Meinung

Neue sakrale Opfer? Der Mord an einer Juristin sorgt in der Ukraine für Aufruhr

Der Mord an der ukrainischen Menschenrechtlerin Irina Nozdrowskaja hat Aktivisten und Politiker erregt. Abgeordnete und die US-Botschaft in Kiew haben lautstarke Erklärungen abgegeben. Man hört Appelle zur Massenbewaffnung der Bürger. Wird die Ermordete zu einem neuen sakralen Opfer?
Neue sakrale Opfer? Der Mord an einer Juristin sorgt in der Ukraine für Aufruhr© Unian

von Nyura N. Berg

Wie es die Gesetze eines Thriller-Szenarios vorschreiben

Am 29. Dezember wurde in einem Teich in der Nähe von Kiew die Leiche der ukrainischen Menschenrechtlerin und Anwältin Irina Nozdrowskaja mit zahlreichen Stichwunden entdeckt. Wenige Tage vor dem Fund ist die Frau verschwunden, und zwar gleich nach einem Gerichtsprozess, in dem das Urteil am Mörder ihrer Schwester ausgesprochen wurde.

Irina hat lange dafür gekämpft, dass der Verbrecher, der unter Alkohol- und Drogeneinfluss mit seinem Auto die junge Frau niedergefahren hatte, nicht straflos davonkommt. Dafür hätte es genug Voraussetzungen gegeben: Der Angeklagte ist ein Neffe des Bezirksrichters und im Regelfall ist das in der Ukraine ein ausreichender Grund, um sich der Verantwortung zu entziehen.

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Die Hartnäckigkeit von Irina Nozdrowskaja hatte ihre Auswirkungen. Der Verbrecher, der auf der Grundlage einer Amnestie im Laufe der Gerichtsverhandlung beinahe freigesprochen worden wäre, bekam letztendlich ein ziemlich strenges Urteil: sieben Jahre Gefängnis. Währenddessen bekam Irina die ganze Zeit Drohungen von den Verwandten des Angeklagten. Das wussten ihre Freunde, und – was besonders spannend ist – auch die Abgeordnete der Werchowna Rada Tatiana Tschernowol, für die Nozdrowskaja als Assistentin tätig war.

Nachdem Irina unter ziemlich merkwürdigen Umständen getötet wurde (ihre Leiche ist nackt aufgefunden worden, aber der Schmuck ist am Körper geblieben), tauchten eine Vielzahl von möglichen Versionen des Geschehens auf. Außerdem gab es Zeugenaussagen von Freunden und Bekannten darüber, dass auch andere Personen Nozdrowskaja offen gedroht hatten.

„Der Staat ist tot. Bewaffnet euch“

Eigentlich sieht diese Situation in Bezug auf die allgemeine Kriminalstatistik der Ukraine ganz normal aus, wo die Zahl der Gewaltverbrechen nach der Maidan-Zeit lawinenartig angestiegen ist. Dieser Mord scheint ein Alltagsverbrechen zu sein, der durch den Wunsch der Verwandten des Verbrechers motiviert ist, sich an Irina zu rächen. Selbstverständlich werden auch andere Motive analysiert, aber sie weisen ebenso einen Alltagscharakter auf.

Doch was passiert danach? Danach wird der Mord von Politikern und Aktivisten für ihre eigenen Zwecke verwendet. Sowohl in den sozialen Medien als auch im realen Leben steigt eine große Welle hoch. Eine Reihe von Volksabgeordneten tritt mit leidenschaftlichen Urteilen auf, darunter auch Mustafa Najem – einer der Maidan-Anführer zwischen 2013 und 2014. Dieser deutet ganz klar auf den Verantwortlichen für diese Tragödie, nämlich den Vater des Unfallverursachers, der wenige Tage später schon verhaftet wurde, obwohl die Ermittlungen zum Zeitpunkt seiner Aussagen erst begonnen haben.

