Russland

Eine Flucht ins Unbekannte – Interview mit damals 16-jährigem Flugzeugentführer

In den zwei letzten Jahrzehnten der Sowjetunion häuften sich Fälle von Flugzeugentführungen dramatisch. Der wohl jüngste Teilnehmer einer solchen Entführung, der damals 16-jährige Konstantin Schatochin, gab RT ein Interview über sein bewegendes Schicksal.
Eine Flucht ins Unbekannte – Interview mit damals 16-jährigem FlugzeugentführerQuelle: Sputnik © Sputnik

Im Jahr 1990 entführte eine Gruppe von Häftlingen im russischen Jakutien ein Tu-154-Passagierflugzeug und zwang die Besatzung, nach Pakistan zu fliegen. Die Flugzeugentführer waren sich sicher, dass die Behörden dieses Landes sie nicht an die Sowjetunion ausliefern würden. Sie hatten recht. Jedoch wurden sie alle zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Jahr 1998 wurden sechs der elf Entführer an Russland ausgeliefert, drei waren in pakistanischen Gefängnissen verstorben, zwei weitere kehrten im Jahr 2000 in die Ukraine zurück.

Über die Einzelheiten dieser Ereignisse ist nicht viel bekannt, und in verschiedenen Quellen finden sich widersprüchliche Informationen. Auch das Schicksal des jüngsten Entführers, des aus Donezk stammenden Konstantin Schatochin, war viele Jahre lang nebelhaft. Was den 16-Jährigen dazu veranlasste, sich auf ein derart gefährliches Unterfangen einzulassen, wie sich die Entführer darauf vorbereiteten, was sie sich davon versprachen und wie sie das Flugzeug kaperten, erzählt Schatoсhin in einem Interview mit RT. Auch über den Ausgang dieses "Abenteuers" berichtet Schatochin exklusiv.

In den letzten zwei Jahrzehnten des Bestehens der UdSSR gab es fast jedes Jahr Versuche, Passagierflugzeuge zu entführen. Dies wurde zu einem echten Problem für die sowjetische Zivilluftfahrt.

Die meisten Entführer versuchten, sich auf diese Weise ins Ausland abzusetzen. Mangels der Möglichkeit, das Land auf legalem Wege zu verlassen, waren die Verzweifelteren unter den Ausreisewilligen auch zu Verbrechen bereit.

Dank des kompetenten Handelns der Besatzungen und der Sicherheitsorgane scheiterten die meisten dieser Versuche. Die Entführer hatten in der Regel keinen klaren Aktionsplan, keine kriminelle Erfahrung, meist keine ernst zu nehmende Bewaffnung oder Sprengstoff und konnten fast immer entwaffnet werden.

Doch es gab auch Misserfolge. Zum Beispiel erlangte im Jahr 1988 der Versuch der Großfamilie Owetschkin traurige Bekanntheit, in London eine Tu-154 zu entführen. Ihr Amateur-Jazzensemble, die "Sieben Simeons", hatte sich zuvor bereits auch im Ausland einen Namen gemacht. Die Erstürmung dieser Linienmaschine durch Polizisten, die keine entsprechende Spezialausbildung hatten, führte zu Opfern, sowohl unter den Entführern als auch unter den Geiseln.

Das turbulenteste Jahr für die sowjetische Luftfahrt war 1990: Sage und schreibe 33 versuchte Flugzeugentführungen wurden verzeichnet.

Die Ereignisse, die am 19. August 1990 in der kleinen jakutischen Stadt Nerjungri begannen, können getrost den Titel der ungewöhnlichsten und auf ihre Art dramatischsten Flugzeugentführung der Sowjetzeit für sich beanspruchen. Auch wenn sich 30 Jahre später nur wenige Menschen daran erinnern.

Am Ende einer zweitägigen Odyssee mit drei Zwischenlandungen in der UdSSR flogen die sowjetischen Flugzeugenführer zusammen mit ihren Geiseln von der jakutischen Taiga an die Küste des Indischen Ozeans. Ihr Ziel: Karatschi, Pakistans größte Stadt.

Konstantin Schatochin war der jüngste der 15 Entführer, die die Tu-154-Passagiermaschine kaperten. Die Maschine sollte an diesem Tag einen Linienflug nach Jakutsk unternehmen. Kurz zuvor war Konstantin 16 Jahre alt geworden. In den wenigen Medienveröffentlichungen über den Vorfall, die im Internet zu finden sind, wird sein Name nicht erwähnt.

