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"Die Türkei kann machen, was sie will ... weil NATO-Land" – was Idlib vom Donbass unterscheidet

Seit Jahren führt die Türkei in Syrien eine Militäroperation nach der anderen durch. Dabei ist Syrien ein Staat, dessen Souveränität und territoriale Integrität durch die UNO garantiert werden sollte. Gegen die Türkei werden dennoch keine Sanktionen verhängt. Warum nicht?
"Die Türkei kann machen, was sie will ... weil NATO-Land" – was Idlib vom Donbass unterscheidetQuelle: www.globallookpress.com © Sputnik, RT bearbeitet

von Wladislaw Sankin

Russland ist seit fast sechs Jahren dem Vorwurf ausgesetzt, eine militärische Intervention in der Ukraine durchzuführen – oder diese angeblich zumindest mit hybrider Kriegführung zu überziehen. Deshalb wurden von den USA und den EU-Staaten auf maximalen Schaden ausgerichtete einseitige Wirtschaftssanktionen (Zwangs- und Beugemaßnahmen) gegen Moskau verhängt. Jedes Jahr werden diese ohne große Debatten routinemäßig verlängert, bisweilen noch verschärft.

Die Strafmaßnahmen (gegen Russland) würden wegen fehlender Fortschritte bei der Umsetzung der Minsker Abkommen für einen Frieden in der Ukraine verlängert", zitierten die Medien auch im Juni letzten Jahres wieder das Bundeskanzleramt.

Dabei fungiert Russland selbst als einer der Garanten des im Februar 2015 geschlossenen Minsker Abkommens und nicht als unmittelbare Konfliktpartei. Offiziell unterstützt es die selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk im ostukrainischen Donbass politisch und finanziell. Die "Anti-Terror-Operation" der ukrainischen Streitkräfte – so hieß die Militäroffensive der Ukraine gegen die eigenen Landesteile – kostete bis zum Jahr 2019 mindestens 3.000 Zivilisten das Leben. Gegen die Ukraine, die damit im Donbass Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt, wurden keine Sanktionen verhängt.

Beim Krieg gegen die "Separatisten" im Donbass im Osten des Landes geht es der ukrainischen Regierung wohl darum, diesen Teil der Ostukraine wieder in die staatlichen Strukturen des Landes einzugliedern. Dies gilt in den Augen der westlichen Staaten als legitimer Wunsch. Deren Vertreter werden nicht müde zu unterstreichen, dass die "Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine" oberste Priorität habe.

Die ostukrainische Protostaaten Donezk und Lugansk streben eigentlich den Anschluss an Russland an. Ihre Gründung geht auf die chaotischen Kiewer Ereignisse im Frühling des Jahres 2014 zurück. Damals flammten auch Proteste in Großstädten im Südosten der Ukraine auf, nämlich gegen die prowestliche und nationalistische neue Regierung in Kiew. Die kam infolge der blutigen Ereignisse auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz (Maidan) und des darauf folgenden Staatsstreichs an die Macht.

Russland dagegen würde begrüßen, wenn sich die Volksrepubliken Donezk und Lugansk infolge eines politischen Prozesses auflösten, an dessen Ende sie als Regionen mit einem Sonderstatus in die Ukraine integriert blieben. Auch konkrete Schritte dorthin wurden im Minsker Abkommen festgelegt. Die Ukraine unterschrieb zwar vor fünf Jahren das Dokument, auch mit Vertretern der Volksrepubliken, unternimmt aber alles, um diese Vereinbarung zu sabotieren. Daraus wird in Kiew kein Hehl gemacht. Für die Nichterfüllung der Minsker Abkommen aber wird die Ukraine keineswegs sanktioniert.

Syriens Staatlichkeit durch Krieg und Sanktionen bedroht

Werfen wir nun vergleichsweise einen Blick auf Syrien. Dort kämpft eine Regierung, die nicht durch einen Putsch an die Macht gekommen war, sondern diejenige der Baath-Partei, die das Land schon seit Jahrzehnten regiert, gegen verschiedene bewaffnete Einheiten, die in den letzten neun Jahren weite Teile des Landes besetzen. Einen Großteil dieser Militanten bilden Mitglieder verschiedener extremistisch-islamistischer Bündnisse wie zuletzt Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS). HTS wird international sogar mehrheitlich als Terrororganisation angesehen, darunter von Russland, aber auch von der Türkei und von Deutschland.

Außer dem Terrorkalifat des "Islamischen Staates" (IS), das inzwischen zerschlagen ist, befassen sich diese extremistischen "Rebellen" oder Terroristen auf den von ihnen besetzten Territorien nicht mit dem Aufbau unabhängiger alternativer Strukturen innerhalb von Syrien. Statt der Gesetzen der säkularen Syrisch-Arabischen Republik gelten dort, wie derzeit noch in der nordwestlichen Provinz Idlib, weitgehend Scharia-Gesetze in islamistischer Auslegung. Diese Territorien sind seit Jahren Tummelplatz für Extremisten und Glücksritter aus aller Welt. Ein authentisches und vollständiges Bild von den inneren Verhältnissen in der sogenannten Rebellenhochburg Idlib ist mit großer Lebensgefahr für Journalisten verbunden und daher schwer zu bekommen.

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Dabei werden staatliche Aufgaben wie Bergungs- und Räumungsarbeiten bei Kriegszerstörungen oftmals aus dem Ausland finanzierten NGOs mit zweifelhaftem Ruf überlassen, wie den Weißhelmen. In den Volksrepubliken Donezk und Lugansk kümmert sich keine NGO, sondern das aus den Haushaltsmitteln finanzierte Katastrophenschutzministerium um die Folgen des Beschusses aus dem "Mutterland" Ukraine. Aber das sei nur am Rande bemerkt.