Noch seltsamer sieht der Appell des Abgeordneten Igor Lutsenko aus. Er beschuldigte den Präsidenten Poroschenko und den Innenminister Awakow, staatliche Rechtsschutzstrukturen privatisiert zu haben, und ruft das Volk faktisch zur Lynchjustiz auf.

„Unser Ausweg sind die Vereinigung und die Bewaffnung. Seht ein, dass es keinen Staat gibt, der Staat ist tot, der Staat wird uns nicht verteidigen. Das Land können nur wir retten“, schrieb Lutsenko auf seiner Facebook-Seite, und ließ die offensichtliche Tatsache, dass genau er den Staat repräsentiert, weil er ein Teil der Legislative ist, links liegen.

Ähnliche Alarmrufe wurden von Vertretern der Zivilgesellschaft, von den Maidan-Aktivisten, ausgerufen, die schon bereit sind, Urteile persönlich zu fällen und sie auszuführen.

Wir haben dir das Leben gegeben, wir werden es dir auch nehmen 

Somit kommen die lautesten Schreie über den Tod des Staates von jenen Bürgern, die den Maidan selbst angezettelt haben, die in den ersten Reihen unter den Organisatoren, Exekutivproduzenten und direkten Teilnehmern mit den Parolen zur Bildung eines Rechtsstaates und der Befolgung der europäischen Normen marschiert sind.

Das sind jene Aktivisten, die die sozialen und politischen Lifte vertikal hochgefahren sind und danach konsequent alle Rechtsinstitute zerstört haben, und nur die revolutionäre Zweckmäßigkeit anerkannten. Das sind jene, die ihre Anhänger mitnahmen, um die Gerichte zu zerstören, die Richter einzuschüchtern und von ihnen mithilfe von Drohungen Urteile zu verlangen, die sie selbst für gerecht hielten, da sie die Angeklagten als Patrioten betrachteten. Genau diese Politiker bestätigen nun den Tod des Staates und schlagen die bereits übliche Therapie vor: Nach ihrem Plan sollen sich die Bürger auf den Trümmern des Gesetzes und der Ordnung bewaffnen und persönlich das Recht sprechen.

Die Polizei ist bereit, Geheimnisse zu teilen - sonst bekommt sie einen Reifen über den Kopf gezogen

Auch Micheil Saakaschwili, der keine einzige Gelegenheit auslässt, um Proteste anzuzetteln und den im Sterben liegenden Maidan am Leben zu erhalten, nutzte diesen Anlass. Es waren seine Anhänger, unter denen es genug Nationalaktivisten aus unterschiedlichen rechtsradikalen Verbünden gibt, die den Chef der Nationalpolizei in der Kiewer Region attackiert hatten, mit der Forderung, ihnen über alle Ermittlungsaktivitäten zu berichten.

Der Chef wurde gestoßen und beleidigt, man sprach mit ihm in einem bedrohlichen Ton. Und er sagte zu! Er konnte seine Verärgerung nur schwer verbergen und kündigte in mehreren Interviews an, dass er den Ermittlungsverlauf mit den Aktivisten teilen und ihnen über die festgestellten Tatsachen berichten werde.

Doch was ist mit dem Ermittlungsgeheimnis? Nie davon gehört. Der Mörder muss nicht viel tun: Er muss sich nur als Aktivist ausgeben und über weitere Schritte der Ermittler Bescheid wissen, um rechtzeitig die Beweise vernichten zu können. So sieht das neue Arbeitsformat der Rechtsschutzorgane in der Ukraine aus. Vor einiger Zeit wurde einem Polizeichef in Kiew eine Reifendecke über den Kopfgezogen wie ein Rettungsring, er wurde mit Eiern und Knallkörpern beworfen. Inwiefern das den europäischen Standards entspricht, sollen die Europäer beurteilen…

Auf der Suche nach einem sakralen Opfer?