Schatochin selbst hingegen erinnert sich sogar nach drei Jahrzehnten an alle Einzelheiten seines Abenteuers. Wobei er nicht versucht, sich selbst in Schutz zu nehmen oder unbequemen Fragen aus dem Weg zu gehen.

Im ersten Interview seines Lebens räumt Schatochin mit vielen Mythen über dieses vergessene Drama auf und bringt erstaunliche neue Fakten ans Tageslicht. Seine Geschichte ist ein einzigartiges Zeugnis aus dem Leben der späten UdSSR, deren Zusammenbruch, wie sich herausstellte, das Schicksal Schatochins selbst radikal beeinflussen sollte.

Konstantin, Sie wurden im Jahr 1974 in Donezk geboren. Erklären Sie zunächst einmal, wie Sie in so jungen Jahren hinter Gittern und auf der anderen Seite des Landes gelandet sind.

Im September 1989 beschloss ich, zu meinem älteren Bruder nach Nerjungri zu ziehen. Ich wollte mich der Kontrolle meiner Eltern entziehen. Schon in Donezk begann sich mein schwieriger Charakter zu zeigen. Mein Verhalten war alles andere als vorbildhaft, auch in Nerjungri geriet ich sehr schnell in keine besonders gute Gesellschaft. Vielleicht lag es daran, dass zuerst die einzige Berufsschule und dann alle örtlichen Schulen sich einfach weigerten, mich zum Unterricht zuzulassen. Nach der achten Klasse hatte ich die Verhaltensnote "mangelhaft" im Zeugnis. Außerdem stand ich formell ohne Erziehungsberechtigte da. Deswegen wollte anscheinend niemand die Verantwortung für mich übernehmen. Am Ende hing ich ohne sinnvolle Tätigkeit herum, stahl Autos – immer nur für eine Spritztour. Oder ich brach sie einfach auf und nahm mit, was mir gefiel: Stereoanlagen, Kassetten, anderen Kleinkram.

Im Mai 1990 wurde ich festgenommen und am 11. August wegen fünf Autodiebstählen und 39 Diebstählen zu zwei Jahren Vollzugskolonie nach allgemeinem Regime verurteilt.

Wie fanden Sie sich überhaupt auf diesem Flug mit den Schwerverbrechern wieder?

Nach dem Prozess sollte ich in die Kolonie für Minderjährige verbracht werden, und der Weg dorthin ging für mich durch Jakutsk. In Nerjungri saßen alle Verurteilten in der Zwischenhaftanstalt zusammen, unabhängig vom Alter und dem Schweregrad der Anklage. Ich wurde zusammen mit 14 anderen Gefangenen, die hauptsächlich aufgrund schwerer Anklagepunkte und zu ziemlich schweren Haftstrafen verurteilt worden waren, dem Transport am 19. August zugewiesen.

War Ihnen im Voraus bekannt, dass ein Flugzeug entführt werden sollte? Wer hat die Entführung organisiert?

Zunächst wussten nur vier Personen von der geplanten Flucht: Sergei Moloschnikow, Andrei Issakow, Wladimir Petrow und Wladimir Jewdokimow. Obwohl es Jewdokimow war, der die Waffen ins Flugzeug bringen konnte, und anschließend er und Issakow die Führung übernahmen, war der eigentliche Initiator und Organisator der ganzen Sache Moloschnikow.

Erzählen Sie uns vom 19. August 1990. Wie lief an diesem Tag alles ab?

In der Zwischenhaftanstalt wurden wir von einer aus drei Männern bestehenden Konvoigrupe begleitet und in einen Minibus gesetzt. Alles lief völlig normal, ich wurde nach Jakutsk gebracht und war bereits mit der Prozedur vertraut. Es gab keine Durchsuchung am Flughafen. Die Gefangenen wurden direkt zur Gangway des Flugzeugs und dann sofort in die Kabine gebracht.

Es ist bekannt, dass es dem einbeinigen Jewdokimow gelang, ein abgesägtes Gewehr durchzuschmuggeln, das er in seiner Beinprothese versteckte. Aber wie hat er es geschafft, überhaupt an eine Waffe zu kommen?

Einer der Wächter brachte das Gewehr direkt zur Zwischanhaftanstalt und gab es Jewdokimow im Austausch gegen einen neuen importierten Sportanzug. Das war zwei Wochen vor der Flugzeugentführung. Dann wurde die Waffe die ganze Zeit über an verschiedenen Orten in der Zwischenhaftanstalt versteckt gehalten.

