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Syrien: Türkei vor strategischer Niederlage in Idlib wegen Nichterfüllung des Sotschi-Abkommens

Gemäß dem Sotschi-Abkommen von 2018 sollte die Türkei die Terrororganisation Hai‘at Tahrir al-Sham entwaffnen und sich von ihr distanzieren. Ihr Versäumnis, dieser Pflicht nachzukommen, hat den Samen für die unvermeidliche Niederlage der Türkei in Syrien gelegt.
Syrien: Türkei vor strategischer Niederlage in Idlib wegen Nichterfüllung des Sotschi-AbkommensQuelle: Sputnik

von Scott Ritter 

Als die Türkei im Jahre 2011 auf die Anti-Assad-Putschisten setzte, geschah dies aus der Überzeugung heraus, man würde schließlich das Ergebnis vor Ort diktieren können. Dafür war es angedacht, die wichtigsten organisierten Oppositionskräfte, die sogenannte Freie Syrische Armee (FSA), zu kontrollieren. Diese setzte sich aus Überläufern der syrischen Armee und diverser Banden fundamentalistischer Islamisten zusammen, die mit der Muslimbruderschaft verbunden sind. Das Kriegsgeschehen entwickelte jedoch eine Eigendynamik. Schon im Jahr 2012 kehrte ein syrischer Islamist, der im Irak für die Al-Qaida kämpfte, nach Syrien zurück. Dort gründete er eine neue Al-Qaida-treue bewaffnete regierungsgegnerische Gruppierung. Diese wurde als al-Nusra-Front bekannt.

Im Laufe der Zeit entwickelte sich die al-Nusra-Front unter Abu Mohammad al-Dscholani zur effektivsten Kampforganisation der Regierungsgegner und übertraf die türkisch kontrollierte FSA auf dem Schlachtfeld. Die Zugehörigkeit der al-Nusra-Front zur Al-Qaida beeinträchtigte jedoch ihre Fähigkeit, Finanzmittel, Waffen und Ausrüstung von außerhalb des Landes zu beziehen. Ab 2015 unterzog sich die al-Nusra-Front einer Reihe von vermarktungstechnischen Umbenennungen. Anfang 2017 nahm sie schließlich ihren heutigen Namen Hai‘at Tahrir al-Sham (HTS) an. Die Umbenennungsbemühungen konnten jedoch nichts an der Tatsache ändern, dass die HTS in den Augen eines Großteils der Welt, einschließlich der Türkei, eine anerkannte terroristische Gruppe blieb.

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Heute macht al-Dscholanis HTS die überwiegende Mehrheit der etwa 30.000 Anti-Regierungs-Kämpfer aus, die in der Provinz Idlib operieren. Es ist die letzte Bastion des von Terrormilizen kontrollierten syrischen Territoriums. Die syrische Armee, die von pro-iranischen Milizen und der russischen Luftwaffe unterstützt wird, greift seit dem Jahr 2015 sowohl FSA- als auch HTS-Stellungen in Idlib an, um die syrische Regierungshoheit über das Gebiet wiederherzustellen. Um die Zivilbevölkerung in Idlib vor den Folgen des Krieges zu bewahren, wurde im September 2018 während eines Gipfeltreffens im russischen Sotschi von den Staatschefs Russlands, der Türkei und des Irans ein Waffenstillstand vereinbart.

Gemäß den Bedingungen des Abkommens von Sotschi würden Russland und Syrien auf offensive Militäroperationen in Idlib verzichten, falls die Türkei im Gegenzug die Schaffung sogenannter Rückzugszonen durchsetzen würde. Dort sollten regierungsfeindliche Kräfte ihre schweren Waffen abgeben und Kämpfer anerkannter Terrororganisationen wie al-Dcholans HTS entwaffnet und evakuiert werden.

Um diese Bemühungen zu unterstützen, richtete die Türkei in diesen Rückzugsorten eine Reihe sogenannter Beobachtungsposten ein, auf welchen sie schwer bewaffnete Truppenaufgebote dislozierte. Anstatt jedoch die FSA zu entwaffnen und den HTS zu evakuieren, nutzte die Türkei die Außenposten als Abschreckung gegen erneute militärische Offensiven Russlands und der syrischen Militärs. Kurz gesagt: Die Türkei hat ihre Verpflichtungen gemäß Sotschi-Abkommen praktisch in ihrer Gesamtheit nicht erfüllt. Im Sommer 2019 beschlossen sowohl Russland als auch Syrien, dass der Waffenstillstand nicht mehr in Kraft sei. Man setzte die Offensive gegen die HTS-Verbände fort, die sich in und um die ausgewiesenen Abzugszonen verschanzt hatten.

Im Laufe dieser Offensive ist es gelungen, Zehntausende von HTS-Kämpfern zu vernichten oder zum Abzug und im anderen Falle in die Flucht zu treiben. Dies führte dazu, dass zahlreiche strategisch wichtige Orte sowie weite Teile des Territoriums durch die syrische Armee zurückerobert wurden. Die türkischen Streitkräfte auf den Beobachtungsposten waren machtlos gegen die Offensive. Bis Februar 2020 waren zehn von zwölf dieser Beobachtungsposten von der syrischen Armee umzingelt.

