Meinung

Schwarz auf Weiß: Ein Wochenrückblick auf den medialen Abgrund

Der Putin-Besuch, die Brücke von Genua, Presse-Appelle in den USA, Sami A. und ein Einwanderungsgesetz - vor allem diese Themen boten den Mainstreammedien in dieser Woche Anlass zu verzerrender Berichterstattung.
Schwarz auf Weiß: Ein Wochenrückblick auf den medialen AbgrundQuelle: Reuters © Daniel LeClair

Von Thomas Schwarz

Es steht der erste Deutschland-Besuch des russischen Präsidenten seit 2014 außerhalb von Gipfeltreffen auf dem Plan - und die Mainstreammedien können nicht anders, als das Treffen schlechtzureden. Andererseits: Lobeshymnen auf diesen wichtigen Versuch der Verständigung Deutschlands mit einem zentralen Partner der Zukunft waren ohnehin nicht zu erwarten. Und zusätzlich entsteht der Eindruck, als würden auch die gewohnten Dämonisierungen Putins und einer deutsch-russischen Annäherung eine Spur weniger scharf ausfallen. Möglicherweise wurde erkannt, dass die antirussische Meinungsmache mit dem Holzhammer nicht mehr die gewünschte Wirkung erzielt.

Der Tagesspiegel geht so weit, in einem ungewohnt sachlichen Artikel den führenden EU-Ländern die Rolle von Bittstellern gegenüber Russland zuzuweisen - diese seien beim Zugang zum Markt des syrischen Wiederaufbaus vom guten Willen Putins abhängig: "Deutschland und Frankreich versuchen bereits seit Jahren, im Ukraine-Konflikt zu vermitteln. Die Treffen in Berlin und Paris deuten darauf hin, dass Moskau die beiden Staaten stärker in die Pläne für eine Nachkriegsordnung und einen Wiederaufbau Syriens (und vor allem dessen Finanzierung) einbeziehen will."

Der Besuch des "russischen Zaren"

In der Zeit verfällt der Geschäftsführer von Human Rights Watch Kenneth Roth dagegen in den üblichen antirussischen Tenor und baut auf die Unwissenheit der Leser bezüglich syrischer "Regierungsgegner": "Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel an diesem Samstag in Meseberg mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zusammentrifft, liegt das Schicksal von 2,3 Millionen Menschen in der syrischen Provinz Idlib in ihren Händen. Der letzte große Zufluchtsort der Regierungsgegner diente bisher als Fluchtventil." Es bestehe zudem "das Risiko, dass die russisch-syrischen Streitkräfte ihre charakteristischen wahllosen und manchmal vorsätzlichen Angriffe auf Zivilisten und zivile Infrastrukturen wie Krankenhäuser wieder aufnehmen" würden, argumentiert Roth mit einem Mangel an Distanz, der einer "Nichtregierungsorganisation" scheinbar angemessen erscheint. Dabei seien "russische Staatsmedien wie RT und Sputnik die Vorreiter der Schönfärberei des russisch-syrischen Militärbündnisses".

Auch die Bild bleibt sich treu, wenn sie etwa über Putins vorgelagerten Besuch in Österreich schreibt: "Der Mann, der in der Ukraine und in Syrien Krieg führt, der Hacker-Attacken, Wahlbeeinflussung und Propaganda-Krieg gegen den Westen befehligt – weinselig bei einer westeuropäischen Spitzen-Politikerin? Zuletzt kam ein russischer Zar 1913 zur Hochzeit an einen österreichischen Hof." Die Zeitung nutzt die Gelegenheit, um nebenbei gegen Brandenburgs Zustimmung zur Pipeline Nord Stream 2 Stimmung zu machen: "Vorteil für Putin: Er kann der verfeindeten Ukraine und den Kreml-kritischen Polen und baltischen Staaten jederzeit den Gashahn abdrehen. Und sein Staatskonzern Gazprom hat Westeuropas Gasnetz in der Hand. Die Osteuropäer haben vor der Pipeline gewarnt, USA und NATO ebenfalls." Und auch die Realitäten zu Syrien werden im Zusammenhang mit dem Putin-Besuch einmal mehr auf den Kopf gestellt: "Das syrische Regime und Russland als seine Schutzmacht wollen mit dem Wiederaufbau des hauptsächlich durch sie selbst zerstörten Landes beginnen. Und das mit westlichen Mitteln, also unserem Steuergeld!"

