Meinung

Slavoj Žižek: Migration wird so lange zunehmen, bis die reiche Welt den "eine Welt"-Gedanken annimmt

Die "reiche" Welt muss sich dringend mit den wirklichen Ursachen für die Massenmigration und nicht nur mit ihren lästigen Symptomen befassen. Sie muss endlich begreifen, dass wir wirklich in ein und derselben Welt leben. Ohne eine solche Revolution, werden wir nicht überleben.
Slavoj Žižek: Migration wird so lange zunehmen, bis die reiche Welt den "eine Welt"-Gedanken annimmtQuelle: Reuters

Migration macht wieder einmal Schlagzeilen: Kolonnen von Migranten aus Honduras nähern sich quer durch Mexiko der US-Grenze; afrikanische Migranten durchbrachen Barrieren und erreichten die kleine spanische Exklave an der Nordspitze Afrikas; Migranten aus dem Nahen Osten versuchen, nach Kroatien zu gelangen.

Obwohl die Zahlen vergleichsweise niedrig sind, signalisieren sie doch eine grundlegende geopolitische Tatsache.

Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk zeigte 2005 in seinem Werk "Im Weltinnenraum des Kapitals" auf, wie das kapitalistische System dank der Globalisierung alle Lebensbedingungen bestimmt hat.

Das erste Zeichen dieser Entwicklung war bereits der Crystal Palace in London, Schauplatz der ersten Weltausstellung 1851. Ihre Struktur machte die Exklusivität der Globalisierung als Auf- und Ausbau eines "Weltinnenraums" spürbar, dessen Grenzen unsichtbar, aber von außen nahezu unüberwindbar sind. Und der heute von anderthalb Milliarden Globalisierungsgewinnern dieser Erde bewohnt wird.

Allerdings bleiben dreimal so viele vor der Tür stehen. Folglich ist "der Weltinnenraum des Kapitals keine Agora oder Messe unter freiem Himmel, sondern ein Treibhaus, das alles nach innen gezogen hat, was einst draußen war".

Zwei Umlaufbahnen

Dieser Innenraum, der auf kapitalistischen Exzessen errichtet wurde, bestimmt alles: "Die wichtigste Tatsache der Neuzeit war nicht, dass die Erde sich um die Sonne bewegt, sondern dass das Geld sich um die Erde bewegt." Nach diesem Prozess, der die Welt in eine "globale Welt" verwandelte, "konnte das soziale Leben nur in einem erweiterten Innenraum, einem häuslich und künstlich klimatisierten Innenraum stattfinden".

Sloterdijk hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die kapitalistische Globalisierung nicht nur für Offenheit und Eroberung steht, sondern auch für einen weiteren, in sich geschlossenen Globus, der das Innere von seiner Außenseite trennt.

Die beiden Aspekte sind untrennbar miteinander verbunden: Die globale Reichweite des Kapitalismus gründet sich auf die Art und Weise, wie er eine radikale Klassenteilung über den gesamten Globus einführt und diejenigen (von der Sphäre) Geschützten von denen außerhalb ihrer Hülle trennt. Der Flüchtlingsstrom ist eine flüchtige, kurzzeitige Erinnerung an die gewalttätige Welt außerhalb unserer Kuppel, an eine Welt, die für uns Insider vor allem in Fernsehberichten über ferne gewalttätige Länder kurz erscheint, aber nicht als Teil unserer Realität, sondern als Eingriff in sie.

Geschichtsunterricht

Unsere ethisch-politische Pflicht besteht also nicht nur darin, sich der Realität außerhalb unserer Kuppel bewusst zu werden, sondern auch darin, unsere Mitverantwortung für die Schrecken außerhalb unserer Kuppel vollständig anzuerkennen. Die Heuchelei der Reaktionen auf den brutalen Mord an Jamal Khashoggi ist ein schönes Beispiel dafür, wie diese Kuppel funktioniert. Im weiteren Sinne war er einer von uns, in der Kuppel ansässig, so dass wir schockiert und empört sind.

