Bulgarien: Gespaltene Eliten und ein Balanceakt zwischen Russland und dem Westen

2004 trat das ehemals sozialistische Bulgarien der NATO bei, drei Jahre später folgte der EU-Beitritt. Doch die Westanbindung verschaffte dem Land keine politische Stabilität. Der Machtkampf zwischen dem Ministerpräsidenten und dem Staatspräsidenten zeugt von der politischen Zerrissenheit.
Bulgarien: Gespaltene Eliten und ein Balanceakt zwischen Russland und dem WestenQuelle: AFP © CHIP SOMODEVILLA/GETTY IMAGES NORTH AMERICA/AFP

von Prof. Dr. Anton Latzo

Bulgarien ist geprägt von einer Instabilität des politischen Systems sowie wachsender sozialer Unzufriedenheit. Der Balkanstaat ist das ärmste Land innerhalb der EU. Ein Arbeiter hat ein Einkommen von rund 400 Euro im Monat, ein Rentner muss mit 100 Euro über die Runden kommen. Die steigenden Kosten für den Lebensunterhalt können sie damit oft nicht decken. 

Versprochen wurde viel  

Der Mann, der 2009 Ministerpräsident wurde, ist mit dem Versprechen angetreten, die Lage des Landes und seiner Bewohner zu verbessern. Bojko Borissow ist, mit Unterbrechung, zwar noch immer Ministerpräsident, die Lage hat sich aber nicht zugunsten der Menschen geändert.                                        

Die Regierung hat die Hoheit über die Wirtschaft und die Wirtschafts- und Finanzpolitik des Landes verloren. Grundsätzliche Entscheidungen werden von den Eigentümern des Kapitals getroffen, das aber überwiegend aus dem Ausland kommt. Nach dem Zerfall des Ostblocks wurden nicht nur die Eigentumsverhältnisse in der ehemaligen sozialistischen Volksrepublik neu geordnet. Auch die historisch gewachsene Struktur der Wirtschaft mitsamt internationaler Verflechtung wurde zerschlagen.

Die Handlungsmaxime der Regierenden leitet sich seitdem aus den Erfordernissen ab, Sicherheit für Kapital und Profit zu schaffen. In diesem Sinne wurden die Verfassung, das politische System, das Rechtssystem sowie die Außenpolitik Bulgariens angepasst.

Offensichtlich regieren nicht die gewählten Institutionen (Parlament, Regierung, Parteien). Sie vermitteln bestenfalls zwischen den ausländischen Eigentümern sowie deren Interessen und den Interessen der Bulgaren. Sie machen "great deals", die von den Geheimdiensten eingefädelt und von der Justiz als legal abgesegnet werden.

Schließlich wurden derartige Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt durchgepeitscht, die Vorgaben der EU zu erfüllen, um Mitglied dieser Organisation zu werden. Diese Vorgaben gingen und gehen jedoch von den Bedürfnissen und Zielen der EU-Mächtigen aus. Daraus entwickelte sich ein unerträglicher Druck auf Bulgarien, der destruktive Folgen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik des Landes hatte und hat.  

Der Zar als Demokrat     

Personifiziert ist diese Politik mit Bojko Borissow, Ministerpräsident Bulgariens und Bewahrer einer bestimmten historischen Linie des Landes. Es ist die Linie, die von Simeon II. von Sachsen-Coburg auch personell wieder belebt wurde. Dieser war minderjährig  von 1943 bis 1946 der letzte Zar des Zarentums Bulgarien. Er kehrte 1996 aus seinem spanischen Exil zurück, das ihm von Diktator Franco gewährt wurde. Er wurde politisch aktiv und gründete eine "Nationale Bewegung Simeon II. ", die seit 2007 modernisiert "Nationale Bewegung für Stabilität und Fortschritt" (NDSW) heißt. Mit dieser Partei übernahm der ehemalige Zar 2001 die Aufgabe, als Ministerpräsident die Restauration in Bulgarien zu vollenden. 

Nachdem Bojko Borissow, ausgebildeter Personenschützer von Todor Schiwkow, den Personenschutz von Simeon II. nach dessen Rückkehr nach Bulgarien übernommen hatte, wurde er unter Ministerpräsident Simeon II. Polizeichef und Staatssekretär im Innenministerium.

