Hohe Wohnkosten: Hunderttausende Hartz-IV-Bezieher müssen draufzahlen

Steigende Mieten, zu niedriger Zuschuss: Jeder sechste Hartz-IV-Haushalt bekam 2020 einen zu geringen Mietzuschuss. Mancherorts war sogar jeder Zweite betroffen. Statt auf mehr Hilfe setzt die Arbeitsagentur auf Abschottung und mehr Spitzel. Betroffene könnten zu viel Geld horten, glaubt sie.
Hohe Wohnkosten: Hunderttausende Hartz-IV-Bezieher müssen draufzahlenQuelle: www.globallookpress.com © Jens Kalaene

von Susan Bonath

Die Corona-Politik und die Wirtschaftskrise mehren die Armut, erschweren die Jobsuche und verschärfen die Wohnungsnot. Wer nicht über ein größeres Vermögen verfügt, kann schnell im Hartz-IV-System landen. Mehr als 5,6 Millionen Menschen leben in knapp drei Millionen Haushalten, die auf diese Grundsicherung angewiesen sind. Mehr als hunderttausend Soloselbstständige kamen binnen 16 Monaten hinzu. Bis auf einen "Maskenzuschuss" von 150 Euro und einige Antragserleichterungen für Neubezieher regierte die Große Koalition in Berlin jedoch erneut an ihnen vorbei. Von einer "sozialen Hängematte", wie Altbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) einst schimpfte, kann keine Rede sein.

So bekamen fast eine halbe Million Hartz-IV-Haushalte im vergangenen Jahr ihre Wohnkosten nicht vollständig anerkannt, mehr als jeder dritte davon mit Kindern. Derweil klettern die Mieten insbesondere in den ärmeren Vierteln für einfache Wohnungen unaufhaltsam in die Höhe. Doch statt Bedürftigen zu helfen, fahndet die Bundesagentur für Arbeit (BA) verstärkt nach ein paar Euro zu viel auf der hohen Kante. Die Jobcenter schotten sich noch immer weitgehend von ihren Klienten ab. Und Betroffenen droht trotz steigender Preise sogar eine "Nullrunde" im kommenden Jahr.

Trotz Corona: Jobcenter sparten halbe Milliarde Euro ein

Es ist kein Geheimnis, dass seit vielen Jahren die Mieten schneller steigen als die Obergrenzen, die die Kommunen für Bezieher von Hartz IV, Grundsicherung im Alter und Sozialhilfe festlegen. Daran hat sich auch mit Corona nichts geändert. Im ersten Pandemiejahr mussten rund 450.000 Hartz-IV-Haushalte (jeder sechste) für ihre monatliche Miete aus dem mageren Regelsatz draufzahlen, obwohl dieser eigentlich ausschließlich für andere Lebenshaltungskosten, wie Nahrung, Kleidung, Telefon und Strom, gedacht ist. In 159.000 sogenannten Bedarfsgemeinschaften, die zuzahlen mussten, lebten minderjährige Kinder.

Im Mittel mussten die Familien gut 87 Euro aus ihrem Regelbudget abzweigen, um ihre Wohnkosten zu bestreiten. Das ist viel Geld für Betroffene. Alleinstehende erhalten derzeit 446 Euro monatlich – für alles, außer die Miete und Heizkosten. Paare mit einem Kleinkind bekommen 1.088 Euro.

Im gesamten Jahr 2020 sparte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) auf diese Weise fast eine halbe Milliarde Euro ein. Die Hartz-IV-Beziehenden mussten diese Summe im Rahmen der Mietkosten aus eigener Tasche zahlen, obwohl sie dadurch unter dem Existenzminimum lebten. Das geht aus einer jetzt veröffentlichten Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion hervor.

Teures Wohnen auch auf dem Lande

Die Zahl der Betroffenen und die Höhe der ungedeckten Kosten variieren demnach aber stark zwischen den einzelnen Bundesländern. Die größte Lücke zwischen realen und erstatteten Mieten klaffte in Berlin. Jeder neunte Hartz-IV-Haushalt zahlte in der Hauptstadt im Mittel sogar 146 Euro für seine Bleibe obendrauf. In Bayern wurde jeder fünfte Haushalt mit rund 105 Euro zur Kasse gebeten, in Hamburg jeder sechste mit etwa 93 Euro.

Anteilmäßig waren aber die meisten Hartz-IV-Haushalte in Rheinland-Pfalz von einer Unterdeckung der Mietkosten betroffen. Hier musste fast jede vierte Familie durchschnittlich 83 Euro dazu zahlen. Nicht nur in Bayern, sondern auch in Baden-Württemberg (88 Euro), Niedersachsen (85 Euro), im Saarland (74 Euro) und in Sachsen-Anhalt (63 Euro) war etwa jede fünfte "Bedarfsgemeinschaft" von der Zuzahlung betroffen.