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Jewdokimow wurde übrigens kurz zuvor nach einem ziemlich herausragenden Fluchtversuch gefasst. Wie in "Gentlemen des Glücks" konnte er seine Vollzugskolonie in einem Zisternenwagen verlassen – aber der transportierte keinen Zement, sondern Dieselöl. Ich kann bis heute nicht verstehen, dass er dort nicht erstickt ist. Anschließend, vor seiner Verhaftung, konnte er mit seinem Holzbein etwa 800 Kilometer zurücklegen.

Was passierte, nachdem Sie in das Flugzeug gestiegen waren?

Ich setzte mich auf einen Platz am Gang neben Jewdokimow und Issakow. Während des Starts drehte ich mich hin und her, kommunizierte mit den Gefangenen in den anderen Sitzreihen. Unsere drei Wachen hatten nur drei Paar Handschellen dabei, sodass Jewdokimow, Issakow und ich ohne Handschellen waren. Im Prinzip war so etwas damals zulässig. Als ich zum ersten Mal nach Jakutsk geflogen wurde, trug auch nicht jeder Handschellen.

Eine solch lässige Haltung gegenüber Sicherheitsmaßnahmen beim Transport von Gefangenen ist kaum zu glauben.

Von den Statuten und Satzungen aus gesehen, gab es damals in unserer Zwischenhaftanstalt gewaltige Verstöße, und selbst für damalige Verhältnisse geschahen dort absolut wilde Dinge.

Zum Beispiel?

Nun, stellen Sie sich folgende ganz gewöhnliche Situation in unserer Zwischanhaftanstalt vor: Irgendwie kamen die Häftlinge an Haschisch, oder jedenfalls an Hanf. Wir hatten einen elektrischen Ofen auf dem Flur. Ganz zu Beginn des Hofgangs stellten sie leise eine Bratpfanne darauf und fingen an, das Gras irgendwie zuzubereiten. Der Hofgang war nicht lang, sie wurden nicht rechtzeitig fertig, aber der Wärter befahl allen, in die Zellen zu gehen. Sie sagen zu ihm: "Warte, wir braten noch zu Ende." Worauf er antwortet: "Geht nur wieder rein, ich passe selbst darauf auf."

Also steht er da, rührt in der Pfanne herum, achtet auf die Anweisungen, damit es nicht anbrennt, und dann übergibt er alles in die Zelle. Und das alles ist absolut kostenlos. Und für Geld konnte man dort erst recht fast alles bekommen. Ich habe diesem Andrei, der Jewdokimow das abgesägte Gewehr brachte, 15 Rubel gegeben, damit er Wodka beschafft – und er schaffte welchen heran. Jeder Wunsch wurde erfüllt.

Zusätzlich zu den Gewehren hatten Sie auch eine Bombe, oder besser gesagt eine Bombenattrappe. Wie ist sie an Bord gekommen? Denn zumindest bei der Zwischenhaftanstalt selbst mussten Sie doch vor der Eskortierung durchsucht werden.

Die Bombe war nicht aus Seife gemacht, wie alle später berichteten. Drei Hochglanzmagazine wurden zu "Sprengstoffstangen" zusammengerollt und mit weißem Papier überklebt. Aus dem Einband eines Buches, Zeitungen und der Kappe eines Beruhigungsmittel-Röhrchens machten wir die "Batterie", die angeblich zur Zündung dieser Sprengstoffstangen diente. Zwei Drähte dazu – und es wurde eine ziemlich gute Attrappe.

In der Zwischenhaftanstalt selbst gab es keine Durchsuchung als solche. Sie warfen einen Blick darüber, ganz oberflächlich, das war alles. Sie filzten ja jeden Tag die Zellen und waren sich sicher, dass wir so etwas nicht haben konnten. Die Attrappe selbst wurde am Abend direkt vor der Eskortierung hergestellt.

In diesem Zeitalter erhöhter Sicherheitsmaßnahmen scheint allein die Vorstellung, dass ein großes Flugzeug von einer Gruppe bewaffneter Sträflinge entführt wird, nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern absolut fantastisch. Wie war es damals möglich, so etwas im Voraus zu planen und auszuführen, während man hinter Gittern saß?

