"Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden" – Horst Teltschiks Plädoyer für eine neue Entspannungspolitik

Der immer enger werdende Meinungskorridor in Zeitungen und Fernsehen gilt zum Glück nicht für den Büchermarkt, wo nach wie vor Bände erscheinen, die dem Mainstream fundiert Paroli bieten. Dazu gehört auch die jüngst erschienene Studie des ehemaligen Kanzleramtsministers Horst Teltschik.
"Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden" – Horst Teltschiks Plädoyer für eine neue EntspannungspolitikQuelle: www.globallookpress.com

von Leo Ensel

Es sind nach wie vor die Elder Statesmen der allmählich aussterbenden Politikergeneration, die Ende der Achtziger Jahre den ersten Kalten Krieg erfolgreich beendete, die am Wirkungsvollsten Sand ins Getriebe des medialen Mainstreams streuen. Die Akteure der ersten Reihe weilen – bis auf Michail Gorbatschow – fast alle nicht mehr unter den Lebenden. Aber viele derjenigen, die damals mit der notwendigen filigranen Feinarbeit im Hintergrund betraut waren, wie beispielsweise der Ex-Diplomat und Genscher-Vertraute Frank Elbe, melden sich nach wie vor regelmäßig mit abweichenden Statements zur neuen Konfrontation zwischen NATO und Russland zu Wort.

Nun hat auch der ehemalige Kanzleramtsminister, Mitarchitekt der deutschen Einheit und langjährige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Horst Teltschik, ein Buch veröffentlicht, das ausführlich seine Sicht der Eskalation bis an den Rand eines neuen Kalten Krieges darlegt. „Russisches Roulette – Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden“ ist der Band betitelt. Schon der Klappentext gibt die Richtung vor:

Horst Teltschik erinnert daran, welche ungeahnten Chancen sich 1989/90 ergaben, eine dauerhafte Friedensordnung zu schaffen und erklärt, warum nichts daraus wurde. Dabei zeigt sich, dass die NATO mehr Grund zur Selbstkritik hätte, als viele meinen und die russischen Handlungen nicht nur, aber auch Reaktionen auf das Verhalten des Westens sind.

Und auf einer der ersten Seiten heißt es:

Wir sollten alles daran setzen, dass der Ost-West-Konflikt nicht zurückkehrt und dass wir die Sicherheitssysteme bewahren oder wieder in Kraft setzen, die zu seiner Überwindung geschaffen wurden.

Damit ist der Grundtenor gesetzt. Und Teltschik holt weit aus. Ausführlich beschreibt er die Vorgeschichte der Entspannungspolitik der Siebziger Jahre unter der Regierung Brandt und Scheel. Dabei wird er nicht müde zu betonen, dass damals auch im Kältesten Krieg dramatische Krisen zwischen den Supermächten diese auf längere Sicht nicht daran hinderten, im Interesse des eigenen Überlebens immer wieder erfolgreich Signale der Deeskalation zu setzen: So war eine Konsequenz der brandgefährlichen Kubakrise vom Herbst 1962 die Verbesserung der Kommunikation zwischen beiden Staatschefs, sprich, die Einführung des „Roten Telefons“. Am 10. Juni 1963 folgte Präsident Kennedys „Friedensrede“, bei der er erstmals öffentlich die Leiden der Sowjetbürger während des II. Weltkrieges würdigte, einen Atomkrieg als sinnlos bezeichnete und auf die Notwendigkeit eines „höheren Maßes an Kontakt und Kommunikation“ verwies.

Teltschik schildert anschaulich, wie konstruktiv der Kreml auf Kennedys Worte reagierte: Der sowjetische Generalsekretär Nikita Chruschtschow bezeichnete Kennedys Vortrag als „größte Rede eines amerikanischen Präsidenten seit Roosevelt“ und ließ sie in den sowjetischen Medien unzensiert veröffentlichen. Unmittelbar darauf begannen Verhandlungen über ein Verbot von Atomwaffentests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser, die bereits am 5. August 1963 erfolgreich abgeschlossen werden konnten. Mit dem „Harmel-Bericht“ vom Dezember 1967 legte sich die NATO schließlich auf die Säulen „Sicherheit und Entspannung“ fest. (Heute dagegen lautet die offizielle Formel bezeichnenderweise „Abschreckung und Dialog“!)

