Nach EuGH-Urteil zu polnischer Justizreform: Warschau kontert mit argumentativen Eigentor

Der EuGH verurteilte die von der polnischen Regierung eingeleitete Justizreform als unzulässigen Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz. Warschau wiederum spricht von einer unzulässigen Einmischung - gibt aber mit seiner Argumentation dem EuGH indirekt recht.
Nach EuGH-Urteil zu polnischer Justizreform: Warschau kontert mit argumentativen EigentorQuelle: www.globallookpress.com

von Pierre Lévy

Der Richterspruch wurde bereits erwartet. Am 24. Juni hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein Urteil zugunsten der Europäischen Kommission gegen Polen gefällt. Brüssel hatte Warschau wegen einer Reform angegriffen, die unter anderem das Ruhestandsalter für Richter am polnischen Obersten Gerichtshof (OGH) senkte. Richterinnen sollten demnach im Alter von 60 Jahren und Richter im Alter von 65 Jahren in den Ruhestand treten. EuGH-Richter hatten die polnische Justizreform für rechtswidrig erklärt. Laut ihnen verstoße sie gegen das EU-Recht. 

Es handelt sich dabei nicht um das erste Urteil vonseiten der Luxemburger Richter, die auf diese Weise einen sozialen Fortschritt blockieren. Diesmal beziehen sich die EU-Richter auf einen vermutlichen Angriff auf die Unabhängigkeit der polnischen Justiz. Denn das insgeheime Ziel der Regierung sei es, Richter des Obersten Gerichtshofs loszuwerden, die mit der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS, konservative Rechte) nicht einverstanden sind, sagt der EuGH. Das ist auch die Meinung der OGH-Präsidentin Małgorzata Gersdorf, die selbst aufgrund ihres Alters betroffen ist, aber in ihrer Position bleiben will. Warschau hatte kürzlich bewilligt, dass sie diese beibehalten darf. 

Das Urteil stützt sich insbesondere auf die Tatsache, dass dem Präsidenten der Republik laut einer der Bestimmungen der Reform das Recht eingeräumt wird, den Dienst von Richtern über das vorgeschriebene Alter hinaus auszudehnen. Der EuGH sieht darin einen Ermessensspielraum und damit eine Bedrohung für die Unabhängigkeit der polnischen Justiz von der Exekutive. 

Die polnische Regierung hat unverzüglich das Urteil angefochten, das sich in die interne Organisation der Institutionen des Landes einmischt, einen Bereich, in dem die EU grundsätzlich kein Mandat innehat. Diese Empörung ist vollends legitim. Zumal die Reform offiziell darauf abzielt, das Rentenalter der OGH-Richter mit dem normalen Recht in Einklang zu bringen. 

Die PiS hat jedoch zweifelhafte Argumente aufgestellt. Sie hatte die Reform mit der Begründung angestoßen, dass Richter aus "der kommunistischen Ära" ("Nostalgiker des Kommunismus") ersetzt werden müssten. Eine solche Aussage bedeutet, dass die Regierung anerkennt, dass sie bestimmte Richter loswerden will, nicht aufgrund von Vorwürfen über die Ausübung ihrer Pflichten, sondern auf Grundlage ihrer vermuteten Meinungen. 

Es ist verwunderlich, dass dieser Punkt vom EuGH nicht angesprochen wurde. Generell sieht die EU-Führung nichts Falsches darin, wenn die Regierung eines Mitgliedsstaates unverblümt erklärt, dass sie eine Hetzjagd gegen "Nostalgiker für den Kommunismus" durchführen will. Dies ist seit langem der Fall, nicht nur in Polen, sondern auch in einer Reihe weiterer osteuropäischer Länder. Dies steht eindeutig nicht im Widerspruch zum europäischen Recht und zu den "Werten", auf die Brüssel sich jeden Morgen beruft … 

Mit diesem Argument schießen sich die polnischen Führer jedoch ins eigene Knie: Sie bestätigen den Vorwurf des EuGH, dass die Motive politisch willkürlich seien.  

Selbstverständlich begrüßte die Europäische Kommission das Luxemburger Urteil umgehend und betonte, dass "wechselseitiges Vertrauen zwischen den Mitgliedsstaaten" im Justizbereich von der "Unabhängigkeit" eines jeden Einzelnen abhänge. 

Andererseits war die Kommission darauf bedacht, sich nicht auf die "Empfehlungen" zu beziehen, die sie Anfang Juni an die Mitgliedsländer gerichtet hat. Diese "Empfehlungen" sind in der Tat der Fahrplan, der es Brüssel erlaubt, Überwachung, Kontrolle und Steuerung über die nationale Politik auszuüben, im Haushalts-, Wirtschafts- und auch im Reformbereich. Sie fallen in den Rahmen der im Jahr 2010 eingeführten aufdringlichen "Governance", die die durch den Stabilitätspakt auferlegten Einschränkungen verschärft. 

Diese "Reformen" müssten "beschleunigt" werden, so das Leitmotiv aus Brüssel in diesem Jahr. In dem an Polen gerichteten Dokument wird beispielsweise dazu aufgefordert, "Maßnahmen zur Erhöhung des tatsächlichen Rentenalters" zu ergreifen. 

Für alle Polen, nicht ausschließlich für die Richter...

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