Meinung

Warum wollen die USA den INF-Vertrag aufkündigen?

Noch bevor überhaupt etwas entschieden wurde, scheint die Schuldfrage der interessanteste Aspekt bei der Berichterstattung der Medien zu sein. Auch der Schuldige ist schnell gefunden. Aber warum werden wichtige Rüstungskontrollverträge von Washington gekündigt?
Warum wollen die USA den INF-Vertrag aufkündigen?Quelle: AFP © US Navy

von Zlatko Percinic

Die am meisten verbreitete und auch von der deutschen Regierung bestätigten These lautet, dass Russland mal wieder schuld an dem Schlamassel um den INF-Vertrag ist. Dieser aus dem Jahr 1987 stammende und zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion geschlossene Vertrag, verbietet seitdem beiden Atommächten unter anderem den Bau, Besitz und das Testen landgestützter, nuklear bestückter Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern. Insbesondere für Deutschland, West und Ost, bedeutete dieses Abkommen eine spürbare Entlastung der Bedrohungslage, waren doch damals viele dieser Raketen hier stationiert, bevor sie dann abgezogen und teilweise verschrottet wurden.

Der INF-Vertrag ebnete aber auch den Weg für ein weiteres historisches Abkommen. Am 31. Juli 1991 unterzeichneten die beiden Supermächte nach einer fast zehnjährigen Verhandlungsdauer das START-Abkommen in Moskau, mit welchem die strategischen Offensivwaffen reduziert und begrenzt wurden. Und weitere 19 Jahre später unterzeichneten die Präsidenten Obama und Medwedew in Prag das New START-Abkommen, welches die Nachfolge für den 2009 ausgelaufenen START-Vertrag übernahm und bis zum 5. Februar 2021 (mit Verlängerungsoption bis 2026) gültig ist.

Dass die Vereinigten Staaten nun den INF-Vertrag einseitig auflösen wollen, betrifft also nicht nur die beiden Vertragspartner, sondern durchaus auch europäische Länder, deren Sicherheitsstruktur damit ebenfalls verändert wird. Wie sich das am Ende auswirken wird, bleibt natürlich abzuwarten. Die Bundesregierung wollte sich diesbezüglich bei einer Bundespressekonferenz am 22. Oktober nicht weiter äußern, sondern verwies immer wieder darauf, dass dieses Thema zusammen mit anderen NATO-Mitgliedern besprochen werden muss. Nur bei der Schuldfrage waren sich die jeweiligen Sprecher des Kanzleramtes, Außen- und Verteidigungsministeriums einig. Und das auch nur, weil man am NATO-Gipfel vom 11./12. Juli in Brüssel im Abschlusskommunikee festhielt, dass sich "die Vereinigten Staaten in Übereinstimmung mit ihren Verpflichtungen gegenüber dem INF-Abkommen befinden und weiterhin substanzielle Transparenz über ihr Programm liefern". Russland hingegen hätte mit einem neu "identifizierten" Raketensystem unter der Kennzeichnung "9M729" dazu beigetragen, dass die "Alliierten glauben", dass es "die plausibelste Einschätzung wäre, dass Russland den Vertrag verletzt hat".

Selbst als der Einwand kam, dass die in Rumänien und Polen gebauten US-Raketenstationen des Typs "Mark 41 Vertical Launch Systems" (Mk-41 VLS) doch auch gegen den INF-Vertrag verstoßen, verwiesen die Sprecher der Bundesregierung weiter munter auf das NATO-Abschlusskommunikee. Dabei prahlt der Hersteller des Mk-41-Systems selbst damit, dass es sich dabei um das "fortschrittlichste Kampfsystem der Welt" handelt, das sowohl zu Verteidigungs- als auch zu Offensivzwecken eingesetzt werden kann. So können dann eben Silos nicht nur mit Abfangraketen bestückt werden, sondern auch mit nuklearen Gefechtsköpfen bestückte Marschflugkörper wie die Tomahawk. Mit einer Reichweite von bis zu 1.670 Kilometer könnten solche Marschflugkörper strategische Ziele in West-Russland treffen, zumal sie auf US-Kriegsschiffen und U-Booten (teilweise mit Nuklearsprengköpfen bestückt) in sämtlichen Weltmeeren einsatzbereit sind. 

Gerade auch in Hinblick auf den Vorwurf, Russland habe diesen Vertrag von 1987 verletzt, lohnt es, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie Moskau auf die ersten Ankündigungen der USA im Jahr 2008 reagierte, man wolle diese Raketenstationen an Orten in Polen und Rumänien, welche teilweise nur 180 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegen, aufbauen. Der Kreml hatte bereits damals klar gemacht, dass diese Systeme als Bedrohung für die nationale Sicherheit eingestuft werden und mit Gegenmaßnahmen gerechnet werden müsse. Und das alles vor dem Hintergrund der einseitigen Aufkündigung des ebenso wichtigen ABM-Abkommens (Anti Ballistic Missile Treaty) von 1972 durch die USA, mit welchem die USA und die Sowjetunion die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen vereinbart hatten.