Die Regierung von Präsident Baschar al-Assad hat angesichts dieses Chaos also das nachvollziehbare und aus UN-Sicht auch völlig legitime Interesse, die staatliche Kontrolle und Souveränität über das ganze Territorium Syriens wiederzuerlangen. Und diese Regierung setzt dafür sowohl eigene Truppen wie auch verbündete, um Hilfe gebetene Kräfte ein. Bei diesem Kampf werden allerdings schwere Waffen eingesetzt, durch die auch unbeteiligte Zivilisten sterben. Im Land herrscht also ein Krieg mit mehreren Kriegsparteien, der nach offiziellen syrischen Angaben schon zu mehr als 100.000 Todesopfern und mehreren Millionen Flüchtlingen auf allen Seiten geführt hat. Dieser Krieg hat seinen Ursprung in den Unruhen des Jahres 2011, die in eine indirekte und später sogar direkte Intervention zahlreicher Regionalmächte verwandelt wurden.

Der langjährige Kampf der syrischen Regierung um den Erhalt der Staatlichkeit Syriens wird allerdings von den USA sowie den EU- und NATO-Staaten nicht gewürdigt, sondern mit harten einseitigen Sanktionen bestraft. Diese Sanktionen werden von neutralen UN-Experten durchaus als kriegerische Blockade bezeichnet. Dabei ist Syrien nicht nur der Zersetzung von innen durch eine ethnisch bunte Mischung von Zehntausenden sogenannter "Rebellen" ausgesetzt, sondern auch direkten und bereits mehrfach erfolgten Militärinterventionen von außen.

Türkei: ein Aggressor, der keiner ist?

Die Türkei ist dabei derjenige Staat, der auf syrischem Territorium derzeit militärisch am stärksten präsent ist. Seit Ende Februar führt die Türkei in Idlib ihre mittlerweile vierte Militäroperation, diesmal unter dem harmlosen Namen "Frühlingsschild" durch. Dort finden jetzt massive Kämpfe zwischen den terroristischen Rebellen, zusammen mit der regulären türkischen Armee einerseits und den syrischen Regierungskräften und ihren Verbündeten andererseits statt.

Die früheren türkischen Operationen der letzten drei Jahre hatten nicht weniger klangvolle Namen: "Schutzschild Euphrat", "Friedensquelle" und "Olivenzweig". Die Türkei begründet ihren Einmarsch mit eigenen Sicherheitsinteressen oder – im Fall von Idlib – sogar mit edlen humanitären Motiven. Diese Operationen wurden jedoch keineswegs von der UNO legitimiert. Doch weder in den Medien noch von Politikern werden sie unumwunden als Aggression, Intervention oder Annexion bezeichnet.

So wird der aktuelle Krieg in Idlib beispielsweise lediglich als "Konflikt" zwischen Assad, Putin und Erdoğan umschrieben. Und es wird dabei von vielen deutschen Sicherheitspolitikern obendrein bedauert, dass weder die EU noch gar die Bundeswehr in dessen "Regulierung" mit von der Partie seien. Die syrische Regierung dagegen wird von denen als Aggressor (im eigenen Land?) geschmäht, ebenso Russland, weil es wunschgemäß militärischen Beistand leistet. Warum aber nicht die Türkei, die die territoriale Integrität des Nachbarstaates Syrien mit Füßen tritt und das syrische Idlib ganz unverhohlen als türkisches Protektorat beansprucht?

Dieser milde Umgang mit der Türkei liegt wohl nicht nur an den wohlklingenden Namen der türkischen Militäroperationen. Er liegt vielmehr an der Zugehörigkeit des Landes zur NATO. So schätzte der Nahostexperte Michael Lüders die Situation in einem Interview im Zusammenhang mit der türkischen Invasion im Kurdengebiet Afrin im Oktober 2019 ein:

Im Kern will sich natürlich niemand mit dem NATO-Land Türkei es grundlegend versauen für die Zukunft, und infolgedessen kann die Türkei erst einmal tun, was sie will, und die Leidtragenden dieser Politik sind natürlich die Kurden (…).

Umso mehr gilt das für Idlib, wo nun gar keine jener (von den USA bis zuletzt unterstützten) Kurden leben. Ein NATO-Land kann also tun und lassen, was es will. Die Politiker und devoten Medien werden schon eine passende Rahmenerzählung finden. Sanktionen braucht ein NATO-Staat dagegen nicht zu befürchten. Russland, dessen Engagement in der Ostukraine im Vergleich zum offenen türkischen Einmarsch in Syrien wie ein platonisches Liebesbekenntnis anmutet, darf dagegen nun sogar mit weiteren, noch verschärften EU- und US-Sanktionen rechnen: Sie werden zumindest immer öfter gefordert. Diesmal wegen seiner Unterstützung für eine durch die UNO legitimierte Regierung von Syrien.

Solange einzelne einflussreiche Staaten oder Militärallianzen wie die NATO anstelle der gesamten internationalen Gemeinschaft in Gestalt der UNO über Fragen von Krieg und Frieden entscheiden wollen und dies auch ungestraft dürfen, wird es wohl keine tragfähigen Mechanismen für Kriegs- und Krisenprävention geben. Mit einem solchen Mechanismus wäre der nicht enden wollende Krieg in Syrien womöglich sogar gar nicht erst ausgebrochen. An diesem Prinzip ändert auch der neue realpolitische Kompromiss zum Waffenstillstand in Idlib nichts, der am 5. März in Moskau zwischen dem türkischen und dem russischen Präsidenten gelungen ist.

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