"Wind of Change" – Über den exquisiten Musikgeschmack einer scheidenden Verteidigungsministerin

Am Donnerstagabend wurde Ursula von der Leyen mit großem Tamtam als Ministerin verabschiedet. Unter den drei Musikstücken, die sie sich für den "Großen Zapfenstreich" aussuchte, befand sich auch der Perestroika-Song der Scorpions "Wind of Change". Ausgerechnet!
"Wind of Change" – Über den exquisiten Musikgeschmack einer scheidenden VerteidigungsministerinQuelle: AFP

von Leo Ensel

Bekanntlich darf sich jeder scheidende deutsche Bundeskanzler, Bundespräsident und Verteidigungsminister – ab sofort selbstverständlich auch jede scheidende Verteidigungsministerin – für den zur Verabschiedung mit großem Pomp und (Preußens) Gloria öffentlich zelebrierten sogenannten "Großen Zapfenstreich" drei bis vier Musikstücke oder Lieder selbst aussuchen.

Psychoanalytisch ausgerichtete Psychologen würden die jeweilige Auswahl vermutlich als "projektiven Test", das heißt als indirekte Selbstaussage über die Persönlichkeit des oder der Geehrten lesen. Frei nach dem Motto: "Nenn mir dein Lied und ich sag dir, wer du bist!" So wählte beispielsweise Ex-Bundeskanzler Schröder bei seiner Verabschiedung Frank Sinatras "I did it my way", der frisch seines Doktorgrades entkleidete Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg dagegen entschied sich sinnigerweise für – heiße Luft! – "Smoke on the Water", während die Wahl seines Nachfolgers Thomas de Maizière – als Chef einer gigantischen Tötungsmaschinerie – ausgerechnet auf "Life is Life" fiel.

Ursula von der Leyens Musikwünsche für ihren Abschiedszapfenstreich nun waren ein dreifaches Sakrileg, geboren aus – man kann sich das aussuchen – Unbildung oder Zynismus. Man lasse sich das auf der Zunge zergehen: Mozarts Motette "Ave verum corpus", Beethovens Hymne "Freude, schöner Götterfunken" aus seiner Neunten und schließlich – man traut seinen Augen, genauer: seinen Ohren nicht! – ausgerechnet der Perestroika-Song, das Lied zum Ende des (ersten) Kalten Krieges: "Wind of Change" von den Scorpions!

Schauen wir uns von der Leyens exquisiten Musikgeschmack etwas genauer an:

Da ist zunächst Mozart. Es sträuben sich einem die Haare zu Berge bei der Vorstellung, dass dessen inniglich-fromme und äußerst zurückhaltend instrumentierte Motette zur katholischen Eucharistiefeier "Ave verum corpus" ("Sei gegrüßt, Du wahrer Leib"), die nach ausdrücklicher Anweisung des Komponisten "sotto voce", also  mit gedämpfter Stimme vorgetragen werden soll, nun mit tosendem Tschingderassabum einer Bundeswehrblaskapelle dröhnend in den Bendlerblock posaunt wird! So etwas grenzt schon fast an Blasphemie.

Beethoven: Es gibt begründete Annahmen – und Leonard Bernstein hat dies in seinem legendären Konzert nach dem Mauerfall auch so realisiert –, dass die Titelzeile der von Beethoven so ekstatisch vertonten Hymne in Schillers ursprünglicher Fassung "Freiheit, schöner Götterfunken" gelautet hatte, dieser aber unter dem Druck der Zensur sein Gedicht entschärfen musste. Der Freiheit über alles liebende Beethoven stand dieser Idee jedenfalls sehr nahe! Beethovens und Schillers bejubelte Utopie der befreiten und mit sich selbst versöhnten Menschheit nun für ein System extremer Unfreiheit, die Armee, zu vereinnahmen, das ist freilich an Zynismus kaum zu überbieten!

Beides ist bereits schlimm genug. Was von der Leyen allerdings mit dem Lied der Scorpions, "Wind of Change"anstellt, grenzt an Vergewaltigung! Und zwar an Notzucht in aller Öffentlichkeit. Schließlich handelt sich hier nicht um einen x-beliebigen Popsong – dem Scorpions-Sänger Klaus Meine war im Herbst 1989 – noch vor dem Mauerfall – nichts weniger als die Perestroika-Hymne, das Lied zur Feier für das Ende des Kalten Krieges gelungen!

Zur Erinnerung: Das lyrische Ich – es kommt erkennbar aus dem Westen – folgt im Liedtext dem Verlauf der Moskwa, bis zum Gorkipark hinunter, und ist einfach nur glücklich über den überall spürbaren Wind der Veränderung, der ja schließlich auch das unerwartete Ende der Ost-West-Konfrontation bedeutete! Klaus Meines Lied atmet denselben Spirit wie die ein Jahr später verabschiedete "Charta von Paris": den Traum von Gorbatschows "Gemeinsamem europäischen Haus", ja sogar von Kants "Ewigem Frieden", der damals für einen Wimpernschlag der Weltgeschichte durchaus in Reichweite schien! Nicht zufällig ist ja im Refrain von den kommenden Generationen, den "Children of tomorrow" die Rede, die über die Grenzen der ehemals verfeindeten, bis an die Zähne bewaffneten Militärblöcke hinweg mit den Menschen der Gegenwart ihre Träume teilen! Klaus Meines Hymne "Wind of Change" hat diese Sternstunde, den "Magic of the Moment" eingefangen, kongenial in Verse gefasst und konserviert. Und ist zu Recht dafür weltberühmt geworden!

Gottseidank liegt Klaus Meine noch nicht im Grab, sonst wäre er nun gezwungen, dort Pirouetten zu drehen! Hieß es in seinem Lied noch perestroikaselig: "Did you ever think / That we could be so close, like brothers", so wurde und wird Ursula von der Leyen als Verteidigungsministerin und künftige EU-Kommissionspräsidentin zu warnen nicht müde, Russland verstehe nur die "Sprache der Stärke"! Entsprechend ist sie mitverantwortlich für die neue Aufrüstungspolitik und dafür, dass deutsche Soldaten nun wieder im Baltikum direkt vor Russlands Haustür stationiert sind und dort den Krieg üben. "Wind of Change" scheint ihr also genau das Gegenteil dessen zu bedeuten, was der Autor des Liedes einst intendiert hatte: Nun ist damit Abkehr von der Entspannungspolitik und Rückkehr zum Kalten Krieg gemeint!

Kurz: Ursula von der Leyen bringt die Chuzpe auf, den Sinn des Liedes in Orwell-Manier glatt ins Gegenteil zu verkehren – und lässt sich dabei auch noch öffentlich feiern! Dabei trifft sie leider durchaus den Zeitgeist: Die ehemaligen "Children of tomorrow" sind nun Dreißig und gerade dabei, sich erneut zu verfeinden.

Wie hieß es noch so zukunftsfroh vor dreißig Jahren im Lied:

The wind of change blows straight
Into the face of time
Like a storm wind that will ring
The freedom bell for peace of mind

Aber im richtigen Leben verhält es sich mit dem "Wind of Change" halt doch etwas anders: Er weht, wie der biblische Geist, wohin er will! Und manchmal bläst er einem tatsächlich direkt ins Gesicht. Dabei kann es allerdings auch passieren, dass er als Orkan einen um Jahrzehnte in der Zeit zurückbeamt!

Bis in jene paläontologischen Urzeiten des Kältesten Krieges, in denen von einem "Wind of Change" niemand auch nur zu träumen wagte!

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