Erst als Washington tatsächlich mit dem Bau der Raketenstationen in Rumänien und Polen begann, reagierte Moskau 2016 mit der Stationierung von Iskander-Kurzstreckenraketen (Reichweite je nach Typ 280 bis maximal 500 Kilometer) in der russischen Exklave Kaliningrad, zuerst zu Übungszwecken und im Februar 2018 schließlich dauerhaft. Dieser Raketentyp ist wie die US-amerikanische Tomahawk mit nuklearen Gefechtsköpfen bestückbar. Es sind stets Zug um Zug Reaktionen des Kremls, die den Aktionen der USA/NATO folgen. Allerdings wird das bei den hysterisch wirkenden Rufen aus diversen Hauptstädten, wie zum Beispiel Vilnius, immer wieder sehr gern vergessen.

Die nun in Frage stehende und als russischer Bruch des INF-Vertrages angegebene Rakete "9M729" ist ein modifiziertes Modell der Iskander-K und läuft unter dem NATO-Codenamen SS-C-8 Screwdriver. Oder aber eine neue Landversion der Kalibr-Marschflugkörper, da ist man sich in Washington nicht sicher. Genauso wenig wie über die Reichweite dieser Rakete, die zwischen 300 und 3.000 Kilometer geschätzt wird. Die offizielle Verlautbarung der USA zu diesem Thema lautet:

Die Vereinigten Staaten haben 2016 festgestellt, dass die Russische Föderation (Russland) weiterhin ihre Verpflichtungen gemäß dem INF-Abkommen verletzt, keine bodengestützten Marschflugkörper (GLCM) zu besitzen, zu produzieren oder zu testen, welche über eine Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometer verfügen, oder Abschussvorrichtungen von solchen Raketen zu besitzen oder zu produzieren."

Das ist alles recht vage. Ähnlich klingt es auch aus Moskau, wo man Washington vorwirft, "seit über 15 Jahren keine konstruktive Antwort" auf Fragen zu US-Entwicklungen auf diesem Gebiet der vom INF-Abkommen verbotenen Waffensystemen erhalten zu haben.

Weshalb die USA nun aber unbedingt aus dem Abkommen aussteigen möchten, erklärte der nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten, John Bolton, vor einigen Jahren in einem Artikel im Wall Street Journal:

Verletzungen (von Abkommen/Anm.) bieten Amerika die Möglichkeit, veraltete, aus der Ära des Kalten Krieges stammende Grenzen für ihr eigenes Arsenal zu verwerfen, und ihre eigenen militärischen Fähigkeiten zu modernisieren, um ihrer globalen Verantwortung gerecht zu werden."

Es sind also willkommene Anlässe – ob reale oder gewünschte - aus der Sicht von John Bolton, um sich aus Verträgen zu lösen, die er für die USA für nicht mehr zeitgemäß hält. Dabei spielt es ganz offensichtlich keine Rolle, wie fundiert die Anschuldigungen gegenüber Russland sind, solange sie den strategischen Zielen Washingtons dienen. Dieser Ansatz ist auch im Nuclear Posture Review 2018 des Pentagons ersichtlich, dem "Fahrplan" des Verteidigungsministeriums für die strategische Rolle von Nuklearwaffen. Darin heißt es, dass Washington "nicht für immer Russlands ständige Nichteinhaltung erdulden" werde und deshalb "militärische Konzepte und Optionen" für neue Mittelstreckenraketen überprüfe. Dabei spiele insbesondere die Entwicklung von taktischen Atombomben mit geringer Sprengkraft eine tragende Rolle, für welche der Kongress erst kürzlich die Finanzierung gestattet hat.  

Nun wird befürchtet, dass sich die USA auch aus einem weiteren Abkommen zurückziehen werden, dem New START. Das würde den Weg für die Stationierung von weiteren Atombomben in Europa freimachen, nebst den bereits 150 eingelagerten US-Bomben in Belgien, Deutschland, Italien und den Niederlanden. US-Präsident Donald Trump kündigte auf jeden Fall an, "solange die Leute nicht zu Sinnen kommen, werden wir aufrüsten" und bestätigte auch, dass sich diese Drohung an China, Russland und alle richtet, "die dieses Spiel spielen wollen". Deshalb warnte auch Sigmar Gabriel davor, dass "wir hier (in Deutschland) die Gefährdetsten sind".

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