Russland

Moskaus geheime COVID-Arznei für Elite: Des Westens liebsten Russlandgurus neue Verschwörungstheorie

Qualitätsmedien des Wertewestens zitieren, wenn es um Russland geht, gern Stimmen von den Rändern der russischen Gesellschaft, solange es nur der Agenda dient. Einer, Waleri Solowei, hat sich nun wie einst Napoleon erneut selbst gekrönt – aber mit dem goldenen Aluhut.
Moskaus geheime COVID-Arznei für Elite: Des Westens liebsten Russlandgurus neue VerschwörungstheorieQuelle: Sputnik © Anton Denisow

Von Bryan MacDonald 

In der Regel nutzen westliche Journalisten, die über Russland berichten – sei es aus Notwendigkeit oder mit Absicht – oft Aussagen von Sprechern von den absoluten Rändern der russischen Gesellschaft, um ihren Berichterstattungsagenden gerecht zu werden. Eine der am häufigsten zitierten Stimmen dürfte diese Woche ziemlich sicher über den Hai gesprungen sein.

Eine Handvoll russischer "Experten" rahmen das Narrativ in den US-amerikanischen und britischen Medien passend ein. Zu den Meistzitierten gehören Tatjana Stanowaja vom Carnegie Center (einer US-Denkfabrik, die von George Soros, den Regierungen der USA und Großbritanniens sowie der EU finanziert wird), Gleb Pawlowski (ein 2011 entlassener ehemaliger Berater und politischer Stratege von Wladimir Putin) und Waleri Solowei, einst Professor an der angesehenen Moskauer MGiMO-Universität.

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Lässt man Stanowaja (durchaus vernunftbegabt, wenn auch etwas eintönig) und Pawlowski (so weit über sein Verfallsdatum hinaus, dass er schon den Status eines  politischen Museumsstücks beanspruchen darf) beiseite, ist vor allem unverständlich, wieso Solowei weiterhin Sprachplattformen gewährt werden. Der Akademiker ist ein Verschwörungstheoretiker im Stil von David Icke, der Alex Jones und Rachel Maddow perfekt ausgewogen erscheinen lässt.

(Waleri Solowei wird mit Vorliebe auch von den deutschsprachigen Mainstreammedien bemüht – hier und hier Ergebnisse von Suchanfragen inklusive Artikeln zum Beispiel von Spiegel, taz und NWZ. Anm. d. Red.)

Am Dienstag offenbarte er den Hörern des liberalen Radiosenders Echo Moskwy, dass die russische Regierung ein geheimes Medikament zur Heilung von COVID-19 besitze, das aber nur wenigen Auserwählten vorbehalten sei. Das russische Segment des Internets übt sich diesbezüglich in Sarkasmus. Ein Beispiel:

Waleri Solowei erzählte auf Sendung bei "Echo", dass schon ein Heilmittel gegen das Coronavirus verfügbar sei – nur verabreicht wird es nicht allen. Sie gaben es Kadyrow und einigen anderen. Aber Mischustin gab man es zum Beispiel nicht.

"Der Virologe Solowei,

Durchaus kein Schmuckstück von der Stange ..."

In der Sendung verwies Solowei auf Berichte über den Zustand Ramsan Kadyrows. Einige russische Medien hatten angedeutet, dass der tschetschenische Politiker zur Behandlung nach Moskau geflogen worden sei, weil er Symptome von COVID-19 aufwies.

"In Moskau gaben sie ihm ein Medikament – es gibt ein sehr wirksames Medikament gegen COVID-19, extrem wirksam. Einige wenige Menschen haben es bereits bekommen, Menschen, die dem Kreml und Herrn Putin sehr nahe stehen", erklärte er. "Übrigens hat Premierminister (Michail) Mischustin dieses Medikament nicht bekommen. Dieses Medikament heilte in zwei bis drei Tagen alle Symptome von COVID-19."

In Soloweis La-La-Land

Im Grunde behauptete Solowei allen Ernstes, dass der Kreml ein Heilmittel gegen COVID-19 gefunden hat und es vor der ganzen Welt geheim hält. Mehr noch: Putin sei offenbar bereit gewesen, das Risiko einzugehen, dass sein eigener Premierminister und vermutlich auch sein Pressesekretär Dmitri Peskow an der Krankheit sterben. Dafür habe er beschlossen, sich selbst, den Präsidenten der Autonomen Republik Tschetschenien und einige andere zu retten. Sowohl Peskow als auch Mischustin wurden in den letzten Wochen ins Krankenhaus eingeliefert.

Solowei hält Putin also nicht nur für eine Art Soziopathen mit Hang zum Heilmittelhorten, der das erlösende Elixier für sich selbst behält, während weltweit Zehntausende von Menschen sterben und Volkswirtschaften verwüstet werden – auch die russische. Er glaubt auch ohne jeden Zweifel, dass der russische Präsident keine Vorstellung vom kommerziellen Wert hat. Könnten Sie sich nur vorstellen, wie viel Geld Russland im Moment mit der Massenproduktion eines Mittels gegen COVID-19 verdienen könnte?

Nehmen wir an, der Kreml würde eine angemessene Summe von 100 Euro pro Dosis verlangen, und jedes fortgeschrittene Land der Welt würde genug davon zusammenkaufen, um die Hälfte seiner Bevölkerung zu versorgen. Das wären 16 Milliarden Euro allein von den USA. Dazu kämen weitere 22 Milliarden Euro von der Europäischen Union, weitere 35 Milliarden Euro ließe China sich das Mittel kosten. Bei diesem Tempo könnte Putin die Welt retten und einen 100 Milliarden Euro schweren Modernisierungs- und Ausbauschub der heimischen Infrastruktur in Gang setzen, der im In- und Ausland seine Beliebtheit in neue, ungeahnte Höhen katapultieren würde.

