Nach dem INF-Vertrag: Umrisse einer Politik der Schadensbegrenzung

Ab sofort können sowohl die USA als auch Russland im Bereich landgestützter Kurz- und Mittelstreckenraketen völlig legal wieder aufrüsten soviel sie wollen. Und das Ende weiterer Verträge zur Rüstungskontrolle ist abzusehen. Gibt es wenigstens Formen der Schadensbegrenzung?
Nach dem INF-Vertrag: Umrisse einer Politik der SchadensbegrenzungQuelle: Reuters

von Leo Ensel

Ging es Ihnen auch so? Heute morgen beim Aufstehen war natürlich alles so wie immer in den letzten Tagen, Wochen, Monaten, Jahren und Jahrzehnten.

Also exakt wie nach Tschernobyl: Die verstrahlten Salatköpfe sahen genauso aus, sie rochen so und sie schmeckten so wie die unverstrahlten noch einen Tag zuvor! Nun ist diesmal kein Atomkraftwerk in die Luft geflogen, aber die Welt ist seit heute erheblich gefährlicher geworden. Und zwar ohne dass man davon irgendetwas sehen, riechen oder schmecken könnte.

Heute nämlich tritt die Kündigung des im Dezember 1987 von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichneten INF-Vertrages durch die USA und Russland in Kraft. Konkret: Ab sofort dürfen die USA und Russland völlig legal landgestützte atomar und konventionell bestückte Raketen einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern und deren Abschussvorrichtungen herstellen, erproben und dislozieren! 

Und zwar in fast unbegrenzter Stückzahl und – vorausgesetzt, die ‚Gastländer‘ sind damit einverstanden – nahezu überall auf diesem Planeten! Damit wurde ein, nein: der entscheidende Teil des politischen Erbe Gorbatschows mutwillig an die Wand gefahren: Der Abzug und die Verschrottung einer gesamten Waffenkategorie von insgesamt 2.692 atomaren Kurz- und Mittelstreckenraketen (846 der USA und 1.846 der Sowjetunion) und ihrer Infrastruktur hatte über drei Jahrzehnte lang einen Atomkrieg in Europa verhindert. 

Und damit ist es nun vorbei. 

Die „supreme interests“ der USA 

Diese Entwicklung hatte sich seit Längerem und durchaus nicht im Geheimen angebahnt. Schon vor knapp zwei Jahren, am 1. September 2017 schrieb beispielsweise die Süddeutsche Zeitung:

Im Kongress wurden bereits die ersten gesetzgeberischen Schritte eingeleitet, dass die USA 2019 den INF-Vertrag aufkündigen könnten – dann würde drohen, dass die USA neue Raketen bauen und auch in Europa stationieren.

Einzige Fehlprognose: Die Ankündigung der Aufkündigung durch Präsident Trump geschah bereits im Herbst 2018!

Um zu verstehen, wie fahrlässig, um nicht zu sagen: kriminell, dabei vorgegangen wurde, lohnt es sich, den Blick auf ein Detail zu lenken, das in der gesamten Diskussion um die Kündigung des INF-Vertrages nur ein einziges Mal thematisiert wurde und zwar bezeichnenderweise von dem noch lebenden Vater des Vertragswerks. In einem Beitrag für die russische Zeitung Wedomosti (englische Übersetzung in Moskow Timesvom 12. Februar diesen Jahres zitierte Michail Gorbatschow aus dem Vertragstext: 

Jede Partei hat bei der Ausübung ihrer nationalen Souveränität das Recht, dann von diesem Vertrag zurückzutreten, wenn sie entscheidet, dass durch außergewöhnliche Ereignisse (‚extraordinary events‘)im Zusammenhang mit den Bestimmungen dieses Vertrags ihre höchsten Interessen (‚supreme interests‘) gefährdet werden. Sie unterrichtet den anderen Vertragspartner sechs Monate vor dem Beschluss über den Rückzug von diesem Vertrag. Diese Mitteilung soll eine Darstellung der außergewöhnlichen Ereignisse enthalten, die die anmeldende Vertragspartei als ihre höchsten Interessen gefährdend betrachtet

Ein Land, das den Vertrag kündigen will, kann diesen Schritt demnach nur unternehmen, wenn gravierendste Gründe dafür vorliegen und es ist verpflichtet, diese der Weltgemeinschaft darzulegen. Folgerichtig fragte Gorbatschow weiter: 

Wo aber ist diese Bedrohung der ‚höchsten Interessen‘ für die Sicherheit der USA – eines Landes, dessen Militärausgaben mindestens dreimal so hoch sind wie die aller möglichen Rivalen? Haben die USA der Weltgemeinschaft, der Öffentlichkeit und dem UN-Sicherheitsrat eine Darstellung dieser Bedrohungen mitgeteilt? Nein, das haben sie nicht. Stattdessen haben sie Beschwerden gegen Russland wegen angeblicher Verstöße erhoben und diese Vorwürfe in Form eines Ultimatums präsentiert.

So gesehen, wäre die Kündigung des INF-Vertrages durch die USA, die ihrerseits den Ausstieg Russlands provozierte, schlicht vertragswidrig! Aber vor welchem Gericht der Welt könnte man dies einklagen? 

Wie soll es nun weitergehen?

