Trotz westlicher "Warnungen": Große Mehrheit der Russen unterstützt Verfassungsänderung

Seit Wochen wird die russische Verfassungsänderung im Westen mit Argwohn und Häme betrachtet. Demnach geht es Putin nur darum, seine Macht auszubauen. Diese Perspektive verkennt die Hintergründe des Prozesses und vor allem auch die Mündigkeit der russischen Bürger.
Trotz westlicher "Warnungen": Große Mehrheit der Russen unterstützt VerfassungsänderungQuelle: Reuters © Alexei Druzhinin

von Bryan MacDonald

Am 1. Juli fand in Russland die Abstimmung über eine Verfassungsreform statt. Dabei waren die Wähler dazu aufgerufen, über ein ganzes Paket von Änderungen in mehreren Bereichen abzustimmen. Dazu zählten Russlands Souveränität, Staatssystem, Sozialschutz, Familienrecht, Umweltschutz, Bildung, Sprache und Kultur.

Russlands Präsident Wladimir Putin, so die transatlantische Lesart der Vorgänge, habe den Prozess lediglich angestoßen, um bis ins Jahr 2035 an der Macht bleiben zu können. In Wirklichkeit ging es um sehr viel mehr. Laut der zentralen Wahlkommission Russlands gaben am Ende über 70 Prozent der wahlberechtigten Bürger Russlands ihre Stimme ab und unterstützten damit das Vorhaben einer Verfassungsänderung in insgesamt 206 Punkten.

Sogar sogenannte "liberale politische Organisatoren" in Moskau räumten nach der Abstimmung ein, dass die russische Hauptstadt nach eigenen Umfragen die Vorschläge Putins mit großer Mehrheit unterstützt habe. Darüber hinaus zeigte das Abstimmungsergebnis, dass eine Mehrheit der Wahlberechtigten in zahlreichen Moskauer Bezirken mit von der Opposition kontrollierten Gemeinderäten die "Ja"-Seite unterstützt hatte.

Was viele westliche Kommentatoren des Prozesses (von einigen transatlantischen Medien fälschlicherweise als "Referendum" bezeichnet) zu erwähnen vergessen, ist die Tatsache, dass die Abstimmung in dieser Form überhaupt nicht unbedingt notwendig gewesen wäre. Die Unterstützung, die Putin bereits im Frühjahr von der Duma (dem russischen Parlament), dem Verfassungsgericht und allen 85 Föderationssubjekten erhielt, hätte bereits ausgereicht, um die Änderungen durchzusetzen.

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Präsident Putin beschloss jedoch, ein "bestätigendes Plebiszit" durchzuführen, um eine breite öffentliche Legitimation für das Projekt Verfassungsänderung zu erhalten. Bei der Abstimmung selbst ging es also vor allem darum festzustellen, ob Putin noch ein Mandat des Volkes für seine Politik besitzt.

Einer der westlichen Lieblinge der russischen Politik, der in Russland selbst nicht sonderlich beliebte "Oppositionspolitiker" und Blogger Alexei Nawalny, bezeichnete die bislang bestehende Verfassung als "ekelhaft". Sie enthalte "Mechanismen zur Usurpation der Macht". Seine Anhänger forderte er daher auf,  diese "nicht zu verteidigen".

Für Kritiker der "Verfassungskampagne" dürfte es interessant sein zu erfahren, dass die bisherige Verfassung aus dem Jahr 1993 stammt, als der damalige Präsident Boris Jelzin diese – mit maßgeblicher "Unterstützung" seiner westlichen Partner – einführte. Das Ergebnis war die Schaffung eines als "hyperpräsidial" bezeichneten Systems. Das Amt des Präsidenten wurde mit einer gewaltigen Machtfülle ausgestattet – Jelzin galt schließlich als guter Freund des Westens.

Infolgedessen kam es zum Versuch des kommunistisch kontrollierten Parlaments, den allzu "prowestlichen" Präsidenten seines Amtes zu entheben. Jelzin griff auf das Militär zurück, um sich an der Macht zu halten. Dabei wurden 187 Menschen getötet und 437 verwundet.

Doch zurück zum Prozess der Verfassungsänderung. Am Mittwochabend war eine Protestveranstaltung in der Moskauer Innenstadt derart schlecht besucht und halbherzig organisiert, dass die Polizei sich die Freiheit nahm, mit Blick auf COVID-19 Mund- und Nasenschutzmasken unter den Demonstranten zu verteilen. Eine Handvoll Dissidenten, die sich ohne Erlaubnis auf dem Roten Platz versammelt hatte, wurde festgenommen und anschließend rasch wieder freigelassen.

