Meinung

Ein Jahr "Zeitenwende" oder: Wenn Olaf frische Befehle holen fliegt

Eine Bilanz hätte es sein sollen, ein Jahr, nachdem Olaf Scholz das Wort "Zeitenwende" für sein Rüstungsprogramm schuf, aber in Wirklichkeit war es nur die nächste Wiederholung des gleichen Stücks. Eine weitere Regierungserklärung, eine weitere Debatte, keine Erkenntnis.
Ein Jahr "Zeitenwende" oder: Wenn Olaf frische Befehle holen fliegtQuelle: www.globallookpress.com © Andreas Gora

Von Dagmar Henn

Also noch eine Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz, ein Jahr nach seiner Verkündung der "Zeitenwende". Und im Grunde genügt ein einziger Satz, um seine Rede zu charakterisieren: "Ein Jahr Zeitenwende heißt auch ein Jahr transatlantische Partnerschaft, enger und vertrauensvoller denn je."

Als wäre nichts geschehen. Vor allem kein Anschlag auf Nord Stream. Enger und vertrauensvoller. In jeder Minute seiner Rede wünscht man sich, er träte ans Rednerpult und bäte um Vergebung, für seine Rückgratlosigkeit, für seine völlige Missachtung der Interessen der deutschen Bevölkerung, für die auf jeder Ebene, ökonomisch wie politisch, zerstörerische Politik. Aber er tut es nicht. Stattdessen spricht er von "transatlantischer Partnerschaft, enger und vertrauensvoller denn je".

Seit jener ersten Debatte vor einem Jahr gibt es nur Wiederholungen. Die propagandistischen Floskeln allerdings sind deutlich fester gezurrt als damals. Da ist das berüchtigte "solange es nötig ist", da ist der Begriff vom "gerechten Frieden", und da ist die Aussage "Würde die Ukraine aufhören, sich zu verteidigen, dann wäre das kein Frieden, sondern das Ende der Ukraine".

Alle Redner der Regierungsparteien und auch die CDU/CSU nutzen diesen Bausatz, der sich im Verlauf des vergangenen Jahres herausgebildet hat. Hemmungen, sich in der Kiste ukrainischer Schauergeschichten zu bedienen, bestehen keine. Selbst Olaf Scholz nennt noch Kramatorsk als Ort, wo "Putins Soldaten ukrainischen Zivilisten unfassbares Leid angetan haben", dabei war es unübersehbar eine ukrainische Totschka-U-Rakete. Nebbich. Hauptsache, die Richtung stimmt.

Was ist im Verlauf dieses Jahres alles herausgekommen. Allein durch die Geständnisse sämtlicher westlicher Unterzeichner der Minsker Vereinbarungen. Ganz zu schweigen von der Wirklichkeit dieser Ukraine, in der Sperrtruppen gegen die eigenen Soldaten eingesetzt werden und die längst bis in alle Ewigkeit verschuldet und ausgeplündert ist, sollte sie am Ende unter westlicher Kontrolle verbleiben.

Selbstverständlich wird auch in dieser Runde so getan, als hätte es keine acht Jahre Krieg im Donbass gegeben. Und selbstverständlich ist es die Vertreterin der Grünen, die mit ihrer Beteuerung, es seien "mehr als 365 Tage Ausnahmezustand für die vielen Kinder, deren Alltag nicht das Kindsein, das Unbekümmertsein in sich trägt, sondern die Warn-App, der Schutzkeller, die Entbehrung, die Gefahren und das große Thema Verlust", besonders schräge Töne erzeugt. Zumindest für all jene, die vom langjährigen Bombardement des Donbass wissen.

Aber das ist eine verzerrte Wahrnehmung, die man längst kennt, ein Zurechtrücken der Wirklichkeit, das unverzichtbar ist, wenn man gegen den "unbegründeten, völkerrechtswidrigen, brutalen russischen Angriffskrieg" wettern will.

