Eine neue Balance zwischen Werten und Interessen – Söders außenpolitische Kehrtwende?

Neben den zu erwartenden Wahlkampf-Äußerungen gab es bei der Pressekonferenz nach der CSU-Präsidiumssitzung noch einige Überraschungen, die es – ebenso überraschend – nicht bis in die Berichterstattung der Leitmedien schafften. Die CSU geht auf Abstand zur bewaffneten Verbreitung westlicher Werte.
Eine neue Balance zwischen Werten und Interessen – Söders außenpolitische Kehrtwende?Quelle: www.globallookpress.com © Peter Kneffel

von Dagmar Henn

Die Wahrnehmung der Presse ist selektiv, das ist auch bei Pressekonferenzen so. Als der CSU-Vorsitzende Markus Söder zusammen mit seinem Landesgruppenchef Alexander Dobrindt und dem Generalsekretär Markus Blume nach der CSU-Präsidiumssitzung vor den Medien aufgetreten war, pickten sich die meisten für ihre Berichterstattung die Bröckchen über CDU-Laschet heraus. Klar, es ist Wahlkampf; aber es ist ebenfalls klar, dass Söder angesichts der sinkenden Umfragewerte von Laschet versuchen muss, die CSU aus diesem Strudel zu ziehen.

Die Bundestagswahl spielte den größten Teil dieses Auftritts des CSU-Frontleute über ihre Rolle jedoch in den Hintergrund, auch wenn Söder diese Wahl als "schwerste Herausforderung für die Union seit 1998" klassifizierte, also jenes Jahr, in dem  Gerhard Schröder damals Bundeskanzler wurde.

Das Hauptthema allerdings war Afghanistan, die Folgen und – gerade hier liegt eine gewisse Überraschung – die USA.

Zwei Fragen zum Informationsfluss wurden aufgeworfen. Söder beschwerte sich recht deutlich, gar nicht informiert worden zu sein. Das mag als kleine Nickeligkeit erwähnt worden sein – oder um sich gleichsam automatisch auch von jeder Verantwortung zu distanzieren. Aber eine andere Aussage an anderer Stelle lässt sogar viel eher vermuten, dass die CSU-Zentrale womöglich über die reale Lage in Afghanistan besser informiert war als das Bundeskanzleramt.

Sowohl Söder als auch Dobrindt sprachen nämlich über die Notwendigkeit, das afghanische Desaster aufzuarbeiten. Söder schlug dafür eine Enquete-Kommission vor, die "das gesamte Engagement bewerten" solle; Dobrindt sagte, man habe "parlamentarisch ein Interesse daran, wie diese Berichte entstanden sind", und meinte damit die BND-Berichte, die anscheinend eine völlige Fehleinschätzung verbreitet hätten.

Nun hat die CSU traditionell – dank dem alten Sitz der "Firma" in Pullach, die wohl engsten Beziehungen zum BND unter allen bundesdeutschen Parteien, und das lässt Dobrindt in seinem nächsten Satz auch durchscheinen: "Ob es unberücksichtigte Hinweise gegeben hat beispielsweise, an welcher Stelle die gelandet sind, wie die verarbeitet oder nicht verarbeitet worden sind." Man kann annehmen, dass die besagten Hinweise spätestens jetzt in der CSU-Parteizentrale liegen, wenn nicht schon länger.

Der schwarze Peter für die "schwere Niederlage des Westens, seit Vietnam der schwerste Rückschlag für die westlichen Bemühungen" (Söder) liegt jedenfalls eindeutig bei den USA. "Durch ihre Entscheidung, Afghanistan zum Teil überstürzt zu verlassen, haben sie die Hauptverantwortung."

Wirklich spannend wird es aber bei den Konsequenzen, die daraus gezogen werden. Nun darf man natürlich nicht vergessen, dass gerade Wahlkampf ist und womöglich nicht alle Aussagen im politischen Alltag danach eingelöst werden, und nicht alle Teile sind neu und überraschend, aber einige eben doch.

Die erste Konsequenz ist eine ganz pragmatische Forderung. Jetzt müsse dafür gesorgt werden, dass das UNHCR die nötigen Mittel habe, um eventuell aus Afghanistan Flüchtende angemessen in den Nachbarländern zu versorgen. Nicht ganz explizit – mit der Formulierung, auch in Ländern, die sonst Sanktionen unterliegen – sprach Söder dabei also auch Iran an. Dobrindt erwähnte in diesem Zusammenhang sogar, dass die Ereignisse des Jahres 2015 durch die Unterfinanzierung des UNHCR ausgelöst wurden (die EU hatte ihre Mittel halbiert); eine Tatsache, die lange bekannt ist, aber bisher in der politischen Debatte keinerlei Rolle spielte.

Die zweite Konsequenz ist nicht völlig neu; sie besteht aus Überlegungen wie, einen europäischen Sicherheitsrat einzurichten über die Forderung nach einer stärkeren Bundeswehr bis hin zu der nach bewaffneten Drohnen. Spannender wird es bei der Begründung, die sozusagen fließend in die dritte Konsequenz überleitet. Ein europäischer Sicherheitsrat sei nötig für die Handlungsfähigkeit der EU. Und dann kam ein Satz, den man sehr genau lesen muss: "Die Amerikaner sind handlungsfähig, ob es einem gefällt, was sie tun, oder nicht."

Ja, was immer gesagt wurde, muss man mit einem Körnchen Salz nehmen, denn es ist Wahlkampf. Und einer der Wahlkampfgegner – die Grünen – ist ein vehementer Vertreter dessen, Menschenrechte immer und überall ganz vorne zu verteidigen, gern auch mit Bomben. Dennoch, es fanden sich einige Sätze, die zumindest andeuten, dass die CSU eine außenpolitische Kehrtwende wünscht.

Das beginnt mit einer Forderung von Söder, die richtige Balance zwischen Werten und Interessen zu finden. Man brauche mehr Realismus und müsse auch mit Partnern reden, "die uns schwer fallen". Dobrindt setzte nach: "Wir werden die liberale Demokratie nach westlichem Vorbild nicht überall umsetzen können, auch wenn das für uns eine schmerzhafte Erkenntnis und Erfahrung ist."

Ja, die bayerische Staatsregierung hat enge Bande zur bayerischen Industrie, die wiederum gern und ausgiebig Geschäfte in China macht und die es gar nicht gern sähe, in der Auseinandersetzung zwischen den USA und China zwischen die Fronten zu geraten. Das mag solche Äußerungen motivieren. Es mag aber auch eine nüchterne Konsequenz aus dem gerade erlebten krachenden Scheitern sein.

Söder formulierte die Frage noch einmal anders: "Wie ambitioniert müssen wir sein in der Verfechtung unserer demokratischen Werte und wie realistisch in der Sicherung unserer Interessen?" Und er fügte noch hinzu: "Wir erleben immer mehr Partner in der Welt, die anders denken als wir, aber die immer wichtiger werden."

Es ist die leise Ankündigung eines Rückzugs und vielleicht auch eine Ansage, welche Positionen die CSU gerne durchsetzen würde, wenn Laschet doch nicht die Wahl vergeigt.

Ein Abstandnehmen vom Menschenrechtsimperialismus, den auch Angela Merkel mit ihren stetig beschworenen Werten immer mitgetragen hat, wäre tatsächlich ein erster Schritt hin zu einem friedlicheren Deutschland. Selbst wenn die CSU nicht anders kann und noch ein paar Kanonen obendrauf packen muss.

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