Relativ sachlich bleibt dagegen die Tagesschau, die mutmaßlich richtig analysiert: "Angesichts eines irrlichternden Präsidenten in den USA finden Merkel und Putin wieder näher zusammen." Und Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik wird mit den klugen und hoffentlich zutreffenden Worten zitiert: "Die (Merkel und Putin) werden vor allem gegenüber den Amerikanern demonstrieren wollen, dass es Interessenüberschneidungen gibt und dass man sich nicht erpressen lassen will bei bestimmten Themen."

Brücke in Genua: Auch der Journalismus bricht ein

Nach dem Einsturz einer privat betriebenen Autobahnbrücke in Genua mit zahlreichen Todesopfern war in den großen Medien eine regelrechte Abwehrschlacht zu beobachten: In vielen Artikeln wurde vor einer "vorschnellen Schuldzuweisung" in Richtung des Brückenbetreibers gewarnt, um das umstrittene Prinzip der Privatisierung zu schützen. Kritik am Brückenbetreiber und damit am destruktiven Rückzug des Staates aus der öffentlichen Daseinsvorsorge sei "populistisch" und befeuere ein "altes Spiel der Schuldzuweisungen", wie etwa die belgische Zeitung De Tijd kommentiert:

"Die Katastrophe von Genua gibt ihr (der italienischen Regierung) nun Gelegenheit, sich zu beweisen. Aber die Art und Weise, auf die sie die Schuld so weit wie möglich von sich weist und schnell Sündenböcke präsentiert, die in ihr ideologisches Schema passen, verheißt nichts Gutes. Das Land braucht eine neue Dynamik und nicht das alte Spiel der Schuldzuweisungen, um vor allem selbst nichts tun zu müssen."

Diesen Grundton wiederholen zahlreiche europäische Medien. So schreibt etwa die Tagesschau: "Die Schuldzuweisungen beginnen" und: "Der Grund für den Brückeneinsturz in Genua ist noch unklar, doch die Regierung hat die Schuldigen bereits ausgemacht: den Autobahnbetreiber". Die Hessische Allgemeine befindet: "Es ist der Tag der Reflexe - und damit der viel zu schnellen, vorverurteilenden Festlegungen von Schuldigen." Und auch die Nachrichtenagentur dpa kritisiert: "Mitglieder der neuen populistischen Regierung machten am Mittwoch den privaten Betreiber der Autobahn für das Unglück verantwortlich."

Es braucht nicht viel Fantasie, um sich die erheblich kritischere Berichterstattung vorzustellen, ginge es statt um die private Brücke um ein Unglück eines staatlichen Betriebs. Und auch die zahlreichen desaströsen Privatisierungs-Projekte der Vergangenheit waren nun trotz der Steilvorlage aus Genua kein Thema für die Medien. Am Beispiel der deutschen Autobahnen haben einzig die NachDenkSeiten jüngst ein solches "lukratives Desaster" beschrieben.

USA: Propagandisten proben Aufstand

Mit einer großangelegten Aktion haben in dieser Woche hunderte Zeitungen in den USA Angriffe von US-Präsident Donald Trump auf den etablierten Medienbetrieb skandalisiert. Initiiert wurde die Aktion von der Zeitung Boston Globe. Nach Angaben des Blattes beteiligten sich etwa 350 Medien, die Aktion schlug auch in deutschen Medien Wellen.

