Österreich – wer die Wahl hat, hat die Qual

Die Wahlen in Österreich sind gelaufen. Wie geht es jetzt weiter? Kurz, aber nicht schmerzlos, möchte man unken, wenn man über die anstehende Koalitionsbildung lästern will. Kommt nun das Rechtsabbiegen mit grünem Pfeil, quo vadis, Österreich?
Österreich – wer die Wahl hat, hat die QualQuelle: Reuters © Lisi Niesner

von Pierre Lévy

Am 29. September waren 6,4 Millionen Wähler in Österreich zu den Wahlurnen für einen neuen Nationalrat gerufen. 75,1 Prozent Wahlberechtigte haben teilgenommen, also knapp fünf Prozent weniger als bei den letzten Wahlen im Oktober 2017.

In einem Punkt zumindest sind sich alle Analysten einig: Mit 37,5 Prozent aller Stimmen ging die ÖVP (konservative Rechte) als klarer Sieger – und Gewinner – hervor: Bei den Wahlen 2008, 2013 und 2017 erreichte diese Partei erst 26, danach 24 bzw. 31,5 Prozent. Dieses vorige, vor zwei Jahren erzielte Ergebnis war bereits bemerkenswert, war die Folge eines Blitzangriffs, den der damals gerade erst 31-jährige Sebastian Kurz auf seine alternde und sich im Niedergang befindliche Partei gestartet hatte. Er konnte so als Jungstar im Mai 2017 erst die Führung der ÖVP erobern, weil er versprach, die "Große Koalition" zu beenden. Im Oktober 2017 triumphierte er landesweit bei den Wahlen und übernahm das Kanzleramt, indem er kurzerhand mit der berüchtigten FPÖ ein Bündnis schloss – einer Partei, die oft als rechtsradikal eingestuft wird.

Letztere hatte ihren Wahlkampf gegen die Einwanderung geführt, ein sehr explosives Thema auch in diesem Land: Hunderttausende Flüchtlinge hatten während des Höhepunkts der Krise 2015/2016 in Österreich Asyl gesucht oder das Land durchquert. Mit 26 Prozent der abgegebenen Stimmen für die FPÖ wurde deren Chef, Heinz-Christian Strache, somit zum Vizekanzler ernannt. Insbesondere die Innen- und Außenministerien wurden dieser Partei oder ihr zumindest nahestehenden Persönlichkeiten übertragen.

Eine solche Allianz zwischen einem Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP, als ein bürgerlich-konservatives bis national-rechtspopulistisches Parteienbündnis) und der FPÖ als einer Gruppierung, der angeblich ganz eindeutig rechtsextremer Schwefelgeruch anhaftet, hatte es zwar schon zuvor gegeben, nämlich zwischen 2000 und 2005. Damals boykottierte die EU-Führungsriege noch Österreich für derlei Frevel, bevor sich solche Haltung letztlich für Brüssel als Fiasko erwies.

Die Koalition 2017 wurde dagegen in einem ganz anderen Kontext gebildet. Sie schien bei einer Mehrheit der Bürger beliebt zu sein, zumindest bis zu jenem Skandal im vergangenen Mai, der sofort "Ibiza-Gate" getauft wurde, nach dem Namen der spanischen Insel, auf der Herr Strache in eine sperrangelweite Falle getappt war: Eine Frau, die als "Agentin", also Vertreterin eines (wie passend!) russischen Oligarchen auftrat, schlug Herrn Strache vor, seine Partei im Austausch für wirtschaftliche Privilegien zu finanzieren. Herr Strache zeigte sich wirklich sehr interessiert. Zwar war alles war von vorn bis hinten erfunden, aber die gut eingefädelte Szene wurde natürlich gefilmt. Die Veröffentlichung löste natürlich einen Aufschrei aus, der den Politiker zum Rücktritt zwang. Und auch seine Partei distanzierte sich selbstverständlich sofort.