Aber unsere Fürsorge ist eine lächerlich entartete: der wahre Skandal ist doch, dass der Mord in Istanbul ein so viel größerer Skandal sein soll als die Geschehnisse im Jemen, wo Saudi-Arabien ein ganzes Land zerstört. In seiner (vermuteten) Anordnung zum Mord vergaß Mohammed bin Salman (MBS) die Lektion Stalins: Wenn man eine Person tötet, ist man ein Verbrecher; wenn man Tausende tötet, ist man ein Held. Also sollte wohl MBS stattdessen weiterhin Tausende im Jemen töten.

Zurück zu unserer leninistischen Frage: Was tun? Die erste und (leider) vorherrschende Reaktion ist die der schützenden Selbstabschottung: Die Welt da draußen ist in einem Chaos, lasst uns unsereinen durch alle Arten von Mauern schützen.

Es entsteht eine neue Weltordnung, in der als einzige Alternative zum "Kampf der Kulturen" das friedliche Zusammenleben der Zivilisationen (oder der heute populäreren Bezeichnung "Lebensweisen") bleibt: Zwangsehen und Homophobie (oder die Vorstellung, dass eine Frau, die allein an einen öffentlichen Ort geht, dadurch ihre Vergewaltigung provoziert) sind in Ordnung, nur dass sie auf ein anderes Land beschränkt sind, das jedoch ansonsten vollständig in den Weltmarkt einbezogen ist.

Die traurige Wahrheit, die solche neue "Toleranz" stützt, ist, dass sich der heutige globale Kapitalismus keinerlei positive Visionen einer emanzipierten Menschheit mehr leisten kann, nicht einmal als einen ideologischen Traum.

Eine Vision

Der fukuyamaistische liberal-demokratische Universalismus scheiterte an seinen eigenen immanenten Einschränkungen und Inkonsistenzen, und der Populismus ist das Symptom dieses Scheiterns, seiner Huntington-Krankheit. Aber die Lösung ist nicht populistischer Nationalismus, weder rechter noch linker. Stattdessen ist das einzige Heilmittel ein neuer Universalismus - er wird durch die heutigen Probleme der Menschheit herausgefordert, von ökologischen Bedrohungen bis hin zu Flüchtlingskrisen.

Die zweite Reaktion ist der globale Kapitalismus mit "menschlichem Antlitz", das in sozial verantwortlichen Unternehmen von Personen wie Bill Gates und George Soros verkörpert wird. Auch in seiner extremen Form - "öffnen wir unsere Grenzen für die Flüchtlinge, behandeln wir sie doch wie welche von uns."

Das Problem bei dieser Art Lösung ist jedoch, dass sie alle nur das bieten, was in der Medizin als Behandlung der Symptome bezeichnet wird - also eine "Therapie" für eine Erkrankung, die das globale Grundproblem bestehen lässt und nur auf dessen Symptome zielt, nicht auf dessen Ursache.

Eine solche Behandlung zielt darauf ab, die Anzeichen und Symptome zum Zwecke des Komforts und des Wohlbefindens unseres Patienten zu mildern. Aber in unserem Fall ist das natürlich nicht genug, denn die Lösung ist offensichtlich nicht, dass alle Unglücklichen der Welt in die Sicherheit unter der Kuppel unserer Halbwelt gelangen. Wir müssen uns vom humanitären Fokus auf einige Elende dieser Erde hin zur elenden Erde selbst als Ganzes bewegen.

Die dritte Reaktion besteht also darin, den Mut aufzubringen und uns einen sehr radikalen Wandel vorzustellen, der sich erst dann durchsetzen wird, wenn wir die Folgen der Tatsache, dass wir in EINER Welt leben, vollständig akzeptieren. Ist eine solche Veränderung eine Utopie? Nein, eine wahrhaftige Utopie wäre es, dass wir ohne eine solche Revolution überleben könnten.

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