Moloschnikow, der all dies erdacht und organisiert hat, war sehr klug und geistreich. Eineinhalb Jahre vor der Flugzeugentführung gelang ihm die erste Flucht aus derselben Zwischenhaftanstalt. Er hatte sich absichtlich die Lunge durchlöchert, wurde ins Krankenhaus gebracht und operiert. Danach konnte er mithilfe seiner Komplizen entkommen. Ein Jahr später wurde er gefasst und nach Nerjungri zurückgebracht. Im Juni 1990, an meinem ersten Tag in dieser Zwischenhaftanstalt, gelang Moloschnikow seine zweite Flucht aufgrund des völligen Versagens der Wachen. Nachdem er und seine Mitausreißer drei Tage später gefasst worden waren, wurden sie grün und blau geschlagen zurückgebracht. Sie hatten großes Glück, dass die hohen Chefs kamen. Die Leitung der Zwischenhaftanstalt war wutentbrannt, und ich glaube, sie wären einfach erschossen worden. Man hätte ihre Erschießung durch einen Fluchtversuch oder Widerstand bei der Festnahme gerechtfertigt. Nach der zweiten Flucht erdachte Moloschnikow eine dritte: Er beschloss, ein Flugzeug zu entführen.

Ein Wunsch allein gereicht ja nicht zu viel. Gab es irgendwelche vorausgehenden Vorbereitungen?

Moloschnikow nahm einen recht hohen Platz in der kriminellen Hierarchie ein. Er war ein sogenannter Statthalter, und die Gefangenen respektierten ihn. Er war eine Größe, mit der man rechnen musste. Um die Begleiter zu neutralisieren, brauchte er körperlich starke Männer. In der Zwischenhaftanstalt suchte er auch nach Leuten, die ihn mit verschiedenen Informationen versorgen konnten.

Dort saß ein Veteran des Afghanistan-Krieges, ein Scharfschütze. Dieser wusste von Moloschnikows Plänen, verweigerte aber schließlich seine Beteiligung an der Flucht. Er erzählte viel Nützliches. Zum Beispiel über den inneren Aufbau der Tu-154, insbesondere über das System der versteckten Luken, durch die Angreifer unsichtbar in das Flugzeug eindringen konnten.

Wie lief die Flugzeugentführung selbst ab?

Bald nach dem Start begann Jewdokimow, eine Notiz zu schreiben. Bevor Issakow sie der Stewardess übergab, zeigte er ihr, ohne die Aufmerksamkeit anderer zu erregen, das abgesägte Gewehr. In diesem Moment musste ich meinen Kiefer vom Boden aufsammeln. So, dachte ich, jetzt bist du in was reingeraten. Ich sah mir die Fluggäste (Nicht-Häftlinge) vor mir an und fühlte mich sofort unbehaglich. Aber in dieser Situation konnte ich nichts tun. Jewdokimow übergab der Stewardess die Nachricht, und sie ging weg. Ein paar Minuten später kam sie zurück und sagte, wir würden wohl scherzen, denn an diesem Tag hätten sie ihren beruflichen Feiertag, den Tag der Luftfahrt.

Da sprang Issakow mit diesem abgesägten Gewehr auf und sagte: "Was denn für Scherze? Bleibt alle, wo ihr seid, das Flugzeug ist entführt!"

Wie haben ihre Wachen reagiert?

Sergeant Borschtsch, der an diesem Tag schon morgens ein schlechtes Gefühl hatte, war wachsam: Er sprang sofort auf und richtete sein Sturmgewehr auf Issakow. Sie standen einander gegenüber und forderten sich gegenseitig auf, die Waffe fallen zu lassen. Die beiden anderen Wächter haben sich nicht einmal bewegt. Als sie versuchten, ihre Waffen zu zücken, schrie Jewdokimow, dass er das Flugzeug sprengen würde, wenn sie es täten.

Wie ging diese Konfrontation aus?

Nach einer Weile kam der Flugingenieur Kamoschin herein. Er versuchte zuerst, in die Tasche mit der "Bombe" zu schauen, aber Jewdokimow befahl ihm, zurückzutreten. Er stand in der Schusslinie zwischen Issakow und Borschtsch und begann, den Letzteren zu überreden, sein Sturmgewehr niederzulegen. Als Kamoschin anfing, ihm die Waffe wegzunehmen, knallte ein Schuss, Pulverrauch traf mich im Gesicht. Gefahr bestand nicht: Wir wussten alle, dass die Begleiter gemäß Anweisungen oben im Magazin drei Platzpatronen luden. Als Kamoschin das Automatikgewehr dann hatte, war Igor Suslow der Erste, der sich darauf stürzte. Übrigens verlief sein Schicksal, zum Teil auch meinetwegen, sehr tragisch. Nachdem er sich der Waffe bemächtigt hatte, war er der Erste von uns, der sich sozusagen der Flugzeugentführung anschloss.

Wie viele Passagiere waren in der Kabine, wie haben sie reagiert?