Wie Krisen durch umsichtige Politik entschärft werden konnten, demonstriert Teltschik am Beispiel Willy Brandts: Dieser griff im Frühjahr 1969, ein halbes Jahr nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, Nikita Chruschtschows Vorschlag einer Europäischen Sicherheitskonferenz von Anfang der Sechziger Jahre wieder auf und bereitete damit den Weg zur „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE), dem Vorläufer der heutigen OSZE, und zur Schlussakte von Helsinki vom Sommer 1975. Parallel dazu gelangen erste Abrüstungs- und Rüstungskontrollabkommen der Supermächte wie der SALT I-Vertrag zu Obergrenzen strategischer Waffen und der – von den USA 2001 einseitig gekündigte – ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen.

Einen Flashback bei der Lektüre erlebt man allerdings als ehemaliger Aktivist der Proteste gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen (Pershing II und Cruise Missiles) Anfang der Achtziger Jahre, wenn Teltschik in der Retrospektive nochmals affirmativ die Positionen von Helmut Schmidt und Helmut Kohl in der Nachrüstungsdebatte nachbetet. Hier tun sich für einen Moment noch einmal die Differenzen von damals auf. Umso schwerer wiegt jedoch vor diesem Hintergrund Teltschiks ausführliche Darlegung der verpassten Chancen seit dem Ende des (ersten) Kalten Krieges. Die Euphorie zu Beginn der Neunziger Jahre schwingt in seinem Kommentar zur „Charta von Paris“ noch deutlich mit: „Eine solche Chance hatte es in der Geschichte des euro-asiatischen Kontinents noch nie gegeben!“

Die verpassten Chancen selbst rechnet Teltschik auf westlicher, genauer: deutscher Seite weniger zielgerichtetem Handeln als schlichter Überforderung angesichts einer Vielzahl politischer Probleme Anfang der Neunziger Jahre zu. Man mag diese Sicht teilen oder auch nicht, Teltschik listet jedenfalls in der Folge die Versäumnisse des Westens penibel auf. Und wird dabei erfreulich konkret. Da ist zunächst die beginnende Entfremdung in der Jelzin-Ära, als sich die erste NATO-Osterweiterung bereits abzeichnete, die Nicht-Ratifizierung des A-KSE-Vertrages über konventionelle Abrüstung in Europa durch die NATO-Staaten und nicht zuletzt der NATO-Angriff auf Jugoslawien, bei dem Teltschik klar betont, dass dieser ohne UN-Mandat erfolgte. Putins Rede vor dem deutschen Bundestag vom 25. September 2001, nach der er Standing Ovations erntete, wird von Teltschik ausführlich referiert.

Und ohne zum „Putinversteher“ zu mutieren, macht Teltschik die Enttäuschung des russischen Präsidenten nachvollziehbar, die schließlich auf der Münchner Sicherheitskonferenz vom Februar 2007 in dessen bekannter – und im Mainstream stets unvollständig zitierten – Rede vorerst gipfelte. Teltschik: „Es war kein Wille spürbar, positive Aussagen des russischen Präsidenten hervorzuheben und zu unterstreichen.“

Letzteres holt Teltschik, damals noch Leiter der Sicherheitskonferenz, in seiner Retrospektive ausführlich nach. Ähnlich erzählt er unter anderem die Geschichte des amerikanischen Raketenabwehrsystems vor der russischen Haustür, die Geschichte der ‚bunten Revolutionen‘ und der westlicherseits immer wieder ignorierten russischen Offerten in Richtung gemeinsamer Sicherheits- und Wirtschaftsräume. Das Referendum zur Abspaltung der Krim vom März 2014 bezeichnet Teltschik aufgrund der zeitgleichen Anwesenheit russischer Kräfte klar als illegal, weist zugleich aber darauf hin, dass zuvor die ukrainische Rada am 22. Februar Präsident Janukowitsch für abgesetzt erklärt hatte, ohne dafür die formalen Vorgaben der ukrainischen Verfassung vollständig einzuhalten.

