Urteil zu Hartz-IV-Sanktionen im November: Existenzminimum nur gegen Wohlverhalten?

Das Verfassungsgericht verkündet in wenigen Wochen sein Urteil zu Leistungskürzungen bei "Pflichtverletzungen". Nach Ansicht des Sozialgerichts Gotha darf das Existenzminimum nicht vom Wohlverhalten abhängig gemacht werden. Das verstoße gegen mehrere Grundrechte.
Urteil zu Hartz-IV-Sanktionen im November: Existenzminimum nur gegen Wohlverhalten?Quelle: Reuters © Uli Deck

von Susan Bonath

Soziale Isolation, Verlust der Wohnung, Verzicht auf notwendige Medikamente, schwerwiegende psychische Probleme, mangelhafte Ernährung bis hin zu zeitweisem Hungerleiden, Flucht in die Kleinkriminalität: Auf derlei gravierende Folgen von Hartz-IV-Sanktionen wiesen vor fast drei Jahren sogar die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages hin. Passiert ist bisher trotzdem nichts. Die Jobcenter sanktionieren ihre Klienten munter weiter, wenn diese sich nicht strikt an auferlegte Regeln halten.

Ähnlich hatte das Sozialgericht im thüringischen Gotha bereits 2015 argumentiert. Mit Hartz IV habe die Bundesregierung das physische und soziokulturelle Existenzminimum bereits auf einem extrem niedrigen Niveau gesetzlich festgelegt, heißt es in ihrer Beschlussvorlage an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Und: Es müsse jedem Bewohner Deutschlands unabhängig vom Verhalten zugestanden werden. Selbst die Karlsruher Richter vertraten in einem Urteil von 2010 diese Auffassung. Danach dürfe die Gewährung des Minimums nur vom tatsächlichen Bedarf abhängen. Ein bestimmtes Verhalten dürfe keine Rolle spielen.

Nun, viereinhalb Jahre später und knapp zehn Monate nach der mündlichen Verhandlung, ist es soweit: Die Karlsruher Richter wollen am 5. November das Urteil verkünden. Geklärt werden soll, ob Hartz-IV-Sanktionen gegen die Grundrechte auf Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit und freie Berufswahl verstoßen. Dies ist der Vorwurf der Gothaer Richter.

Strenge Auflagen plus Strafkatalog

Seit Inkrafttreten von Hartz IV im Rahmen der Agenda 2010 im Jahr 2005 erhalten Menschen, die je nach Alter länger als ein beziehungsweise anderthalb oder zwei Jahre erwerbslos sind, nur noch den Sozialhilfesatz. Bis auf geringe Freibeträge müssen sie zuvor sämtliche Ersparnisse und ihr Vermögen aufbrauchen.

Obendrauf kommt ein strenger Auflagen- und Strafkatalog: Wer einen Termin versäumt, erhält drei Monate lang eine um zehn Prozent geringere Minileistung. Alle anderen "Pflichtverstöße" von zu wenigen Bewerbungen bis hin zu einem abgelehnten Jobangebot sanktionieren die Jobcenter in Stufen. Beim ersten Mal beträgt die Kürzung 30, beim zweiten mal 60 Prozent. Danach fällt die komplette Leistung, inklusive des Mietzuschusses, weg.

Ein noch härteres Vorgehen schreibt das Gesetz gegen Jüngere vor. 15- bis 24-Jährigen soll die Behörde bereits beim ersten Auflagenverstoß den gesamten Regelsatz streichen. Beim zweiten Mal hagelt es eine Totalsanktion. Den Betroffenen drohen Mietschulden bis hin zur Obdachlosigkeit. Rechnungen für Strom oder Telefon können oft nicht mehr bedient werden. Nur Lebensmittelgutscheine sind auf Antrag noch möglich. Allerdings sind diese eine Kann-Leistung und decken nicht das vorgegebene Minimum ab.

Hürdenlauf nach Karlsruhe

Für die Gothaer Sozialrichter war es ein Kraftakt, bis zum BVerfG vorzudringen. Behördensprecher Jens Petermann sagte damals gegenüber der Autorin, dafür müsse ein Gericht erst einmal sämtliche mögliche Fehler der beklagten Behörde abklopfen und dezidiert belegen, warum der Fall nicht individuell zu klären sei.