Ursprünglich gab es 89 Fluggäste und die Besatzung. Die Leute waren natürlich besorgt. Ich möchte betonen, dass niemand eine Waffe auf die Passagiere gerichtet hat. Bordingenieur Kamoschin erklärte später in einem Interview, dass Issakow angeblich eine Waffe auf eine Frau mit Kind richtete, aber sie standen direkt hinter Borschtsch, und auf ihn hatte Issakow ja gezielt. In diesem angespannten Moment weinte ihr Kind, und sie selbst weinte und flehte darum, nicht erschossen zu werden. Die Situation war schon nervenaufreibend. Dann, nachdem Borschtsch entwaffnet war, gingen Issakow und Jewdokimow ins Cockpit und befahlen, nach Nerjungri zurückzukehren.

Und wie hat sich der Organisator der Entführung verhalten, Moloschnikow?

Ach, er selbst war in diesem Moment gar nicht im Flugzeug. Nach unserer Rückkehr nach Nerjungri wurden er und Petrow auf Forderung von Issakow und Jewdokimow direkt von der Zwischenhaftanstalt hergebracht. Diese vier hatten diese Vereinbarung im Voraus getroffen. Wer immer zuerst von der Eskorte mitgenommen würde, sollte den Entführungsplan umsetzen und dann diejenigen befreien, die übrig blieben.

Wie lautete denn der ursprüngliche Aktionsplan? Von außen scheint alles spontan abgelaufen zu sein. Es gab die Version, dass Sie alle mit Fallschirmen abspringen wollten, aber dann wurden Sie davon abgebracht und konnten sich schließlich lange Zeit nicht entscheiden, in welches Land Sie fliegen sollen.

Die Fallschirmoption wurde von niemandem ernsthaft in Betracht gezogen. Nach Rücksprachen in der Zwischenhaftanstalt plante Moloschnikow von Anfang an, nach Pakistan zu fliegen. Die UdSSR hatte kein Auslieferungsabkommen mit diesem Land, die Beziehungen waren recht angespannt. Er war sich sicher, dass niemand von uns ausgeliefert werden würde.

Nach der Landung in Nerjungri führte für Ihre Gruppe Issakow die Verhandlungen. Der Leiter der örtlichen KGB-Abteilung und ein Mitarbeiter des Innenministeriums, der ihn persönlich kannte, versuchten, ihn zur Kapitulation zu überreden. Sie hatten sogar Issakows Mutter hergebracht. Aber am Ende konnte man sich nicht einigen. Gleichzeitig wurden aber die Frauen und Kinder, so wie ich es verstehe, ohne Probleme freigelassen. Wurde dies getan, nachdem alle Ihre Forderungen erfüllt waren?

Nein, Moloschnikow hatte von Anfang an geplant, sie sowie die älteren Menschen gehen zu lassen. Das Flugzeug war gerade gelandet, das Treppenfahrzeug rollte an, und sie alle wurden sofort freigelassen. Nur die Stewardessen beschloss man zu behalten. Letztendlich wagten sie es nicht, die Passagiermaschine zu stürmen, brachten uns Petrow und Moloschnikow aus der Zwischenhaftanstalt und lieferten uns die angeforderten Funkgeräte, Splitterschutzwesten und Waffen.

Gab es irgendwelche Übergriffe gegen die Geiseln und die Besatzung?

Es mag vielleicht seltsam klingen, aber niemand war nervös oder aggressiv im Umgang mit den übrigen drei Dutzend Passagieren oder der Besatzung.

Als wir vor dem Abflug von Nerjungri um Essen für die Passagiere baten, brachte man uns nur Süßigkeiten. Aber wir alle hatten selbst ziemlich viel Essen dabei. Viele von uns erwarteten nach der Eskorte Haftbedingungen nach strengem Regime, die Leute hatten sich vorbereitet. Dann holten wir eben all das hervor. Stellen Sie sich folgendes Bild vor – Terroristen nehmen sich nach dem Start von den Stewardessen ein Rolltablett, legen ihren privaten Vorrat an Zeitschriften darauf, schneiden Brot, Speck, Wurst, öffnen Konserven und rollen damit durch die Kabine – bitteschön, bedienen Sie sich, lesen und essen Sie. Vielleicht fällt es jemandem schwer, sich das jetzt vorzustellen, aber genau so ist es geschehen.

In Nerjungri weigerten sich sechs von 15 Gefangenen, sich an der Entführung zu beteiligen und verließen das Flugzeug. Sie hatten keine lange Haft vor sich, warum sind Sie im Flieger geblieben?