Aber nein, laut Solowei verbringt Putin den Frühling lieber in seiner Residenz außerhalb Moskaus, während Arbeitslosigkeit und Unzufriedenheit auch in Russland zunehmen – und sogar die Parade am 9. Mai zur Feier des 75. Jahrestages des Sieges der Sowjetunion über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg verschoben werden musste. Von der nationalen Abstimmung über die Änderung der Verfassung im April ganz zu schweigen.

Offensichtlich ist Solowei ein Spinner und ein Irrer. Aber er gehörte zweifellos zu den Stimmen in Russland, die in den letzten Jahren am häufigsten von britischen und US-amerikanischen Journalisten angefragt wurden. Damit offenbaren sich einmal mehr die unglaublich niedrigen Standards westlicher Medien bei der Berichterstattung über das größte Land der Welt mit schmerzhafter Klarheit: Sie manifestieren sich in unfähigen, agendahörigen Gurus, die von meist agendahörigen, nutzlosen Schreiberlingen zitiert werden – und der Leser konsumiert unwissentlich einen absurden Cocktail aus wiedergekäutem Gefasel.

Ehrliche Berichterstattung?

Im Februar warnte Solowei, Russland habe vor, in Weißrussland einzumarschieren – und stellte sogar einen Zeitplan ("innerhalb weniger Tage") auf. Ein sehr stiller Einmarsch, scheint es im Rückblick.

Zuvor stellte er im vergangenen Sommer die verrückte Vorhersage auf, dass Moskauer Straßenproteste Putin stürzen werden. Es blieb bei kleinen Veranstaltungen – nicht einmal annähernd so groß wie ähnliche Demonstrationen in den Jahren 2011 und 2012.

Anfang letzten Jahres sagte er voraus, dass das russische "System zusammenbrechen wird. Die Schlüsselphase der Krise wird wenige Tage in Anspruch nehmen: Tage, die Russland in Schock versetzen und die Welt in Mitleidenschaft ziehen werden". Dies teilte ein Korrespondent der BBC in Moskau seiner Twitter-Gefolgschaft mit.

Im Jahr 2016 sagte Solowei voraus, Putin werde aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten, und spannte seine Jünger mit der Zusatzankündigung auf die Folter, dass "die Wahrheit" bis Dezember desselben Jahres ans Licht kommen werde. Die US-amerikanischen und britischen Medien berichteten pflichtbewusst darüber, und die Daily Mail – Großbritanniens meistverkaufte Zeitung – behandelte die Prophezeiung als Tatsache. Auch hier erwiesen sich die Gerüchte um Putins Rücktritt als leicht übertrieben.

Drei Jahre davor, im Jahr 2013, öffnete Solowei dem geneigten Leser die Augen darüber, dass Putins System "degeneriert" ist und "weggefegt" werden wird – nur 13 Monate vor dem Höhenflug seiner Umfragewerte (über 80 Prozent) über die Beliebtheit des Präsidenten nach der Wiedereingliederung der Krim in die Russische Föderation.

Seinen bisherigen potenziellen Rekord der Lächerlichkeit stellte er jedoch 2017 auf, als der Moskauer Korrespondent des Independent behauptete, er habe einen "Knüller" darüber, "wie Putin letztes Jahr beinahe abgetreten wäre – und warum Russland in einer akuten politischen Krise steckt". Seine wichtigste namentlich genannte Quelle war, wie könnte es auch anders sein, Waleri Solowei. Oliver Carroll verkündete seinen Lesern, Russland befinde sich "am Rande einer Ära".

"Das letzte Mal, dass ich mich so gefühlt habe, war in den letzten Tagen der Sowjetunion", zitierte er Solowei wörtlich. "Und beunruhigenderweise sagen mir die Leute, die damals dabei waren, dass sie genau dasselbe fühlen." Um den Cocktail noch mit einer spritzigen Note Ballaballa vollends zu verfeinern, wurde in diesem schrecklichen Stück Journalismus auch der gute alte Pawlowski bemüht.

Solowei ist keine verlässliche Quelle. Er ist ein Verschwörungstheoretiker. Westliche Journalisten in Moskau wissen das schon lange, doch sie bewarben weiterhin seinen Guru-Kult, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Werden sie ihn nach seiner jüngsten Glanzleistung weiterhin zitieren? Oder ist dies der Moment, in dem der verrückte Professor endlich ausgemustert wird?

Natürlich könnten sie hoffen, dass Solowei Recht behält und Putin wirklich ein geheimes Heilmittel gegen COVID-19 hat. Die Chancen dafür stehen ungefähr so gut wie dafür, dass der HSV deutscher Meister wird – im Boxen.

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Aus dem Englischen übersetzt. RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Anmerkung der Redaktion: Im Artikel werden Auftritte von Waleri Solowei in den englischsprachigen Medien thematisiert. Der Ex-Professor wird auch gerne in deutschen Medien zitiert. In einem Galileo-Beitrag "Nur 3500 Fälle? Lügt Russland in der Corona-Krise?" vor zwei Monaten erzählt er etwa von einem geheimen Bericht der russischen Regierung mit einer höheren Anzahl an COVID-19-Toten in Russland. "Ich habe den Bericht nicht gesehen, aber ein Beamter hat mir die Daten daraus mitgeteilt", sagte Solowei. Am 16. März stufte die russische Staatsanwaltschaft Behauptungen Soloweis über geheim gehaltene Zahlen an COVID-19-Toten und Corona-Infizierten in Russland als "die Öffentlichkeit irreführende Information" ein.

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