Das Wohnen ist keineswegs nur in Großstädten zum Luxus geworden. So müssen in der niedersächsischen Kleinstadt Leer sogar zwei Drittel der Hartz-IV-Bezieher im Schnitt 109 Euro monatlich zu ihrer Miete hinzulegen. Im bayerischen Dachau legt jeder Fünfte sogar rund 200 Euro dazu, in Ebersberg müssen elf Prozent ganze 235 Euro zusätzlich abdrücken – das ist mehr als ein halber Regelsatz für einen Alleinstehenden. Im niedersächsischen Rotenburg (Wümme), im rheinland-pfälzischen Altenkirchen (Westerwald) und im unterfränkischen Kitzingen (Bayern) erhalten jeweils mehr als die Hälfte der Leistungsberechtigten zu geringe Mietzuschüsse.

Mietenanstieg vor allem bei einfachen Wohnungen

Dass die Jobcenter so häufig geringere als die tatsächlichen Kosten bewilligen, liegt an den Mietobergrenzen, im Rahmen derer oft keine Wohnungen zu finden sind. Hartz-IV-Bezieher sind dann gezwungen, teurere Bleiben anzumieten und einen Teil selbst zu tragen. Die Kommunen legen die Obergrenzen fest und blicken dabei oft mehr auf ihre Finanzen als die betroffenen Menschen. Firmen wie das Hamburger Unternehmen Analyse & Konzepte sind gern dabei behilflich. Immer wieder wurden in der Vergangenheit Konzepte dieser Firma von Gerichten als rechtswidrig eingestuft und ganz oder teilweise gekippt. Doch so eine Klage kann sich über viele Jahre hinziehen.

Zwar ermöglichte das BMAS seit Beginn der Corona-Maßnahmen das erleichterte Stellen von Anträgen. Doch weitere Vorteile wie etwa höhere Vermögensfreigrenzen und die vorübergehende Übernahme der gesamten Mietkosten gelten nur für jene, die nachweislich wegen der Maßnahmen Hartz IV beantragen mussten, darunter etwa 132.000 Soloselbstständige.

Dabei lassen steigende Mieten die Wohnkostenlücken immer größer werden. Wie die Berliner Zeitung Anfang August berichtete, legten sogar vor allem die Kosten für einfache Wohnungen zu, in denen vermehrt Hartz-IV-Beziehende leben, und zwar um fast 30 Prozent in den vergangenen sechs Jahren. Das Blatt berief sich dabei auf ein Interview des Bundesvorsitzenden der Industriegewerkschaft Bauen Agrar Umwelt (IG BAU), Robert Feiger, mit der Funke Mediengruppe. Dieser zitierte die Zahlen demnach aus einer Studie, die das Pestel-Institut vor einigen Monaten veröffentlicht hatte.

Bundesagentur bangt: Sind viele Hartz-IV-Bezieher zu reich?

Doch die BA hat andere Probleme: Viele Hartz-IV-Bezieher könnten zu viel auf der hohen Kante haben, vermutet sie. Und zwar sollen die Jobcenter ihre Klienten nun noch stärker als bisher nach Kapitalanlagen ausforschen. So könnten sich hinter niedrigen Zinsen auch größere Vermögen verbergen, reklamierte die Behörde unter Detlef Scheele (SPD). Grund sei die derzeitige Niedrigzins-Phase. Im Jahr vor Corona, 2019, seien ganze 2,57 Millionen Hinweise an die BA diesbezüglich ergangen – bei rund 2,9 Millionen Haushalten, die Hartz IV beziehen.

Abschotten und sanktionieren

Eine ordentliche Beratung ist aber weiterhin für die meisten Betroffenen nicht zu haben. Seit März 2020 haben sich die Jobcenter vom Kundenverkehr weitgehend abgeschottet. In vielen Kommunen, nicht nur in Berlin, bestimmt ein Sicherheitsdienst darüber, wer mit welchem Anliegen hinein darf und wer nicht. Klienten werden darauf verwiesen, ihre Anliegen schriftlich zu verfassen und in die Briefkästen einzuwerfen oder online der Behörde mitzuteilen. Auch Unterlagen können nicht mehr einfach abgegeben werden. Allerdings weiß jeder, der schon einmal auf Hartz IV angewiesen war, dass Jobcenter in dieser Hinsicht häufig schwarzen Löchern gleichen: Immer wieder verschwinden eingereichte Dokumente.

Obwohl sie selbst somit nicht ihren eigentlichen Pflichten nachkommen, verhängten die Jobcenter laut einer BA-Statistik zwischen April 2020 und März 2021 insgesamt knapp 140.000 neue Sanktionen gegen ihre Klienten, wenn diese sich nicht an eine Auflage gehalten hatten. Dabei ging es vor allem um versäumte Termine und Weigerungen, eine auferlegte Maßnahme oder Arbeit nicht anzutreten.

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