Kommen wir aber zum Mord der Menschenrechtlerin zurück. In dieser Situation gibt es zwei weitere himmelschreiende Fragen. Die erste ist die dumpfe Stille seitens der Vertreter der höchsten Macht in Bezug auf den Mord. Präsident Poroschenko, Innenminister Awakow und Generalstaatsanwalt Lutsenko, die normalerweise alle lauten Ereignisse kommentieren, schweigen diesmal wie ein Grab. Die fehlende Reaktion ihrerseits bietet eine Plattform für die am weitesten gehenden und mutigsten Verschwörungstheorien.

Die zweite Frage ist der blitzartige Aufruf der US-Botschaft, mit der Forderung, die Mörder zu finden. Der bekannte britische Finanzier und Investor William Browder, einer der Initiatoren des Magnitski-Gesetzes in den USA und Kanada, teilte bei Twitter mit, dass wenn die Ukraine die Schuldigen nicht selbstständig bestrafe, der Westen gegen sie und ihre Beschützer Sanktionen verhängen werde.

Diese Art von Verbrechen passiert in der Ukraine täglich. Doch ihre Aufklärungsquote ist extrem niedrig. Selbst die Täter der bekanntesten Politmorde stehen noch nicht fest, trotz wiederholter Äußerungen von den Ermittlungsbehörden und den Regierungsbeamten. Busyna, Scheremet, Woronenkow – um nur ein paar Opfer der Post-Maidan-Zeit zu erwähnen, deren Fälle sich nicht vom Fleck bewegt haben. Was soll man schon über ein Alltagsverbrechen sagen, dem schenkt man einfach zu viel Aufmerksamkeit…

Jetzt kommen wir zur Hauptfrage: Qui bono? Wer profitiert davon? Analytiker, Publizisten und einfach nur aufmerksame Bürger haben sich gleich an mehrere Fälle erinnert, die zum Auslösemechanismus für Massenproteste wurden, die zu UNOrdnungen und Maidan-ähnlichen Veranstaltungen führten. Der wichtigste Fall ist natürlich der Mord an Heorhij Gongadse, noch als Kutschma im Amt war. Danach wurde die Situation mit dem Massentod der sogenannten „Himmlischen Hundert“ in den letzten Maidan-Tagen aufgepuscht. Jedes Mal geht es um irgendein sakrales Opfer, auf dessen Namen Gruppen mit verschiedenen Politik- und Machtambitionen spekulieren und mit dessen Namen Maidan-Veranstaltungen organisiert und verrückte Gesetze erlassen werden, die die Bürgerrechte einschränken.

Die Pest auf beide eure Häuser

Dieses Mal wird der Mord an der Menschenrechtlerin Nozdrowskaja schon bei der Konfrontation der wichtigsten politischen Spieler eingesetzt. Die Menge der Protestierenden fordert bereits die Beseitigung bzw. die Aufhängung von Awakow. Andere Aktivisten geben Poroschenko die Schuld. Auch Micheil Saakaschwili, dessen Werbeaktionen auf der Konfrontation gegen die beiden Lager basieren, möchte die Situation für sich nutzen. Es gibt die Vermutung, dass amerikanische Betreuer der ukrainischen Unabhängigkeit Poroschenko, Awakow oder gleich beide von ihrer Macht wegräumen wollen. Und der Mord an Nozdrowskaja wird möglicherweise dazu verwendet, um die Situation in dieser Richtung zu manipulieren.

Wer von ihnen wird also in dieser Situation profitieren? Bestimmt nicht die ukrainischen Bürger. Sie sind Fremde auf diesem blutigen Narrenfest. Und viele schreiben, dass sie bereit sind, kaltblütig zu beobachten, wie die neuen Herrscher des Lebens miteinander kämpfen. Wie es scheint, sind jene Personen, die man normalerweise als Zivilgesellschaft bezeichnet, am wenigsten daran interessiert, die Wahrheit festzustellen. Der Schuldige wird noch vor der Ermittlung genannt, und das ist angeblich der Vater des Täters, der den Autounfall verursacht hat. Er ist in Haft. Es gibt jedoch so viele Unstimmigkeiten in der gegen ihn erhobenen Anklage, dass sogar die Anwälte der betroffenen Partei sie bestreiten.

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