Meinung

Dr. Gniffkes Macht um Acht: Manipulative ARD-Berichte über Arbeitslosenzahl in Deutschland

Werktäglich referiert die Tagesschau über Aktienkurse. Die Arbeitswelt ist nur alle paar Wochen manipulative Berichte wert. Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam rechnen mit der tendenziösen Finanz-Berichterstattung der ARD-Tagesschau ab.
Dr. Gniffkes Macht um Acht: Manipulative ARD-Berichte über Arbeitslosenzahl in Deutschland

von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Die Interessen der Geldelite und der Konzerne bedient ARD-aktuell beinahe werktäglich: mit ausführlichen Nachrichten im Programm „Börse vor acht“ sowie mit Wort- und Filmbeiträgen von der Frankfurter Börse in den Tagesthemen. Gleich häufige Informationen aus der Arbeitswelt gibt es hingegen nicht, obwohl Werktätige und Rentner die absolute Mehrheit der Zuschauer stellen. Diese qualitätsjournalistische Schlagseite hat System. Und die Ignoranz, mit der sie von allen hingenommen wird – von der Öffentlichkeit generell und von den Gewerkschaften speziell – hat Tradition, ist anerzogen: Monat für Monat erfährt sie Intensivpflege mittels manipulativer Nachrichten über den „Arbeitsmarkt“.

Den Lehrsatz „halbe Wahrheit ist ganze Lüge“ bestätigte die Tagesschau Ende August einmal mehr:

Die Zahl der Arbeitslosen ist im August leicht gestiegen. Grund ist nach Angaben der Nürnberger Arbeitsagentur die Sommerpause mit Werksferien in vielen Unternehmen. Zudem hätten sich Schulabgänger und Ausbildungsabsolventen im Sommer zunächst arbeitslos gemeldet. Insgesamt waren 2,35 Millionen Erwerbslose gemeldet. Das waren 26.000 mehr als im Juli, aber 194.000 weniger als im Vorjahr. Die Quote stieg auf 5,2 Prozent.

Bevor sie auch nur eine konkrete Arbeitsmarktzahl nennt, serviert die Tagesschau erst mal zwei Sätze mit Entlastungsgründen für die miese Lage. Erst dann: 2,35 Millionen Erwerbslose. Dass mehr als eine Million ebenfalls arbeitslose Menschen in dieser frisierten Mengenangabe nicht erfasst sind und von einem sauberen Bericht über das soziale Elend keine Rede sein kann, erfährt der Zuschauer dieser 20 Uhr-Tagesschau nicht. Dabei sind vollständige und präzise Angaben verfügbar. Sie zu nennen hätte nur drei Sätze mehr gekostet: 3,23 Millionen „Unterbeschäftigte“.

Die Unterbeschäftigung – darunter sind alle weiteren Hartz-IV-Bezieher zu verstehen, vom Ein-Euro-Jobber über den „Aufstocker“ bis zum arbeitslosen Teilnehmer an einer sogenannten Fortbildungsmaßnahme – betraf im August 3,23 Millionen Menschen. Die Unterbeschäftigung lag damit noch um 885.000 über den statistisch als solche anerkannten Arbeitslosen.

Wer derart vollständige Angaben von ARD-aktuell erhofft, muss sich schon ins Internet bewegen und dort suchen, wo der Durchschnitts-Arbeitnehmer garantiert nicht hinschaut, nämlich auf die Wirtschaftsseite der tagesschau.de. Auch dort bekommt er aber noch keine Sachinformation über die Unterbeschäftigung. Dazu muss er weiterklicken – zum „Faktenfinder“. Hier erst erfährt er endlich, „was die Arbeitslosenzahl verbirgt“:

... Unterbeschäftigung 3,44 Millionen. Doch es kommen sogar noch mehr hinzu, nämlich diejenigen, die die Bundesagentur für Arbeit gar nicht kennt, zum Beispiel Mütter, die wieder einsteigen wollen. (...) So niedrig, wie die Arbeitslosigkeit angegeben wird, ist sie eigentlich also nicht.