"Der schmutzige Krieg gegen die freie Presse muss aufhören", schrieb der Boston Globe: Trumps Angriffe auf die Medien könnten gefährliche Konsequenzen haben. Freie Medien durch staatlich kontrollierte zu ersetzen, sei stets eine der ersten Ziele eines korrupten Regimes bei der Machtübernahme in einem Land. Eine Zusammenstellung der Appelle in den US-Medien findet sich hier.

Die mit der Aktion verbundene Heuchelei ist nicht zu übersehen. Denn federführend sind genau jene Medien, die in jüngster Vergangenheit großangelegte Fake-News-Kampagnen wie die "russische Wahlmanipulation", den "Giftanschlag von Salisbury" oder den "Volksaufstand in Syrien" produziert haben. Hier rufen also mutmaßliche Propagandisten zu einer Rückkehr zur Wahrheit auf. Interessant sind zudem die Eigentümerstrukturen des Boston Globe und anderer führender US-Zeitungen. So haben in den letzten Jahren unter anderem die Investoren Carlos Slim, Jeff Bezos, John Henry, Chris Hughes und Warren Buffett viel Geld in defizitäre US-Presseunternehmen gesteckt, wie RT berichtet. Der die Aktion initiierende Boston Globe wurde demnach von Ex-Hedgefonds-Manager John Henry übernommen.

Einwanderungsgesetz - ohne neoliberale Agenda?

Den Tatbestand der Untätigkeit erfüllten in dieser Woche viele große Medien im Zusammenhang mit dem neuen Einwanderungsgesetz. So wurde der neoliberale Hintergrund des Projektes komplett ausgeblendet: Sowohl das intellektuelle Ausbluten der Herkunftsstaaten als auch der lohndrückende Effekt in Deutschland wurden in den zahlreichen Artikeln (beispielsweise hier) mit keiner Silbe erwähnt.

Es war nicht alles schlecht

Der Vorgang um die missglückte Abschiebung und die jetzt angemahnte Rückholung des Sami A. hat viele Bürger bewegt. Es soll hier nicht bestritten werden, dass der Protagonist, die Begleitumstände, der behördliche Eiertanz und der betriebene Aufwand sehr befremdlich waren. So befremdlich, dass sich bei vielen Bürgern das Rechtsempfinden tatsächlich nicht mit der Rechtsprechung deckt, die Sami A. nun zurückholen lässt. In der Abwägung der Rechtsgüter darf aber auf durch einen Einzelfall ausgelöste emotionale Aufwallungen keine Rücksicht genommen werden. Eine Beschädigung der Unabhängigkeit der Justiz (auch die Unabhängigkeit von Stimmungen in der Bevölkerung) ist brandgefährlich und muss gebrandmarkt werden - auch wenn es im Einzelfall gegen das eigene Empfinden geht. Zu diesem Thema gab es in dieser Woche eine Reihe kluger Kommentare auch in den großen Medien. Stellvertretend sei hier im Lesetipp der Woche auf einen Beitrag von Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung verwiesen:

"Wer sagt, dass es ihm ums Prinzip gehe, der wird oft schief angeschaut. Er gilt als ein Prinzipienreiter, als enger Geist, als unangenehmer, pedantischer Zeitgenosse. Das mag bisweilen so sein - zumal dann, wenn der Prinzipienreiter auf seinen Prinzipien durch den Alltag galoppiert und vom hohen Roß schier nicht mehr herunterkommt. Es gibt aber Prinzipien, die so fundamental sind, dass sich ihre Abwertung in Verbindung mit dem Wort 'Reiterei' verbietet. Die Gewaltenteilung ist so ein Prinzip. An ihr hängt das Leben des Rechtsstaats. Wenn die Justiz im Fall des Sami A. darauf beharrt, dass dieser fragwürdige Zeitgenossse wieder nach Deutschland geholt wird, so ist dieses Beharren keine Fragwürdigkeit, sondern das Beharren auf einem fundamentalen Grundsatz der politischen Machtverteilung."

Mehr zum Thema - Fall Sami A. sorgt weiterhin für Diskussion - Fünf rechtswidrige Abschiebungen seit Jahresbeginn

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