Noch ein ganz anderes Gefühl von Dissonanz tritt aber auf, wenn Olaf Scholz davon spricht, man stehe zur Beistandspflicht in der NATO und lasse dem Taten folgen, "mit unserer Marine und Bundespolizei, die sich zusammen mit Norwegen und anderen um den Schutz kritischer Infrastruktur in Nord- und Ostsee kümmern". Sind etwa noch weitere Sprengungen weiterer Pipelines geplant, bei der die norwegischen Erfahrungen nützlich sein könnten? Sollte dies das unbewusste Eingeständnis sein, von der Sprengung gewusst zu haben? Wohl kaum, da Scholz seine Reden schreiben lassen dürfte, was unbewusste Mitteilungen ausschließt...

"Ich bin froh, dass sich beide Seiten ‒ Präsident Vučić und Premierminister Kurti ‒ Anfang dieser Woche klar zum deutsch-französischen Vorschlag für eine Grundlagenvereinbarung bekannt haben", sagt Scholz. Vučić hat in den letzten Wochen deutlich genug ausgesprochen, von der EU erpresst zu werden. Auch hier ist der Abstand zwischen der Welt und der Welt nach Scholz beträchtlich.

Die deutlichste Veränderung gab es allerdings in China. Die Aussagen zur US-Hegemonie sind an Deutlichkeit kaum mehr zu überbieten, und die Panik, mit der in Washington inzwischen Waffenlieferungen aus China nach Russland zusammenfantasiert werden, zeigt nur, dass langsam wahrgenommen wird, wie eng dieses Bündnis tatsächlich ist, selbst ohne formalisiert zu sein. Die Biden-Regierung drängt mittlerweile auf Sanktionen auch gegen China. Für die europäische Wirtschaft wäre das das Ende, während allein die Tatsache, dass der chinesische Text veröffentlicht wurde, darauf hinweist, dass China auf jede Art von Sanktion vorbereitet ist.

Scholz tut so, als habe er nichts davon verstanden, und als wäre dieses Deutschland, das nach Nord Stream zur globalen Lachnummer geworden ist, noch stark und einflussreich. Nicht einmal die chinesischen Aussagen zu biologischen Waffen hat er verstanden oder verstehen wollen: "Und es ist gut, dass China die klare Botschaft gegen den Einsatz von Nuklearwaffen jüngst in seinem Zwölf-Punkte-Plan wiederholt hat und sich auch eindeutig gegen den Einsatz biologischer und chemischer Massenvernichtungswaffen stellt." Ja, und es fordert zusammen mit Russland Aufklärung über die US-amerikanische Biowaffenforschung. Was Scholz schon allein deshalb nicht erwähnen kann, weil in den US-Biolaboren in der Ukraine ja auch zwei deutsche Institute geforscht haben, also auch die deutsche Forschung mit gemeint sein dürfte.

China solle "eine klare Verurteilung des russischen Angriffs" liefern, betont er. Und erklärt, gen Peking gewandt: "Nutzen Sie Ihren Einfluss in Moskau, um auf den Rückzug russischer Truppen zu drängen!" Das dürfte dort schlicht niemanden interessieren. Genauso, wie Scholz nur sein Scheitern bestätigt, wenn er erklärt, er habe in seinen "Gesprächen mit dem brasilianischen Präsidenten und zuletzt mit dem indischen Premierminister in New Delhi" betont, die Welt müsse "Putin" zum Rückzug seiner Truppen auffordern. Weder Brasilien noch Indien werden das tun.

"Zur Disposition steht die globale Machtverteilung", zitiert Friedrich Merz in seiner Antwort aus einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung. Aber natürlich nicht mit der Absicht, einer realistischeren Sicht den Weg zu bahnen; im Gegenteil. Er vollzieht gleich den Schwenk auf den neuen Feind: "Aber das, was Russland mit Nord Stream 2 gemacht hat, macht die Volksrepublik China seit Jahren mit ihrer sogenannten Neuen Seidenstraße. Das ist ebenso ein imperiales Projekt, um wirtschaftlichen Einfluss und politische Macht zu gewinnen."