Der ARD-Faktenfinder weist also der ARD-Tagesschau mit noch einmal abweichenden Zahlenangaben (3,44 Millionen statt 3,23 Millionen) nach, dass sie „eigentlich“ Rosstäuscherei betreibt: Nämlich, indem sie unterschlägt, dass die Gesamtzahl der von Hartz-IV Abhängigen mehr als doppelt so hoch ist, wie in der Fernsehnachricht um 20 Uhr vorerzählt.

Die Idiotie – oder Infamie? – dieser sich selbst widersprechenden Nachrichtengestaltung unter dem Dach ARD-aktuell bemerkt kaum einer. Die Tagesschau hat mehr als zehn Millionen Fernsehzuschauer; vom Internet-Angebot tagesschau.de machen dagegen weniger als eine Million Menschen Gebrauch. Die Zahl derer, die beide Informationsangebote über den „Arbeitsmarkt“ gleichzeitig nutzen, dürfte marginal sein.

Der Etikettenschwindel der Tagesschau dient dem Interesse der Bundesregierung. Denn selbstverständlich wünscht dieses parteienoligarchische Regime keine aufklärerische Berichterstattung über Deutschlands soziales Elend. Die Schattenseite unseres Alltags soll weggeschwiegen werden. ARD-aktuell wahrt fügsam (Staats-)Funkstille.

Nicht minder manipulativ und realitätsfern sind die geschönten Berichte aus der Wirtschaft und über Großunternehmen wie den Onlinehändler Amazon. Chefredakteur Dr. Kai Gniffkes Qualitätsjournalisten berichten nicht über deren asoziale Seite. Zum Beispiel nicht über die Schändlichkeit, dass Amazon weder von Berlin noch von Brüssel dazu hat gebracht werden können, seine Milliardenumsätze angemessen zu versteuern. Nichts wird gemeldet über die Steuer-Vermeidungsstrategien dieses Konzerns und vergleichbarer Unternehmenskolosse von Apple bis Starbucks. Nichts darüber, dass Amazon auch seine Kunden häufig dazu bringt, unabsichtlich selbst Steuerbetrug zu begehen, wenn sie Waren per Internet kaufen, die im Ausland hergestellt wurden; im Angebot von dort wird die bei uns fällige Mehrwertsteuer oft nicht ausgewiesen und ergo von niemandem bezahlt und abgerechnet. „Steuern umgehen mit Amazon“? Kein Wort darüber, dass der Bundesrechnungshof die Schweinereien immer wieder reklamierte. Für ARD-aktuell waren und sind das keine Nachrichtenthemen.

In unzähligen Beiträgen über Amazon liefern Dr. Gniffkes Qualitätsjournalisten lieber Blattgold-Nippes aus der Devotionalien-Vitrine. Triumphmeldungen aus der Werbeabteilung des Konzerns werden als unentgeltliche Unternehmensreklame an das Fernsehpublikum weitergereicht. „Rangliste der Milliardäre: Bezos reicher als Gates“, „Amazon: Der Gigant wächst immer schneller“. „Onlinehändler Amazon: Gewinn verdoppelt“. „Amazon überrascht mit Milliarden-Gewinn.“

Über das abstoßende Geschäftsgebaren des mit Abstand größten Internet-Konzerns gab es allenfalls vage und nur ansatzweise kritische Berichterstattung, und selbst das nur, wenn andere Mainstream-Medien zuerst damit hervorgetreten waren oder Politiker sich zu einem der vielen Skandale geäußert hatten. Tagesschau-Regel: Immer schön im Windschatten bleiben ...

Die unerträgliche Situation der Amazon-Beschäftigten fand in den Nachrichtensendungen der ARD-aktuell kaum Erwähnung. Sie war auch dann nicht überzeugend, als unübersehbare Hinweise vorlagen, dass die Konzernführung übelste Ausbeutungspraktiken auf die Beschäftigten anwendet.

Die Gewerkschaft ver.di beklagte, dass Amazon zwar an einem einzigen Tag Kursgewinne von zwölf Milliarden Euro erzielt habe, die Beschäftigten jedoch seit Jahren und bisher vergeblich mit Streiks für einen bescheidenen Anteil am Erfolg kämpften: für armutsfeste, tarifvertraglich geregelte Löhne, Urlaubsgeld, angemessenes Weihnachtsgeld. Stattdessen gebe es Pressionen am Arbeitsplatz. Die Beschäftigten unterlägen strikter Überwachung per Handscanner und müssten beispielsweise ertragen, dass ein Toilettengang nach der Pause als Fehlverhalten angekreidet und der „Übeltäter“ im Wiederholungsfall abgemahnt werde. Methoden, die an die Blütezeit frühkapitalistischer Ausbeutung erinnern.