Beim ersten Versuch gelang dies der Kammer nicht; 2016 stellten die Karlsruher Richter das Verfahren zunächst ein. Denn die zugrunde liegende Entscheidung des Jobcenters Erfurt sei nicht ausreichend auf Formfehler geprüft worden, hieß es. Die Kammer verhandelte neu und wandte sich noch im selben Jahr erneut ans BVerfG. In dem Fall ging um einen jungen Mann, der erst ein Jobangebot, dann eine Probearbeit abgelehnt hatte, wofür er erst zu 30, dann drei weitere Monate zu 60 Prozent sanktioniert wurde.

Schikanen gegen Kranke

Die Verhandlung in Karlsruhe am 15. Januar lässt Betroffene hoffen. Der Erste Senat in Karlsruhe holte sich insgesamt 19 Stellungnahmen ein. Nicht nur Sozialverbände, sondern auch zum Beispiel der Deutsche Anwaltsverein kritisierten darin insbesondere hohe Sanktionen einvernehmlich als grundrechtswidrig.

Letzterer lieferte zudem einige drastische Einblicke in die Praxis. So seien etwa Menschen mit "multiplen Vermittlungshindernissen" besonders oft und hart von Sanktionen betroffen, darunter psychisch Erkrankte, Schwerbehinderte, Alkoholkranke, Jugendliche mit gravierenden Lebensproblemen sowie Menschen, welche die deutsche Sprache in Wort oder Schrift nicht ausreichend beherrschten. Diese Betroffenen wehrten sich nur selten gegen Sanktionen und gerieten besonders schnell auf eine bedrohliche Abwärtsspirale.

Außerdem, so der Anwaltsverein, "besteht in der Praxis der Eindruck, dass gerade bei verhaltensauffälligen Leistungsbeziehern nicht selten sachfremde Erwägungen des Sachbearbeiters hinter einzelnen Sanktionen stehen, die dann im gerichtlichen Verfahren keinerlei Bestand haben." Ebenso komme häufig ein Verdacht auf systematische Schikane auf. Dazu schrieben die Juristen:

Es werden beispielsweise Stellen vermittelt, die jemand gesundheitlich oder psychisch nicht erfüllen kann. Aus der Praxis sind als Beispiele zu nennen: Maßnahmen der Aufheiterung für Senioren im Altersheim durch einen depressiven Leistungsberechtigten; Tätigkeiten mit flexibler Abrufbarkeit für alleinerziehende Mütter; die Hilfstätigkeit 'Spiel und Spaß mit Kindern' für jemanden mit Meniskusriss.

Oft ignorierten die Jobcenter auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, prangerte der Verein an. Es gebe Fälle, wo jemand 20 Vermittlungsvorschläge erhalten und sich auf nur 19 davon beworben habe. Trotzdem habe der Sachbearbeiter hier sanktioniert.

Insgesamt zwölf von insgesamt 19 Stellungnahmen waren derart kritisch. Das BVerfG habe sie auch in der Verhandlung gewürdigt und viele Fragen gestellt, konstatierte die frühere Jobcentermitarbeiterin Inge Hannemann im Gespräch mit der Autorin. Dem entgegen habe sich der Jurist des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS), Ulrich Karpenstein, von der Anwaltskanzlei Redeker Sellner Dahs "nicht besonders glaubwürdig geschlagen." "Er erklärte nur immer wieder, dass der Druck durch Sanktionen nötig sei, weil die Leute sonst nicht mitmachen würden", sagte sie.

Keine Sofortmaßnahmen zu erwarten

Hannemann denkt aber nicht, dass die Strafen gegen die Ärmsten bald Geschichte sein könnten. Allerdings kämen die Richter "wohl nicht darum herum, die härteren Regeln für unter 25-Jährige und die Sanktionen auf die Miete abzuschaffen." Einerseits sei ein Dach über dem Kopf ein immanentes Grundbedürfnis, zudem gehe es hier um den Grundsatz der Gleichbehandlung. Jugendliche werden seit 2007 härter als Ältere bestraft. Totalsanktionen treffen bereits Minderjährige ab 15 Jahren.