Mit der schwindenden Autorität Simeons II. konfrontiert, wurde im März 2007 die sich selbst als "konservativ" einordnende Partei "Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens" (GERB) gegründet. An deren Spitze gestaltete Borissow Mehrheiten im Parlament und wurde Ministerpräsident, bis heute. Gern weist er darauf hin, dass er mit Angela Merkel der älteste Regierungschef der EU ist.

Krieg der Institutionen

Die wachsenden Widersprüche in der bulgarischen Gesellschaft und in der Politik wurden auch anlässlich der Präsidentenwahlen von 2017 offenbar. GERB musste eine Niederlage einstecken. Gewählt wurde Rumen Radew, der Kandidat der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP). Seitdem hat die offene Auseinandersetzung über die wachsenden Probleme zugenommen. Sie hat die Ausmaße eines Krieges der Institutionen angenommen, der aber keine Lösung in Aussicht stellt.

Anfang Februar 2020 hat Staatspräsident Rumen Radew der Regierung das Vertrauen entzogen, weil sie seiner Ansicht nach nicht im Interesse der Bürger handle. Borissow regiert aber weiter! Der Generalstaatsanwalt reagierte, indem er den Staatspräsidenten der Korruption beschuldigt.                 

Präsident Radew begründete seine Haltung mit folgender Einschätzung:

Wir sind Zeugen einer akuten Führungskrise auf allen Ebenen. Es fehlt der Wille für Reformen und für den Kampf gegen die Korruption. Die ständige Missachtung der Gesetze führte zur Lähmung ganzer öffentlicher Systeme und Institutionen. Die Gesetzgebung ist zu einer Geisel lobbyistischer Interessen geworden; Armut und Ungleichheit vertiefen sich. Staatliche Organe erlauben sich, jene einzuschüchtern, die protestieren und nicht mit der Lage einverstanden sind. Organisiert wird ein Vormarsch gegen die Bürgerfreiheiten. Die heutige Führung führt zu einem Zerfall der Staatlichkeit und raubt uns die Zukunft. All dem muss ein Ende bereitet werden.                

Diese Einschätzung des höchsten Repräsentanten zeigt die Breite und die Tiefe der Widersprüche innerhalb der bulgarischen Gesellschaft.  

Instabilität ist günstiger Boden für Politik der NATO-Mächte   

Diese Lage wirft zusätzliche Probleme auf, wenn man sie in Zusammenhang mit der Außenpolitik des Landes sieht. Sie wird von den Großmächten der NATO und der EU ausgenutzt, um das Land zu erpressen und eigene ökonomische, politische und militärstrategische Ziele zu verfolgen. Gemeinsam wollen sie dabei Bulgarien missbrauchen, um geostrategisch gegen Russland und China erfolgreich zu sein. Bulgarien und die Region des Balkans (Schwarzes Meer) könnten sich als wichtiges Kampffeld für die Austragung der Widersprüche zwischen diesen Großmächten herausbilden!

Es ist ein explosives Gemisch, das in der Geschichte schon wiederholt mit katastrophalen Folgen zur Explosion gebracht wurde, denn die zahlreichen Nationalitätenprobleme können als Zünder eingesetzt werden.

Die Außenpolitik der bulgarischen Regierung wird von dem Bemühen geprägt, zwischen den Interessen der EU, der USA und Russlands zu "balancieren". Das  Ergebnis, gleich wie es ausgeht, wird gegenwärtig nicht die von der NATO und der EU gesetzten Grenzen sprengen. Konflikte dürften aber zunehmen, weil die Fragen Atomstrom, Pipelines, Handels- und Wirtschaftsbeziehungen einer Lösung bedürfen. Aktuelles Beispiel: Trotz Kritik aus den USA fließt russisches Erdgas nach Bulgarien, das zum Transitland für Südosteuropa wird.

Es zeigt sich auch bei Bulgarien, dass es ohne Angleichung des ökonomischen und sozialen Entwicklungsniveaus, einer darauf beruhenden politischen und kulturellen Annäherung zwischen den Völkern und Staaten eine produktive Einheitlichkeit des politischen Willens in der EU nicht geben kann. Ohne diese Angleichung ist die Ost-West-Migration nicht zu verhindern und das "europäische Projekt" nicht zu verwirklichen.

Beziehungen zu NATO und USA

Entsprechend den bestimmenden Verhältnissen in Bulgarien stehen die Beziehungen zu NATO/USA und zur EU/Deutschland im Mittelpunkt des Interesses der Regierung. 