Schwere Vorwürfe, denen ARD-aktuell allerdings nicht selbst nachging, sondern die sie nur in Gänsefüßchen-Rhetorik referierte:

Die Gewerkschaft wirft Amazon darüber hinaus vor, ‚wenig Rücksicht’ auf die Gesundheit der Beschäftigten zu nehmen. Der Arbeitsalltag sei ‚von hohem Druck, Hetze und Kontrollen’ geprägt, was überdurchschnittlich hohe Krankenraten zur Folge habe.

Die Zitatform im Konjunktiv I lässt offen, ob die Schilderung der Auswüchse nicht möglicherweise doch nur eine parteiische und realitätsferne Übertreibung ist. Die Absicht dahinter wird erkennbar, wenn man betrachtet, wie ARD-aktuell ihre Berichterstattung ganz im Sinne des Konzerns beflissen abrundet: 

Amazon wies die Vorwürfe zurück. ‚Für Amazon haben die Gesundheit und Sicherheit unserer Mitarbeiter oberste Priorität’, so eine Sprecherin.

Wurde der Zuschauer mit solcher Nachrichtengestaltung in die Lage versetzt, sich selbst ein sachgerechtes Urteil zu bilden? Ist mit dermaßen primitiver Beschränkung auf ein Pro und ein Contra der gesetzliche Auftrag der ARD-aktuell erfüllt, „umfassend und der Wahrheit verpflichtet“ zu unterrichten? Sah die Tagesschau sich denn gar nicht bemüßigt, die Angaben beider Seiten selbständig zu überprüfen?

„A sagt, es regnet. B sagt, die Sonne scheint.“ Das soll Nachrichtenjournalismus sein? Wie wäre es denn, mal das Fenster aufzumachen und selbst nachzugucken, wie das Wetter ist? Von ARD-aktuell ist das anscheinend aber zuviel verlangt.

Streik bei Amazon? Ja, und? Was ist daraus geworden, wie steht es damit? Obwohl ARD-aktuell zur Überprüfung und Aktualisierung seiner Online-Beiträge verpflichtet ist, fehlt es auch bei dem hier betrachteten Amazon-Thema an einer kontinuierlichen journalistischen Begleitung. Die Zuschauer erfahren nichts über den weiteren Verlauf des Konfliktes. Zum Beispiel nichts darüber, dass bei Amazon Ende August erneut gestreikt wurde.

Sozial relevante Nachrichten, die einen Großteil der Tagesschau-Nutzer betreffen, fallen schlichtweg unter den Tisch oder werden garniert mit einseitigen Kommentaren von Lobbyisten und opportunen Experten. Soll kein Zuschauer sich fragen, wem in Deutschland die mehr als sechs Billionen Euro gehören, die als reines, unproduktives Geldvermögen gebunkert sind. 6.000.000.000.000 Euro! Soll keiner fragen, inwiefern dieser Geldberg die Armutsfalle braucht, in der jedes fünfte Kind in Deutschland dauerhaft gefangen ist. Unter uns leben 6,5 Millionen Arme, Tendenz: steigend. Kehrseite dieser Medaille: 1,4 Millionen Millionäre und Milliardäre, Tendenz: steigend.

Grandios das Versagen der auf sozialen Ausgleich verpflichteten Politik. Seit der Steinmeier-Schröder-„Agenda 2010“ wird unter Mitwirkung der ARD-aktuell als „Reform“ beschönigt, was den Reichen und ihrer politischen Elite dient; der Qualitätsjournalismus fragt nicht danach, wie es sich auf der Schattenseite lebt, in der die Arbeitslosen und die Niedriglöhner ausgepowert werden.


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Das Autoren-Team:

Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.

Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 im NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1985 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehr- und Forschungsauftrag an der Fu-Jen-Uni in Taipeh.

Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden zumeist auf der Seite https://publikumskonferenz.de/blog dokumentiert.

 

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