Meinung

Hartz IV-Urteil: 30 Prozent weniger Menschenwürde sind okay

Das Urteil des Verfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sanktionen ist ein sozialpolitisches Desaster. Entweder gibt es ein unantastbares Existenzminimum, oder es gibt keines. Wenn es eines gibt, dann sind 30 Prozent Abzug de facto genauso unmenschlich wie 0,1 Prozent.
Hartz IV-Urteil: 30 Prozent weniger Menschenwürde sind okayQuelle: AFP © Uli Deck

von Timo Kirez

Zur Bundestagswahl 2017 postulierte die CDU auf ihren Plakaten: "Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben". Schon damals fragten sich viele, wer mit "wir" gemeint ist. Am Dienstag gab das Bundesverfassungsgericht nun eine Art Antwort darauf: Wer das Pech hat, zu den Hartz-IV-Empfängern zu zählen, gehört jedenfalls nicht dazu. Die nach den USA, China und Japan viertgrößte Volkswirtschaft der Welt weigert sich weiterhin, seinen Bürgern und Bürgerinnen ein unantastbares Existenzminimum zu garantieren und somit ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe zu gewährleisten.

Das Bundesverfassungsgericht entschied am Dienstag, dass der Staat "erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen, und die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren darf, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entzieht". Doch aufgrund der dadurch entstehenden außerordentlichen Belastung sollen dafür "strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit" gelten. Was auch immer das bedeuten mag.

Laut dem Verfassungsgericht sind Sanktionen, die bis zu 30 Prozent "Leistungsmilderungen" betragen, nicht zu beanstanden. Nur wenn es mehr werden, sei es mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Vom Prinzip her ist das ungefähr so, als ob Sie einem Ertrinkenden erst Anweisungen zurufen und ihm dann einen Rettungsring zuwerfen, aus dem Sie vorher 30 Prozent herausgeschnitten haben, weil er sich nicht an Ihre Anweisungen gehalten hat. Vielleicht rufen Sie ihm noch zu: "Sei froh, dass ich nicht 60 Prozent rausgeschnitten habe, haha!"

Man sagt oft, dass man den Grad an Zivilisation in einer Gesellschaft daran erkennt, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Gemessen daran, hat das Bundesverfassungsgericht am Dienstag der Barbarei zum Verfassungsrang verholfen. In Abwandlung des Prinzips des italienischen Philosophen Giorgio Agamben vom "Homo sacer" kann man die Hartz-IV-Empfänger nun bedenkenlos zu den rechtlosen "nackten Leben" zählen, die in Ausnahmefällen vom Souverän gequält werden dürfen.

Denn entweder gibt es ein gesetzlich zu schützendes Existenzminimum, wie es das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 9. Februar 2010 selbst festgestellt hat, oder es gibt keines. Damals leitete das Verfassungsgericht aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz, also der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip, einen Anspruch Hilfebedürftiger auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ab.

Es war das erste Mal in der Geschichte Deutschlands, dass ein solches Grundrecht explizit benannt wurde. Dieses Grundrecht soll neben der physischen Existenz auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben sichern. Doch wenn es ein Grundrecht auf ein Existenzminimum gibt, dann ist es de facto auch nicht antastbar. Da spielt es auch keine Rolle, ob die Sanktionen 30 Prozent, 19,4 Prozent oder auch nur 0,01 Prozent betragen. Menschenwürde bleibt Menschenwürde.

Es ist nachweislich schon schwer genug, mit dem Hartz-IV-Regelsatz über die physische Existenz hinaus auch noch seine "Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben" zu sichern. Sprechen Sie mal mit betroffenen Menschen, lassen Sie sich schildern, was es bedeutet, mit so wenig Geld im 21. Jahrhundert nicht nur über die Runden kommen zu müssen, sondern auch noch am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Dass man die Leistungen nun offiziell weiter kürzen darf, wird die Betroffenen weiter am Rand der Gesellschaft belassen. Von "gesellschaftlicher Teilhabe" zu sprechen, ist und bleibt grotesk.

Und wer immer noch glaubt, dass nur Sanktionen die Menschen dazu bewegen, sich wieder Arbeit zu suchen, muss ernsthaft sein Menschenbild hinterfragen – und sich bitte Studien dazu anschauen. In der Regel bewirken die Sanktionen, und vor allem die Angst vor Sanktionen, eines: Die Betroffenen akzeptieren Jobs, in denen sie weniger verdienen als zuvor und die nicht ihrer Qualifikation entsprechen. Dadurch steigt vor allem die sogenannte "Aufstocker-Quote" – mit anderen Worten, die Erwerbsarmut. Ein Teufelskreis. Wer unter diesen Umständen zum Urteil des Verfassungsgerichts schreibt: "Leichte Hiebe mit der flachen Hand bleiben erlaubt", sollte dringend mal ins Wörterbuch schauen und sich vergewissern, dass unter dem Stichwort "Sadist" nicht sein Foto abgedruckt ist.

Reicht es denn nicht, dass laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) 40 Prozent der Haushalte mit den geringsten Einkommen in Deutschland weiter zurückgefallen sind? Dass selbst Menschen mit Mindestlohn nach 45 Beitragsjahren in der gesetzlichen Rentenversicherung auf Grundsicherung angewiesen sein werden? Dass gerade Millionen Alleinerziehende mittlerweile zu den Armen zählen? Dass der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung zwischen 2010 und 2016 von 14,2 auf 16,7 Prozent gestiegen ist? Dass mittlerweile nur noch jeder zweite Beschäftigte unter tariflichen Bedingungen angestellt ist? Und nahezu jeder vierte abhängig Beschäftigte, also rund acht Millionen Menschen, im Niedriglohnsektor arbeitet und weniger als 10,80 Euro pro Stunde verdient? Dass immer mehr Menschen in Deutschland einen Nebenjob brauchen? Dass die Menschen im Osten der Republik immer noch für dieselbe Arbeit weniger Geld verdienen? Wollen wir wirklich in einer solchen Gesellschaft leben?

Die Bundesregierung wird nicht müde, die "Verrohung der Gesellschaft" zu beklagen. Ist das Kürzen des Existenzminimums, der Angriff auf die Menschenwürde, etwa keine Verrohung? Noch dazu eine staatlich legitimierte? Die Bundesregierung warnt auch fleißig vor einem Auseinanderdriften der Gesellschaft, dem Erstarken extremistischer politischer Kräfte "an den Rändern". Doch wer schafft diese "Ränder" und "Randgruppen"?

Seit Jahren weisen Parteiforscher und Soziologen immer und immer wieder darauf hin, dass es vor allem die Angst vor dem sozialen Abstieg ist, die die Menschen umtreibt. Noch nicht einmal der soziale Abstieg selbst, sondern tatsächlich die Angst davor. Denn Hartz-IV-Empfänger haben oftmals schon aufgegeben und gehen nicht einmal mehr wählen. Wo sind jetzt diejenigen, die sich sonst so plakativ Sorgen um die Demokratie machen?

Das Verfassungsgericht hatte die Chance, hier etwas wieder geradezurücken. Den wirklich Abgehängten vielleicht wieder ein Stück Vertrauen in den Staat als Beschützer der Schwächsten zurückzugeben. Chance vertan.

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