Wenige Wochen später gelang es der ÖVP und FPÖ nicht mehr, ein neues Kabinett zu bilden, da Erstgenannte drakonische Vorbedingungen stellte. Die FPÖ stimmte daraufhin – zusammen mit der sozialdemokratischen Opposition – für einen Misstrauensantrag gegen Bundeskanzler Kurz. Dieser musste also zurücktreten und wurde durch ein rein technisches Interims-Kabinett ersetzt, das sich um die anstehenden Aufgaben kümmern sollte.

Bei den Wahlen vom 29. September ging es also auch darum, die bleibenden Auswirkungen des Skandals auf die FPÖ zu messen. Mit 16,2 Prozent der Stimmen verlor sie fast 10 Prozent gegenüber 2017. Auch in den Jahren 2008 und 2013 lagen ihre Ergebnisse mit 17,5 bzw. 20,5 Prozent noch ein wenig höher, was aber den aktuellen Rückschlag immerhin etwas relativiert. Analysen zufolge stimmten viele ihrer Wähler nun entweder für die Partei von Herrn Kurz oder haben sich dieses Mal ihrer Stimme enthalten.

Die Sozialdemokratische Partei befindet sich aktuell dagegen weiter im freien Fall – ähnlich wie ihre große deutsche Schwester – nämlich mit einem historisch niedrigen Wert von 21,2 Prozent. Bei den früheren Wahlen hatte sie nacheinander noch 29,2 Prozent, 26,8 Prozent und 26,9 Prozent erreicht. Noch bis in die 2000er Jahre konnte sie jedoch mehr als ein Drittel der Wählerstimmen auf sich versammeln.

Neos, eine von einem Oligarchen geschaffene Gruppierung, die sich offen zum Ultralilberalismus bekennt, gewann 8,1 Prozent der Stimmen, ein Plus also von 2,8 Prozent gegenüber 2017 (nachdem sie bei den beiden vorangegangenen Wahlen jeweils um die 5 Prozent erreicht hatte).

Und das Ergebnis der Grünen wurde von allen Seiten als historische Leistung gewürdigt. Sie erhielten 13,8 Prozent der Stimmen, ein sattes Plus von 10 Prozent im Vergleich zu 2017. In jenem Jahr wurden die Ökologie-Verfechter noch von verheerenden internen Konflikten geplagt, hatten sie doch in den Jahren 2008 und 2013 noch 10,4 bzw. 12,4 Prozent errungen – Werte, die nicht sehr weit von ihrem Ergebnis von 2019 liegen.

Welche Partner werden Herr Kurz und seine Partei nun für eine Koalition auswählen? Von diesem Thema sind jetzt alle Analysten wie besessen.

Um eine Mehrheit zu bilden, könnte die ÖVP ihre Beziehung zur FPÖ wiederbeleben wollen, eine politisch kohärente Perspektive: Die Programme der beiden Kräfte unterscheiden sich nicht sehr stark voneinander – insbesondere im Hinblick auf eine strenge Einwanderungskontrolle und die Wahrung der österreichischen Identität. Ebenso haben die Wähler viele gemeinsame Merkmale, insbesondere ihre starke Verwurzelung in Kleinstädten und ländlichen Gebieten.

Enttäuscht von ihrem Ergebnis verkündete die FPÖ-Führung jedoch am Tag nach der Wahl, dass sie es nun vorziehe, neue Kräfte als Opposition zu sammeln – obwohl sie sich vor den Wahlen noch für eine weitere Koalition mit der Kurz-Partei ausgesprochen hatte, "damit diese keine 'linke' Politik betreibt". Zur Bilanz der scheidenden Legislaturperiode gehört nämlich auch, dass besonders drakonische Maßnahmen gegen die Arbeitswelt ergriffen wurden, besonders was größere Freiheiten für Unternehmen angeht, Überstunden ganz nach Belieben zu bezahlen und zusätzliche Möglichkeiten zur Verlängerung von Arbeitszeiten zu nutzen.

