kleinen Einblick bot. Laut russischen Anti-Doping-Funktionären verzögerten sich ihre Kollegen im schwedischen Labor aufgrund von Problemen und Einschränkungen im Zusammenhang mit COVID-19. Okay, das ist verständlich. Aber werden wir auch eine Bestätigung dafür erhalten, dass auch andere Ergebnisse verzögert wurden, oder war es nur jene Walijewas?

Als Nächstes ein paar Fragen zum positiven Test selbst.

Wie kam das Trimetazidin in Walijewas Körper? Können ihre Trainer und Ärzte dazu Einblicke geben, und sind sie in gewisser Weise mitverantwortlich, wenn auch vielleicht unbeabsichtigt? Zum letzten Punkt sollte man anmerken, dass RUSADA dies untersucht.

Gibt es eine alternative Erklärung? Möglicherweise in Zusammenhang mit dem 2018 herausgegebenen Hinweis durch die WADA, der besagt, dass Trimetazidin in Urinproben als falsch positiv für Lomerizin auftreten könnte, ein zugelassenes Medikament gegen Migräne?

Wie wäre es mit einer B-Probe? Wie kann man die Behauptung des ROC erklären, dass Walijewa sowohl vor als auch nach der positiven Probe vom 25. Dezember wiederholt negative Dopingtests abgab – einschließlich während der Spiele in Peking?

Vonseiten des CAS müsste man die Gründe für die Entscheidung des Disziplinarausschusses analysieren, die Suspendierung Walijewas vorläufig aufzuheben, damit sie die Freiheit hat, in Peking zu trainieren und an Wettkämpfen teilzunehmen, während das Verfahren noch läuft. Da muss doch ein Grund dahinterstecken, der sicher nicht unerheblich ist.

Wenn man das Gesamtbild betrachtet: Würde irgendjemand in Russland wirklich absichtlich die beste Aussicht auf eine Goldmedaille in Peking dopen, wenn man weiß, dass die Augen der Welt auf die gesamte russische Mannschaft gerichtet sind?

ROC-Athleten gehören zu den am meisten getesteten Athleten bei diesen Spielen, genau, wie das auch in Tokio der Fall war. Walijewa ist der Konkurrenz bereits um Schulter und Kopf überlegen, also warum sollte sie etwas zu sich nehmen, das, was einige bereits bemängelt haben, gar nicht auf der WADA-Liste stehen sollte – angesichts fragwürdiger Vorteile, die diese Substanz mit sich bringen würde, nicht zuletzt in einer Sportart wie Eiskunstlauf?

Voreilige Schlüsse ziehen

Nichtsdestotrotz scheint die feste Überzeugung einiger im Westen zu sein, dass diese ganze Angelegenheit ein absichtliches Komplott war. Die Tatsache, dass sich die US-Anti-Doping-Funktionäre der USADA sofort auf die Sache gestürzt haben, war vorhersehbar und doch beunruhigend. Es scheint unter ihnen den verzweifelten Wunsch zu geben, die Russen durch eine Justiz unter dem Gesetz zu verfolgen, das im Namen von Grigori Rodschenkow ausgeheckt wurde – dem zwielichtigen Arzt, der Anschuldigungen über angebliches staatlich gefördertes russisches Doping ausplauderte, damit er in den USA Asyl bekommt. Wir erinnern uns, Rodschenkow versteckt sich weiterhin in den USA und wurde in seiner Heimat Russland in Abwesenheit wegen Amtsmissbrauch angeklagt.

Der Affäre wird genutzt, um ein ganzes Bündel von Vorwürfen gegen Russland zu packen: Seht her, wie sie junge Sportler behandeln! Seht her, wie das System sie zerkaut und dann ausspuckt, ohne Rücksicht auf die Folgen! Seht her, was Jahre des systematischen Betrugs geschaffen haben!

Alles in allem bietet der Skandal um Walijewa eine gute Gelegenheit, Russland erneut anzuprangern, just gerade als die Nation auf das Ende ihres WADA-Bann im kommenden Dezember zusteuerte, wenn die russische Flagge und Hymne endlich zurückkehren kann, um die russischen Athleten bei großen internationalen Sportveranstaltungen zu begleiten.

Das eigentliche Problem ist jedoch, dass sich schnell ein Narrativ bildet, bevor wir die Antworten auf einige sehr große Fragen haben – nicht zuletzt von den Leuten, die versuchen, Walijewa aus dem Wettbewerb in Peking zu drängen. In vielerlei Hinsicht hat die Ankündigung vom Freitag viel mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet – und nicht unbedingt für die Menschen in Russland.

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