Insgesamt zeigt Teltschiks Erzählung der neuerlichen Konfrontation zwischen NATO und Russland „eine Spirale des gegenseitigen Misstrauens, wobei Moskau immer wieder auch Signale seiner grundsätzlichen Kooperationsbereitschaft aussandte und der Westen es insbesondere in der Schlüsselzeit 2007/08 an Kompromissbereitschaft fehlen ließ. In dieser Interpretation geht es Russland in erster Linie um Sicherheit und darum, weiterhin ein eigenständiges Machtzentrum zu bleiben.“

Demgegenüber verfolgt die NATO gegenwärtig, laut Teltschik, „eine unflexible, starre Strategie, die einerseits darauf setzt, dass der Gegner nachgibt, wenn man nur geschlossen hart bleibt und keinen Zweifel an der eigenen Bereitschaft zur weiteren Eskalation lässt.“ Diese von Washington und den osteuropäischen NATO-Staaten favorisierte Konfrontationspolitik führe nur zu einer immer weiteren Verschlechterung der Beziehungen und gefährde letztlich den Frieden. 

Mit dieser Erzählung liegt Teltschik eindeutig quer zum Mainstream.

Zugegeben: Versierte „Russlandversteher“ werden in Teltschiks „Russisches Roulette“, abgesehen von einigen aufgrund des Freedom of Information Act kürzlich freigegebenen Washingtoner Interna, wenig Neues finden. Die immer wieder zitierten 80 Prozent der deutschen Bevölkerung aber, die sich seit Jahren ein besseres Verhältnis zu Russland wünschen und von denen die Wenigsten an den Rändern des politischen Spektrums angesiedelt sind, benötigen fundierte Fakten einer Person ihres Vertrauens. Und die werden hier geliefert. 

Dünn ist leider der lösungsorientierte Teil des Bandes geraten. Teltschik postuliert zwar eine neue Entspannungspolitik und die Rekonstruktion des Vertrauens, bleibt aber im Detail bemerkenswert nebulös. Natürlich ist es nicht falsch, zu konstatieren, dass ein gewisser Vertrauensvorschuss auch bedeutet, „dass man selbst bereit sein muss, sich einem gewissen Risiko auszusetzen, dass das entgegengebrachte Vertrauen missbraucht oder nicht mit gleichem Vertrauen beantwortet“ werden kann. Wie aber konkrete Schritte aus der Konfrontation heraus aussehen könnten, diese Antwort bleibt Teltschik leider schuldig. Hier war die ehemalige Russlandkorrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, in ihrem vor anderthalb Jahren erschienenen Band „Eiszeit“ – nach wie vor die fundierteste Studie zum Neuen Ost-West-Konflikt – erheblich konkreter.

Teltschiks Buch, auch das muss angemerkt werden, ist nicht frei von persönlichen Eitelkeiten. Bisweilen hat man den Eindruck, in das private Fotoalbum des Autors geraten zu sein, wenn man auf den beigefügten Abbildungen von Kohl über Gorbatschow und Reagan bis hin zu Angela Merkel und Wladimir Putin keine politische Persönlichkeit von Rang und Namen ohne Teltschik entdeckt. Sei‘s drum! Halten wir uns lieber an das Motto, das Teltschik – der Verfasser dieser Rezension war damals dabei – im Frühjahr 2017 am Ende eines Vortrags zum Neuen Ost-West-Konflikt auf dem Plenum des Moskauer Wirtschaftsforums dem überwiegend jungen russischen Publikum als Quintessenz seines Politikerlebens mit auf den Weg gab:

„Never give up!“

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