Das entspricht kaum dem vor allem in westlichen Medien gezeichneten Bild eines repressiven russischen Staatsapparats, der jeglichen Widerstand brutal niederknüppeln lässt, um die eigenen Ziele rücksichtslos durchzusetzen.

Die russische Opposition lehnte zwar den Plan ab, Putins Amtszeitbeschränkungen aufzuheben, doch dem standen etliche populäre Maßnahmen gegenüber, die ungleich schwerer zu bekämpfen waren, ohne große Teile der Wählerschaft zu verprellen: So zum Beispiel das Verbot für Beamte, ausländische Bankkonten zu führen und eine ausländische Staatsbürgerschaft zu besitzen, das Verbot, russisches Territorium zu verschenken, und die vorgesehene Garantie dafür, dass der Mindestlohn nicht unter den Lebenshaltungskosten liegen darf.

Und ob es einem gefällt oder nicht, viele Russen stimmten auch der Klausel zu, dass die Ehe ausschließlich zwischen Mann und Frau geschlossen werden kann. Zudem stimmte die Mehrheit der Russen ebenfalls dafür, die Russische Föderation als Nachfolgerin der UdSSR anzuerkennen und somit auch das Erbe als Siegerin im Zweiten Weltkrieg zu bewahren.

Doch transatlantische Kommentatoren haben noch ein weiteres Problem: Umfragen haben durchweg gezeigt, dass eine Mehrheit der Russen befürwortet, dass Putin auch nach den Wahlen 2024 an der Macht bleiben kann. Für Beobachter in Berlin, London und Washington ist das eine Schreckensvision, für die Mehrheit der Russen hingegen Ausdruck ihres Willens. Im Gegensatz etwa zu Jelzin gilt Putin vielen Russen als Garant für Stabilität und eine pragmatische Politik. Die Sanktionen gegen Russland werden zudem vielerorts eher als Ausdruck der Angst vor einem gesunden und selbstbewussten Russland gesehen denn als Zeichen einer verantwortungslosen Politik Putins.

Erst im vergangenen Sommer meldete das westlich orientierte russische Meinungsforschungsinstitut Lewada, dass 54 Prozent der Russen Putin mindestens bis 2030 an der Macht sehen wollen. Nur 38 Prozent wollten demnach, dass er in vier Jahren die Macht abgibt. Das mag der transatlantischen Gemeinschaft nicht gefallen, dennoch ist es russische Realität.

Die westliche Medienberichterstattung über den Änderungsprozess kann wohlwollend als ziemlich bizarr bezeichnet werden, da sie sich fast ausschließlich auf die Frage der zeitlichen Machtbegrenzung Putins konzentriert. Währenddessen ignorierte man größtenteils die Tatsache, dass die große Mehrheit der Russen seine Politik nach wie vor eindeutig unterstützt. Gerne schreibt man dies der Manipulation durch das russische "Staatsfernsehen" zu, als seien die Russen keine mündigen Bürger, die sich durchaus auch im Internet über das innen- und außenpolitische Geschehen informieren.

Sosehr sich westliche Medienerzeugnisse auch darum bemühen, ein anderes Bild zu zeichnen: Russland ist keine Diktatur, und Putin ist kein Diktator. Punkt. Das politische "System Putin" kann als weich-autoritär bezeichnet werden. Man ist auf die Legitimation durch die Bevölkerungsmehrheit angewiesen, um an der Macht zu bleiben. Die Bestimmungen in der neuen Verfassung – vor allem die Begrenzung der Amtszeit künftiger Präsidenten und die Immunität nach dem Ausscheiden aus dem Amt – deuten ebenfalls darauf hin, dass der Präsident an einer Form der repräsentativen Regierung festhalten will.

Der Kreml versucht eindeutig nicht, den chinesischen oder sowjetischen Weg einzuschlagen, aber er will auch nicht die vermeintlich "liberale Demokratie" westlicher Prägung übernehmen. So wie Russland selbst sowohl Teil Europas als Asiens ist, so werden auch seine Regierungsstruktur und Abstimmungsverfahren einzigartig bleiben.

Dennoch ist es angebracht, davon auszugehen, dass die endlosen Schlagzeilen der westlichen Medien, in denen der bevorstehende Zusammenbruch des "Systems Putin" vorhergesagt wird, nicht abreißen werden. Seit über 20 Jahren liegen sie mit ihren Prophezeiungen daneben, und daran wird sich womöglich auch in den kommenden 20 Jahren nicht viel ändern.

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