Ursprünglich ist die Neue Seidenstraße ein Projekt der Selbstverteidigung gegen die USA. Wenn es eine aggressive Seemacht gibt, die versucht, über die Kontrolle der Seewege Macht auszuüben, dann ist der einfachste Weg, sich dieser Bedrohung zu entziehen, den Transport der eigenen Waren vom See- auf den Landweg zu verlagern. Mit anderen Worten, gäbe es diese aggressiven USA nicht, wäre nie ein Seidenstraßenprojekt entstanden.

Aber Merz ist noch transatlantischer als Scholz, selbst wenn das schwer vorstellbar ist, und versucht jetzt schon, gegen China einzuschwören. Gleichzeitig benennt er zwar nicht die Sanktionen als Ursache, aber durchaus die Folgen für die deutsche Wirtschaft. Diesen Winter hätten eben die Haushalte an der Heizung gespart, der Winter sei mild gewesen: "Aber die Industrie, meine Damen und Herren, hat nicht gespart, sondern die Industrie hat Produktionen stillgelegt. (...) Wir haben im Jahr 2022 in Deutschland das erste Mal eine Industrieproduktion gehabt, die unter 20 Prozent unserer Wertschöpfung liegt. Das ist das erste Mal, dass wir unter 20 Prozent liegen ‒ im Industrieland Bundesrepublik Deutschland." Wie er es fertigbringt, gleichzeitig bereits eine Auseinandersetzung mit China anzudeuten und den Rückgang der Produktion zu beklagen, erklärte er in seiner Rede nicht.

Wie werden sie reden, wenn das jetzige globale Szenario voll entwickelt ist? Wie wollen sie die Selbstverstümmelung rechtfertigen, die das Ergebnis einer Ausweitung auf China sein wird? Man kann an den Redebeiträgen im Bundestag erkennen, dass auch dabei die überwiegende Mehrheit des Bundestags mitspielen wird. Manche sagen es offen, wie Friedrich Merz, manche etwas verklausuliert, wie Christian Dürr von der FDP: "Die Zukunft Deutschlands, insbesondere die Wettbewerbsfähigkeit, um die wir hier in der demokratischen Mitte gleichermaßen besorgt sind, liegt im Handel und in der Kooperation mit den liberalen Demokratien der Welt." Da sind nicht mehr viele Handelspartner übrig.

In einem ihrer jüngeren Videos haben Mercouris und Christoforou von The Duran schon einmal kurz durchdiskutiert, welche Folgen westliche Sanktionen gegen China hätten. Russland, so ihr Fazit, habe auf manchen Gebieten etwas gebraucht, um die Sanktionen zu kompensieren, habe es aber geschafft. China sei schon allein durch seinen gigantischen Binnenmarkt ein völlig anderer Fall. Wenn sich von dort wegen westlicher Sanktionen ein westliches Unternehmen zurückzöge, dann stünden hundert chinesische Firmen bereit, den freigewordenen Marktanteil sofort zu übernehmen. Und der wäre damit für immer verloren. Das wird allerdings, lässt die heutige Debatte fürchten, die Bundestagsmehrheit nicht davon abhalten, das eigene Land auch noch durch Sanktionen gegen China weiter zu verstümmeln.