Die Beziehungen zu den USA werden besonders von den geostrategischen Bestrebungen Washingtons sowie von dem Platz bestimmt, den die USA in diesem Zusammenhang dem Balkan zuordnen. Seit 2006 haben die USA in Bulgarien vier Militärstützpunkte auf bilateraler Grundlage eingerichtet: der Truppenübungsplatz Novo Selo für die Ausbildung von Bodentruppen, der Luftwaffenstützpunkt Besmer, der Luftwaffenstützpunkt Graf Ignatjewo und das Aitos Logistics Center. Experten zählen Besmer zu den sechs wichtigsten US-Stützpunkten außerhalb der USA. Laut Vertrag können bis zu 2.500 Amerikaner ständig in Bulgarien stationiert werden. Weitere 2.500 können für jeweils 90 Tage zusätzlich anwesend sein.

Im November 2019 wurde zwischen den USA und Bulgarien ein Rahmenvertrag für die künftige strategische Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, IT-Technologie, Bildung, Verteidigung, Medienfreiheit und Rechtsstaatlichkeit abgeschlossen. Er zeigt die von beiden Seiten angestrebte Breite der Beziehungen. Er legalisiert aber auch die Politik der Einmischung der USA in die inneren Angelegenheiten anderer Länder und zementiert die Anzahl und Langfristigkeit der US-Militärstützpunkte.

Bulgarien und die EU     

Im Verhältnis zur EU stehen die Wirtschaftsbeziehungen im Mittelpunkt des Interesses. Die bulgarische Regierung will 2023 den Euro einführen. Deutschland hat sich seit 2014 vor Italien, Rumänien, Russland und der Türkei als Handelspartner positioniert. Etwa 5.000 deutsche Firmen sind beteiligt. Bei einem Umsatz Bulgariens von 56 Milliarden Euro beträgt das deutsch-bulgarische Handelsvolumen 7,5 Milliarden Euro. Im Tourismus, auf den ca. 13 Prozent des bulgarischen Bruttoinlandsproduktes (BIP) entfallen, ist Deutschland mit mehr als 800.000 Besuchern die drittgrößte Gruppe.

Beziehungen zu Russland     

Gegenüber Russland folge Bulgarien laut Premier Borissow den nationalen Interessen und berücksichtige "die gemeinsame europäische und transatlantische Politik". Offiziell wird darauf verwiesen, dass es für die Entwicklung "pragmatischer" und gegenseitig vorteilhafter bilateraler Beziehungen keine Hindernisse gebe. Doch sind diese weit vom einstigen Stand entfernt. Sie werden offensichtlich von den Beziehungen Bulgariens zur NATO und EU negativ beeinflusst. Borissow wertet als Erfolg, dass es gelungen sei, "unter Sanktionsbedingungen und großer Anspannung gute und pragmatische Arbeitsbeziehungen [zu Russland] unterhalten und trotz der schwierigen internationalen Beziehungen den guten Ton zu wahren".

Putin bezeichnete den Besuch des bulgarischen Präsidenten Radew in Moskau im Mai 2018 als "gutes Signal für die Erneuerung der russisch-bulgarischen Beziehungen". Es wurde damals vereinbart, Bulgarien wieder in die Umsetzung des Gaspipeline-Projekts durch Verbindung mit Turkish Stream einzubeziehen. Positive Perspektiven wurden auch für die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit bei den zwei Atomstrom-Projekten Bulgariens (Belene und Kosloduj) aufgezeigt. Radew wies aber auch darauf hin, dass es "nach drei eingestellten Großprojekten, unter den Bedingungen von Sanktionen und Begrenzungen und nach dem kurzsichtigen politischen Gerede der letzten Jahre schwer ist, über Vertrauen zu sprechen".

Fazit          

In den letzten zwei bis drei Jahren hat in Bulgarien eine Verschiebung der politischen Betrachtungsweisen begonnen. Die aktuelle Lage wird als "stabile Instabilität" beschrieben. Der Ruf nach Debatten über Ziele und Richtung der inneren Entwicklung und der Außenpolitik wird deutlicher.         

Man geht aber davon aus, dass "abrupte politische Veränderungen nur im Ergebnis drastischer Veränderung der äußeren Konjunktur" erfolgen können. Im Jahr 2019 war ein deutliches Auseinanderdriften der Positionen der beiden politischen Hauptlager festzustellen, die einerseits vom Ministerpräsidenten und andererseits vom Staatspräsidenten angeführt werden. Vom Ausgang dieser Auseinandersetzung hängt sehr viel ab.

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