Jewdokimow und Issakow sagten zu uns allen: "Ihr seid alle Knackis, wir sind vom selben Blut. Wer aussteigen und bleiben will, soll das tun – wir halten niemanden fest." Einige hatten anfangs Angst davor, man würde ihnen in den Rücken schießen, aber letztlich stiegen sechs Mann aus persönlichen Gründen aus. Was mich betrifft, so war ich bloß ein Halbstarker. Ich hatte Gedanken in meinem Kopf, etwa, dass es hier schlecht geht, dass mich niemand versteht und dass ich vielleicht irgendwo etwas Besseres finden würde. Ich habe damals überhaupt nicht an Mama oder ihre Gefühle gedacht. Meine Gedanken waren sehr egoistisch, ich dachte nur an mich selbst. Und natürlich hatte ich immer den Abenteurergeist in mir. Also fiel dieses Ereignis wie Saat auf sehr fruchtbarem Boden: an ein Aussteigen war gar nicht zu denken. Ich wollte Abenteuer. Und davon kam eine Menge auf mich zu.

Nach Nerjungri blieben also noch elf Mann in Ihrer Gruppe. Dann gab es eine Landung in Krasnojarsk und nach einer kurzen Nachbetankung den Überflug nach Taschkent?

Ja, dort kamen wir an, als es schon dunkel war. Wir beschlossen, die Besatzung zum Schlafen aus dem Flieger zu lassen. Nur Co-Pilot Sergei Turjew blieb zurück. Ich selbst habe nur ein kurzes Nickerchen gemacht. Kein langes, ich hatte Angst, ich könnte etwas Interessantes verschlafen. Die Nacht verging ohne Zwischenfälle. Ich saß ein paar Stunden mit Turjew im Cockpit, und er versuchte, mich dazu zu bewegen, dass ich mich ergebe. Am Morgen fingen die Probleme an: Man wollte uns die Besatzung nicht zurückbringen. Issakow führte den Sergeanten Borschtsch "zur Erschießung" aus dem Flugzeug und gab ihnen zehn Minuten Zeit, sie zurückzubringen.

Wurde dieser Forderung entsprochen?

Ja, wir ließen nur Turjew gehen, auf seine Bitte hin. An seiner statt trafen ein anderer Pilot und ein Funker mit englischen Sprachkenntnissen ein. Sie brachten zwei Reisetaschen mit Atlanten und Flugkarten aus der UdSSR nach Südamerika mit, weil sie bis zuletzt nicht wussten, wohin wir fliegen wollten. Wir fragten die Möglichkeit an, in andere Länder zu fliegen. Später wurde geschrieben, das Außenministerium habe versucht zu verhandeln, aber überall Absagen bekommen. Aber wir ließen nur anfragen, um abzulenken und zu verwirren. Wenn sie gewusst hätten, dass wir in das der UdSSR nicht freundlich gesinnten Pakistan fliegen wollten, hätten sie beschlossen, die Maschine zu stürmen. Aber so entstand der Eindruck, dass wir je nach Situation handeln würden und nicht wussten, wohin wir fliegen wollten.

Aus der UdSSR ließ man Sie am Ende ausreisen, was zu jener Zeit recht selten war. Wie verlief der Flug? Wussten Sie im Voraus, dass Sie nach Karatschi fliegen würden?

Sobald wir in den pakistanischen Luftraum eindrangen, tauchten zwei F-16-Kampfflugzeuge in der Nähe auf. Einerseits war es interessant, sie zu beobachten, andererseits kam Angst auf. Umso mehr, als sie sehr gefährliche Manöver durchführten und in nächster Nähe kreisten. Ursprünglich wollten wir in Peschawar landen, aber dort wurden wir abgelehnt. Wir wurden nach Süden bis nach Karatschi weitergeleitet. Und danach waren die F-16 hinter uns.

Es war auch keine glatte Landung?

Ja, auch dort wurde uns zunächst die Landung verweigert. Die Piloten boten an, weiterzufliegen, in ein anderes Land, aber wir lehnten ab. Etwa zwei Stunden lang flog das Passagierflugzeug um die Stadt herum und verbrauchte Treibstoff. Ich erinnere mich, dass ich damals schockiert war über die besondere Farbe des Himmels: azurblau. Und schon allein der Blick aus zehn bis elf Kilometern Höhe auf die Stadt und den Indischen Ozean war überwältigend. Am Ende, als fast kein Treibstoff mehr vorhanden war und immer noch keine Landeerlaubnis erteilt wurde, befahlen wir dem Piloten, auf einem Feld oder anderswo eine Bauchlandung hinzulegen. Er warnte die Passagiere vor einer harten Landung, forderte alle auf, sich anzuschnallen und sich zusammenzukauern, und begann den Sinkflug. Erst als die Besatzung die Bodenkontrolle über unser Vorhaben informierte, durften wir am Flughafen landen.