Tino Chrupalla von der AfD merkte an: "Es gibt wieder nur einen Gewinner, und dieser Gewinner heißt USA." Und warnte: "Sie wollen das größte Land der Welt, eine Atommacht, politisch zerschlagen. Das ist einfach nur größenwahnsinnig." Alexander Dobrindt von der CSU, offensichtlich mit den Debatten des Atlantic Council nicht vertraut, meinte, "das ist schlichtweg Putin-Propaganda". Und Dietmar Bartsch von der Linken war bereit, darauf zu wetten, dass die Bundesregierung auch noch Kampfflieger an die Ukraine liefern werde. Nils Schmid von der SPD wurde unfreiwillig komisch, als er über die Ukraine sagte: "Es gibt unabhängige NGOs und Medien, die Korruption aufdecken, und eine Regierung, die auch im Krieg entschlossen dagegen vorgeht. Damit ist klar, dass die Ukraine für europäische, für demokratische Werte kämpft und deshalb unsere Unterstützung gerade auch in dieser Zeit verdient."

Es gibt eben vieles, das der Aufmerksamkeit der Bundestagsabgeordneten entgeht. Auch die Meldungen über den Weiterverkauf aus dem Westen gelieferter Waffen, oder selbst der aus Deutschland gelieferten Stromaggregate. Allerdings entgeht ihnen auch, wie es wirklich um die ukrainische Armee steht, obwohl doch der BND zumindest laut Spiegel darüber berichtet haben soll. Es entgeht ihnen, wie weit sich die Welt vom kollektiven Westen entfernt hat, und ganz und gar entgeht ihnen, dass jeder deutsche Versuch, irgendjemanden auf die westliche Seite zu ziehen, völlig vergebens ist, weil das Schweigen zu Nord Stream jedermann signalisiert hat, dass da nur ein weiteres Anhängsel Washingtons spricht.

Der Wirklichkeit am nächsten kam wieder einmal der fraktionslose Robert Farle. "Die wirkliche Zeitenwende begann am 26. September 2022, als in der Nacht die Nord-Stream-Pipelines durch die USA und Norwegen in den Meeresgrund hineingesprengt wurden. So wurde die Basis unserer Energieversorgung, unserer Industrie und unseres Wohlstands angegriffen. (…) Sie, Herr Scholz, machen Deutschland zum Vasallen der USA und bürden uns die Lasten des Ukrainekrieges auf, den die USA seit acht Jahren mit Kiew vorbereitet haben, um Russland zu schwächen und den nächsten Krieg und die Auseinandersetzung mit China vorzubereiten."

Ja, obwohl im Verlauf des vergangenen Jahres nachvollziehbar und mit westlichen Quellen belegt wurde, dass es eben gerade kein "unbegründeter Angriffskrieg Russlands" ist, findet sich im ganzen, auf 736 Abgeordnete aufgeblasenen Bundestag genau eine Person, die diese Wahrheit auszusprechen wagt, und nur eine Person, die die Vorgänge um Nord Stream als das benennt, was sie waren, ein terroristischer Akt eines vermeintlich engen Verbündeten.

Es bleibt also alles wie gehabt. Immerhin, bei dieser Debatte beendete nur Robin Wagener von den Grünen die Rede mit dem Gruß der ukrainischen Faschisten, nicht gleich mehrere Redner, wie vor einigen Wochen. Man würde allerdings zu weit gehen, dahinter Einsicht zu vermuten.

Und geht es weiter so? Bundeskanzler Olaf Scholz ist inzwischen in Washington eingetroffen; ohne journalistischen Tross, wie manche Redner bemängelten. Immerhin, zumindest wird ihm sein neues Pflichtenheft noch persönlich übergeben. Er wird es vermutlich demütig und dankbar entgegennehmen. So, wie sich die globale Lage gerade entwickelt, steht in diesem Heft die Liste der nun gegen China zu verhängenden Sanktionen. Die nächste Runde Bundestagsdebatte dürfte also zumindest insofern Neues bringen, dass dann emotionale Geschichtchen über den bösen Xi Jinping in die Debatte gestreut werden. Aber ein Ort wirklicher politischer Debatte dürfte dieser Bundestag auch dadurch nicht mehr werden.

Mehr zum Thema - Botschafter Netschajew: Wir unterscheiden zwischen Volk und politischen Eliten in Deutschland

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.