Die Ohnmacht des türkischen Militärs angesichts des russisch-syrischen Angriffs erzürnte und beschämte den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zugleich. Er beorderte daraufhin rund 5.000 Soldaten in Begleitung von Hunderten von Militärfahrzeugen, darunter Panzer, gepanzerte Kampffahrzeuge aller Art und Artilleriegeschütze, in die syrische Provinz Idlib. Einige dieser Truppen wurden vom syrischen Militär unter Beschuss genommen, wobei mindestens 13 türkische Soldaten getötet wurden. Die Türkei behauptet, in gleicher Weise reagiert und zahlreiche syrische Soldaten getötet zu haben.

Die Opfer auf dem Schlachtfeld verärgerten Erdoğan noch mehr. Sie veranlassten ihn dazu, sowohl den syrischen als auch den russischen Militärs, die in Idlib operieren, mit der Vernichtung zu drohen, falls sie sich nicht auf ihre zur Zeit der Schließung des Abkommens von Sotschi besetzten Positionen zurückzögen. Die Reaktion der russischen und syrischen Militärs bestand darin, ihren Angriff fortzusetzen. Im Ergebnis wurden noch mehr Städte und Gebiete unter die Kontrolle der syrischen Regierung gebracht.

Indem die Türkei ihren Verpflichtungen aus dem Abkommen von Sotschi zur Entwaffnung und Auflösung der in der Provinz Idlib operierenden HTS-Einheiten nicht nachkam, öffnete sie Tür und Tor für die derzeit laufende Offensive der Streitkräfte Syriens und Russlands. Nach der Entsendung Tausender türkischer Soldaten nach Idlib, hoffte Erdoğan, dass weder Russland noch Syrien versuchen würden, die Feindseligkeiten in Idlib soweit eskalieren zu lassen, dass sie auch Truppenaufgeboten eines NATO-Mitgliedes in unmittelbaren Kampfhandlungen entgegentreten müssten. Als eine russische Militärdelegation, die Anfang letzter Woche in die türkische Hauptstadt Ankara entsandt wurde, ihre türkischen Kollegen nicht davon überzeugen konnte, sich zurückzuziehen, verdoppelte Erdoğan seinen Einsatz: Er kommandierte noch mehr Truppen und Ausrüstung nach Idlib ab und drohte damit, die syrische Armee bis zum Monatsende gewaltsam von dort zu vertreiben, falls diese ihre Angriffe nicht einstellen würde.

Die syrische Armee reagierte darauf mit der Umzingelung weiterer türkischer Militärstützpunkte. Sie eroberte zudem die komplette Umgebung von Aleppo von den HTS- und FSA-Banden zurück und stieß noch tiefer in das von der HTS gehaltene Gebiet vor. Erdoğans Bluff war also durchschaut worden. Die Türken befinden sich nun in einer völlig unmöglichen Lage: In dem verzweifelten Versuch, sich vom HTS zu isolieren, befahlen die Türken allen FSA-Truppen, die zur Verstärkung des vom HTS kontrollierten Gebietes entsandt wurden, in das von der Türkei kontrollierte Gebiet zurückzukehren. Dort sollten sie die HTS-Truppen auf dem Schlachtfeld effektiv isolieren. In der Folge waren diese entweder vernichtet oder aber gezwungen, sich tiefer in die Trümmer ihrer Idlib-Bastion zurückzuziehen.

Für die türkischen Truppen, die noch immer innerhalb der Provinz Idlib disloziert sind, wird die Lage zunehmend gefährlich. Ihre Anzahl und ihre Dispositionen schließen jede Chance aus, zu einer Verteidigung Idlibs bedeutend beitragen zu können. Selbst falls die Entscheidung getroffen werden sollte, die russische Luftwaffe und die syrische Armee anzugreifen. Das Beste, was Ankara zu diesem Zeitpunkt erhoffen kann, ist ein neuer Waffenstillstand, der es ihm erlaubt, seine Streitkräfte sicher und unter Wahrung der Ehre aus Idlib abzuziehen. Auf jeden Fall hat die Türkei ihre Position in Idlib militärisch und politisch unhaltbar gemacht, indem sie ihre Interessen mit denen von al-Dscholani und der HTS in Verletzung des Abkommens von Sotschi von 2018 in Einklang brachte.

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Übersetzt aus dem Englischen.

Scott Ritterist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung bei der US-Marineinfanterie. Er diente in der Sowjetunion als Inspekteur für die Umsetzung des INF-Vertrags, im Stab von General Schwarzkopf während des Golfkriegs und in den Jahren von 1991 bis 1998 als UN-Waffeninspekteur. Er kann auf Twitter abonniert werden unter @RealScottRitter

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