Solche Vorschlage unterbreitet Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) seit geraumer Zeit. Ob es möglicherweise zwischen Karlsruhe und der Bundesregierung bereits Absprachen im Vorfeld des Urteils gab, war nicht herauszufinden. Jedenfalls bat der BMAS-Vertreter bei der Verhandlung im Januar darum, der Regierung nach Verkündung des Urteils ein Jahr Zeit einzuräumen. Ein schneller Umsturz ist also nicht zu erwarten.

Sanktionen als Druckmittel gegen Erwerbslose und Beschäftigte

In den letzten Monaten ist die Zahl der Hartz-IV-Betroffenen insgesamt marginal auf 5,8 Millionen gesunken. Dazu gehören knapp zwei Millionen Kinder, etwa 3,9 Millionen Betroffene gelten als erwerbsfähig. Von diesen zählt die Bundesagentur für Arbeit (BA) allerdings weniger als die Hälfte, etwa 1,4 Millionen, als tatsächlich arbeitslos. Der Rest geht entweder einem schlecht bezahlten Job nach und stockt auf, ist krank oder über 58 Jahre alt und "nicht mehr vermittelbar".

Im Jahr 2018 verhängten die Jobcenter laut BA-Statistik insgesamt 904.000 neue Sanktionen unterschiedlicher Höhe gegen gut 403.000 über 14-jährige Leistungsbezieher. Damit entfielen auf jeden Betroffenen im Schnitt mehr als zwei Strafen. Das stützt die Praxiserfahrungen des Anwaltsvereins: Viele Menschen werden mehrfach pro Jahr sanktioniert, weil sie sich aus verschiedenen Gründen gar nicht an die Regeln halten können.

Nach Ansicht der Partei Die Linke, die in diesem Fall auch die Autorin vertritt, dienen die Sanktionen nicht nur dazu, Leistungsbezieher in Angst zu versetzen und so von ihnen Gehorsam zu erzwingen. Sie seien vor allem ein Druckmittel gegen noch in Lohnarbeit Beschäftigte. Aus Furcht, in das repressive Hartz-IV-System zu rutschen, seien diese weit weniger bereit, sich gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne zu wehren. Auch Gewerkschaften würden so geschwächt.

Autoritäre Sanktionsverfechter: CDU, CSU, FDP und AfD

Zuletzt hatten die Fraktionen der Linken und Grünen im Bundestag im Juni 2018 die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen beantragt. Sie waren an allen anderen Parteien gescheitert, die sich dafür ausgesprochen hatten. So warf beispielsweise Jörg Schneider von der AfD den Linken und Grünen vor, "schon sehr realitätsfern" zu sein. Denn erstens handelten Jobcenter nach seiner Einschätzung "sehr wohl verantwortungsvoll". Zweitens gehe es ohne Druck nicht.

Und so führte Schneider den gern auch von der FDP, der CDU oder CSU genutzten populistischen Vergleich mit dem abhängig beschäftigten Lohnarbeiter an. Der müsse schließlich auch Urlaubsanträge stellen, wenn er frei haben wolle. So sei es nur gerecht, wenn ein Hartz-IV-Bezieher eben genauso für einen versäumten Termin bestraft wird, überzeugte Schneider das rechte Lager im Bundestag von seinem autoritären Weltbild mit ähnlichen Worten, wie kurz darauf Matthias Zimmer von der CDU/CSU-Fraktion. In diese Richtung argumentierten ferner die FDP sowie Frauke Petry als fraktionslose Vertreterin. Letztere bezeichnete einen Verzicht auf Sanktionen gar als "Schritt in ein totalitäres System." 

Beide verschwiegen allerdings geflissentlich, dass es sich bei Hartz IV, anders als beim Lohn, um das absolute Existenzminimum handelt. Ebenso ließen sie die Tatsache außen vor, dass gerade dieser Druck auf Erwerbslose zu derartiger Angst bei Beschäftigten vor Entlassung führt, dass Unternehmen die Arbeitsbedingungen immer weiter verschlechtern können, ohne Gegenwehr zu fürchten.

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