Was geschah nach der Landung?

Das Flugzeug wurde abgeschleppt und von Truppen umstellt. Ein Treppenfahrzeug kam angefahren. Als ich ausstieg, schaute ich wieder in diesen klaren Himmel, davon war ich am meisten berührt. Euphorie, dass alles vorbei sei, kam nicht auf. Schwerste Müdigkeit überkam mich, ich wollte mich ausruhen.

Issakow war der Erste, der die Fluggastzelle verließ. Er legte das Sturmgewehr auf den Boden. Alle, die Waffen hatten, taten es ihm gleich. Busse kamen an, zwei Offiziere kamen heraus, und wir wurden sehr herzlich empfangen, mit Umarmungen und Händedruck. Sie brachten uns zum Flughafengebäude, wo Getränke und belegte Brote auf uns warteten. Dann kam die Polizei und stritt lange mit dem Militär, unter wessen Gerichtsbarkeit wir stehen sollten. Noch später trafen Leute vom ISI ein, dem pakistanischen behördenübergreifenden Geheimdienst. Letztlich kamen wir zu ihnen. Wir wurden in einem Gefangenenbus in die Polizeiakademie von Karatschi gebracht und in einer der Zellen für Disziplinararrest untergebracht. Es gab nur Betonboden und Sand, aber wir gingen hinein, und alle elf Personen schliefen ein.

Wie lange haben Sie geschlafen?

Eineinhalb Stunden später wurden wir geweckt und in andere Zellen verlegt. Sauber, mit Betten und Lüftern auf dem Boden. Sie zeigten uns mit Zeichen, wo Wasser und Lebensmittel waren. So sind wir nach Pakistan gekommen. Niemand dachte, dass sich die Ereignisse anders entwickeln würden, als wir damals gehofft hatten.

Die Behörden erlaubten die sofortige Rückführung des befreiten Flugzeuges in die UdSSR. Und was geschah mit Ihnen?

Unter diesen sehr komfortablen Bedingungen lebten wir zwölf Tage, bis zur ersten Gerichtssitzung. Jeden Tag wurde uns Essen fast in Restaurant-Qualität gebracht, und morgens begrüßten uns die Offiziere mit Händedruck, versuchten, mit uns zu kommunizieren, scherzten und kauften uns sogar gute Zigaretten von ihrem eigenen Geld.

Wurde die sowjetische Botschaft irgendwie aktiv?

Am vierten Tag kamen drei Vertreter zu uns. Sie wurden auch von örtlichen hohen Beamten und einem Dolmetscher begleitet. Wir wurden alle nacheinander aufgerufen. Sie fragten mich persönlich, ob ich nach Hause zurückkehren wolle. Ich habe verneint. Ich wurde gefragt, ob ich wisse, dass in Pakistan auf die Entführung eines Flugzeugs die Todesstrafe oder lebenslange Haft steht. Ich sagte, dass ich das weiß, und lehnte das Gegenangebot ab, irgendeine Anfrage zu schreiben. Alle anderen taten dasselbe.

Sie persönlich – warum haben Sie abgelehnt, Sie wussten vorher doch sicherlich nicht, dass die Strafe so hart ist? War es die Euphorie, oder haben Sie dem Konsul einfach nicht geglaubt?

Ja, es gab den Gedanken, dass sie uns einschüchtern wollten. Außerdem dachte ich, dass es dumm wäre, wenn ich schon in der Sache drinstecke, sofort nach der Ankunft wieder nach Hause zurückzufliegen.

Wie lief der Gerichtsprozess?

Wir wurden zur Entscheidung über die Untersuchungshaftmaßnahme vor das Sondergericht für Terrorismusbekämpfung in Karatschi gebracht. Der Richter sah uns an, nahm etwas auf. Er fragte aber nichts, und fünf Minuten später brachte man uns nach draußen. Sofort trat ein Geheimdienstoffizier an uns heran, der uns in die Zuständigkeit des Gefängnisses übergab. Er erklärte mit Händen und Füßen, dass wir eine lebenslange Haftstrafe erhalten würden, in einiger Zeit könnten wir aber Berufung einlegen, danach werde die Strafe reduziert, und in sieben Jahren könnten wir freigelassen werden. Danach wurden wir in das Zentralgefängnis von Karatschi verlegt, wo die Bedingungen viel schlechter waren – und eine Kluft zwischen uns entstand.