Die Aussicht auf ein Bündnis mit den Grünen (die ihre Forderungen auf die Themen Klima und europäische Integration, nicht aber auf soziale Fragen konzentrieren) steht im Mittelpunkt der Prognosen. Das lag bereits vor den Wahlen auf dem Tisch, allerdings in einer Konfiguration, die Neos mit einbezogen hätte (was viel darüber sagt, wieviel Raum den sozialen Fragen eingeräumt worden wäre). Nach der Wahl verfügen ÖVP und Grüne jedoch nun bereits über eine arithmetische Mehrheit, ohne dass ein Dreier-Bündnis erforderlich ist.

Eine solche Zweierkoalition gibt es bereits in mehreren Bundesländern, und sie entspricht wahrscheinlich den Wünschen der regionalen ÖVP-Fürsten. Andererseits wäre dies ein politisches Risiko für Herrn Kurz, der seine Erfolge seiner rigorosen Haltung zu Migration und Kulturkonservatismus verdankt. Die auf der Grundlage ihres guten Stimmenanteils von den Grünen geforderten Bedingungen scheinen in diesem Zusammenhang mit der Linie des zukünftigen Kanzlers unvereinbar zu sein.

Eine letzte Hypothese spricht von der Bildung einer Regierung ohne ein stabiles Bündnis, bei der Sebastian Kurz versuchen würde, jeweils Ad-hoc-Mehrheiten zu bilden. Am Tag nach der Wahl wollte er zunächst so wenig wie möglich über seine Absichten sagen.

In Brüssel zeigte man indess diskrete Genugtuung, weil "die Populisten" in die Opposition zurückgedrängt wurden, und einige zogen sogar den Vergleich mit Italien, wo die Liga ebenfalls überraschenderweise die Regierung verlassen musste. Diese Erleichterung ist umso erwähnenswerter, als die FPÖ ein Kooperationsabkommen mit der Partei 'Einiges Russland' (die Wladimir Putin unterstützt) pflegt. Die europäischen Staats- und Regierungschefs erschauerten besonders bei der Vorstellung, dass Informationen der österreichischen "Dienste" über das Innenministerium nach Moskau gelangen könnten. Einige Analysten schließen daher nicht aus, dass womöglich die deutschen Dienste an der Falle gegen Herrn Strache beteiligt waren, um jene 2017 ins Leben gerufene Koalition aufzulösen, zumindest um den bei der ÖVP umstrittenen FPÖ-Innenminister Herbert Kickl zu entfernen. Die Falle könnte aber anderseits auch auf interne oder persönliche Konflikte innerhalb der FPÖ zurückzuführen sein.

Brüssel sollte sich dennoch nicht zu früh freuen, denn einige Grundsätze der österreichischen Politik wurden durch diese Wahl eher bestätigt: Der persönliche Sieg für Sebastian Kurz, der zwar die Zugehörigkeit seiner Partei zur EVP nicht in Frage stellt, aber einen bestimmten Flügel repräsentiert; die FPÖ mit ihrem nicht zu vernachlässigenden Stimmenanteil (höher als der der Grünen), die trotz eines Skandals von beispielloser Tragweite noch ihren dritten Rang halten konnte; und ein erneuter, weiteren Niedergang der Sozialdemokraten, obwohl die skandalöse Situation für sie eigentlich von Vorteil gewesen war.

Daher steht die Wiederbelebung einer großen Koalition zwischen ÖVP und SPÖ weniger auf der Tagesordnung als je zuvor. Diese Konfiguration war in Wien jahrzehntelang übliche Praxis und hatte letztlich zu einer Ablehnung dieser traditionellen Politik geführt, die auf dem fein austarierten Konsens von "Mitte-Rechts" und "Mitte-Links" basierte und damit Vetternwirtschaft herbeiführte, ein ach so typisches Modell von europäischer Integration.

Die Verhandlungen zwischen den politischen Kräften werden nun Wochen, vielleicht sogar mehrere Monate dauern. Bis dahin wird viel Wasser durch die Donau geflossen sein. Und wer weiß, ob am Ende nicht doch wieder ein ÖVP-FPÖ-Bündnis auf der Tagesordnung steht?

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