Grundprinzipien der Schadensbegrenzung

Als erstes sollte man sich sämtlicher Illusionen enthalten und beruhigend klingenden offiziellen Versprechen, von welcher Seite auch immer, nicht gutgläubig auf den Leim gehen! So erklärte US-Außenminister Pompeo zwar vor einigen Monaten, die USA hätten keine Pläne für die sofortige Stationierung neuer Raketen, aber schon Gorbatschow hat darauf verwiesen, dass dies lediglich bedeutet, dass die USA gegenwärtig über solche Raketen noch nicht verfügen! Die entscheidende Message Pompeos liegt also in dem Wörtchen „sofort“. 

Aber auch die Versicherung Präsident Putins vom 2. Februar diesen Jahres ("Wir gehen von der Prämisse aus, dass Russland keine Mittelstrecken- oder Kurzstreckenwaffen stationieren wird, wenn wir solche Waffen entwickeln – weder in Europa noch sonst irgendwo –, bis US-Waffen dieser Art in die entsprechenden Regionen der Welt entsandt sind.")will genau gelesen werden.

Offensichtlich liegt hier die Betonung auf dem Wort „deploy“ (stationieren)! Im Umkehrschluss kann man demnach die Aussagen beider Staatsmänner als Ankündigung lesen, dass die USA wie Russland allerspätestens ab jetzt damit beginnen, genau die Raketen zu entwickeln und zu produzieren, die ihnen bis gestern noch verboten waren.

Ein multilateraler Vertrag schließlich, „a better deal“, der auch andere Atommächte wie China mit einbezöge, wie ihn US-Präsident Trump anlässlich seiner Vertragskündigung als Valiumpille vage in Aussicht stellte (und für den er bislang keinen Finger krumm gemacht hat), ist erst recht nirgends in Sicht!

Bleibt also ab jetzt im optimalen Falle nur noch eine Politik der Schadensbegrenzung – und auch das nur bei gutem Willen aller Akteure. Genau über dieses Thema findet seit einigen Monaten im renommierten außenpolitischen Think Tank Russlands, dem „Russian International Affairs Council“ (RIAC), eine intensive Diskussion statt.

In seinem EssayIs There Life After Arms Control Death?“ („Gibt es ein Leben nach dem Tod der Rüstungskontrolle?“) hat der Generaldirektor des RIAC, der Historiker Andrej Kortunow Mitte Juni einige bemerkenswerte Grundprinzipien zur Schadensbegrenzung formuliert, „die unser Leben für alle etwas weniger gefährlich machen könnten.

Erstens: Frieden ist wichtiger als Abrüstung. Bei aller Wichtigkeit der Begrenzung und Reduzierung von Atomwaffen sollte die allererste Priorität für alle sein, einen Atomkrieg zu verhindern! Diese Aufgabe könnte zur Not auch angegangen werden, wenn – wie für die Zukunft zu befürchten – nahezu keine völkerrechtlich verbindlichen Verträge mehr existieren sollten. Als deeskalierende Sofortmaßnahmen schlägt Kortunow in diesem Zusammenhang Kontakte zwischen Militärs, Politikern und Experten der Nuklearmächte auf verschiedenen Ebenen, die parallele Verringerung der Kampfbereitschaft nuklearer Trägersysteme sowie den Informationsaustausch über die Entwicklung von Militärdoktrinen vor. 

Zweitens: Qualität ist gefährlicher als Quantität. Da es sowohl für die USA als auch für Russland keinen Sinn ergibt, die Anzahl der nuklearen Sprengköpfe weiter zu erhöhen – schließlich ist es ausreichend, den Gegner bzw. den Planeten einmal vernichten zu können; toter als tot gibt es nicht! – hat sich das Wettrüsten in andere Bereiche wie künstliche Intelligenz, die Militarisierung des Weltraums oder die Entwicklung autonomer tödlicher Waffensysteme verlagert. Die Einhegung dieser Entwicklung erfordert allerdings nach Kortunow völlig andere Formen der Rüstungskontrolle, „wobei informelle Normen und Verhaltenskodizes mehr bedeuten können als formalisierte Vereinbarungen und die Rolle des Privatsektors und der Zivilgesellschaft derjenigen der Staaten nicht nachstehen wird.“ 

Drittens: Bedrohungen durch nichtstaatliche Akteure werden die Gefahren durch gegnerische Staaten zunehmend überwiegen. Während die Strategie der Abschreckung – bei allen Mängeln und inhärenten Widersprüchen – zur Not auch noch auf Staaten wie Nordkorea oder den Iran anwendbar wäre, versagt diese Logik bei international operierenden Terrororganisationen, die zunehmend in der Lage sind, sich Atomwaffen zu verschaffen, dagegen komplett. Auch die Anzahl der „failed states“, die den Nährboden für den internationalen Terrorismus bilden, wird vermutlich noch zunehmen. Hinzu kommt mittlerweile auch die Gefahr von Cyberangriffen durch Hackergruppen.

Daher sollte laut Kortunow die Verhütung des nuklearen Terrorismus – und des Terrorismus mit anderen Massenvernichtungsmitteln – bei den künftigen Mechanismen der internationalen Rüstungskontrolle höchste Priorität haben.

Soweit die Vorschläge Kortunows zur „Ersten Hilfe“. Es gibt demnach auch jenseits des INF-Vertrages – und erst recht nach dem absehbaren Ende sämtlicher Rüstungskontrollverträge – für die Atommächte die Möglichkeit, genauer: die Notwenigkeit, zu kooperieren. Dass es dabei nur noch um die Verhinderung der allergrößten Katastrophen gehen kann, stimmt nicht gerade optimistisch. 

Eine andere Option aber wird es auf absehbare Zeit nicht geben!

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