Weswegen?

Zwischen den Rudelführern begann ein Tauziehen. Auf Nachfrage der Verwaltung erklärte Issakow, er sei unser Anführer, und versuchte, sich als Dissident und Opfer des Regimes aufzuspielen. Moloschnikow, der in der Zeit im Flugzeug etwas im Schatten stand, wollte aber auch nicht nur eine Nebenrolle spielen. Beide versuchten, ihre Linie durchzusetzen, jeder hatte seine Anhänger, aber es gab noch keinen offenen Konflikt.

In diesem Moment begann Gerede darüber, ob man uns ausliefern oder dort behalten werde, aber bei den Gerichtssitzungen haben sie uns nichts gesagt. Das Einzige, was damals alle einte, war die Gewissheit, dass wir eine Auslieferung in die UdSSR unser Ende wäre.

Wann hat der eigentliche Prozess begonnen?

Eineinhalb Jahre lang wurden wir immer wieder zum Gericht gefahren, wo die Frist unserer Untersuchungshaft verlängert wurde. Das war unsere einzige Unterhaltung – während wir im Hof warteten, bis wir an der Reihe waren, konnten wir mit anderen Menschen reden. Es gab überhaupt keine Ermittlungsmaßnahmen. Wir traten in einen Hungerstreik und forderten sowohl Verbesserungen der Haftbedingungen als auch eine Beschleunigung der Untersuchung. Eines Tages revoltierten vier von uns und schnitten sich die Adern auf. Alle wollten das Urteil so schnell wie möglich hören.

Hat denn wirklich niemand daran gedacht, in sein Heimatland zurückzukehren, während er auf den Prozess wartete? In den Medien wurde geschrieben, dass Sie fast alle auf einmal die Rückkehr in die UdSSR forderten und sogar Petitionen schrieben.

In all den Jahren in Pakistan haben weder ich noch andere Geflüchtete jemals darum gebeten, soweit ich weiß. Vielleicht gingen solche Gerüchte um, weil Sergei Schubenkow unmittelbar nach dem Urteil in Anwesenheit von Diplomaten und Journalisten einen Moment der Schwäche hatte und anfing zu schreien, dass er nach Hause zurückkehren wolle. Aber das war ein einzelner Vorfall.

Es gibt einige Verwirrung bezüglich des Gerichts. Im Jahr 1998 schrieb der Kommersant, dass Sie alle eine Woche nach Ihrer Ankunft zum Tod durch Erhängen verurteilt wurden. Dann sei die Hinrichtung durch lebenslange Haft ersetzt worden. Aber es gab noch andere Informationen in späteren Materialien.

Der Prozess begann erst Ende Februar oder Anfang März 1992. Die Sitzungen fanden ein- oder zweimal pro Woche statt. Vertreter von Aeroflot und des russischen Konsulats machten irgendwelche Aussagen auf Englisch. Aber uns hat das Gericht nicht einmal befragt. Nur ein einziges Mal kam ein Staatsanwalt oder Anwalt auf uns zu (ich habe letztlich nicht einmal verstanden, wer er überhaupt war), machte mit der Hand die Pistole und stellte nur eine Frage: "Gab es Puff-Puff?"

Ich und Maxim Lewtschenko sagten Nein, die anderen sagten Ja. Auf dieser Grundlage wurden wir alle am 29. März 1992 zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt.

Ende des Interviews Teil 1

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Im zweiten Teil des RT-Interviews wird Konstantin Schatochin erzählen, wie und wofür die sowjetischen Verurteilten ein Mitglied der Gruppe zum Tode verurteilten, was sie für Selbstmord ausgaben, wie der künftige Präsident Pakistans den Terroristen half, im Gefängnis Englisch zu lernen, und wie die meisten von ihnen im Gefängnis von harten Drogen abhängig wurden. Schatochin wird erklären, warum er im Gefängnis freiwillig zum Islam konvertierte, warum er, obwohl er nicht bereit war, in die bereits unabhängige Ukraine zurückzukehren, schließlich doch dazu gezwungen wurde, wie er mit ansehen musste, wie das unfertige Atomkraftwerk auf der Krim vor seinen Augen auseinandergerissen und verschrottet wurde, wofür er zwei neue Verurteilungen erhielt und wie es ihm gelang, in seiner Heimat, dem ruhelosen Donezk, im letzten Jahrzehnt ohne ein einziges Dokument ruhig zu leben.

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