Meinung

Provokationen gegen russischstämmige Letten: "Als wolle man einen Bürgerkrieg inszenieren"

Eine russischstämmige Exil-Lettin berichtet über die Lage in Lettland: "Reformprogramme" würden lettischstämmige Bürger privilegieren. Russischstämmige Bürger würden gedemütigt und sukzessive benachteiligt. Sie bekommen keinen Pass mehr oder dürfen nicht mehr in ihrer Sprache lernen. Mittlerweile werden die russische Kultur und die Denkmäler aus der Sowjetzeit systematisch zerstört.
Provokationen gegen russischstämmige Letten: "Als wolle man einen Bürgerkrieg inszenieren"Quelle: www.globallookpress.com © Victor Lisitsyn / Global Look Press

Von Felicitas Rabe

Die russischstämmige Einwanderin Inga Kusnezowa [Name von der Redaktion geändert] wurde in Lettland geboren und lebt mittlerweile seit 21 Jahren in Nordrhein-Westfalen. Regelmäßig besucht die Geschäftsfrau ihre alte Heimat. Zuletzt war sie im November und Dezember in Riga. Im Gespräch mit RT berichtet sie über die Situation der russischstämmigen Bevölkerung in Lettland und warum sie ihre alte Mutter schließlich im Dezember dort herausholte.

Einschränkung der freien Meinungsäußerung und Einschränkung russischer Traditionen

Im NATO-Land Lettland sei es nicht nur für russischstämmige Menschen schwer, ihre Meinung zu äußern, berichtet Kusnezowa, deren Kinder beide bereits in Deutschland geboren wurden. Es herrsche dort eine Atmosphäre, in der sich keiner mehr getraue, offen zu sprechen, wenn man die Positionen anderer Anwesender nicht kennt. Das beträfe vor allem die Meinung zum Krieg in der Ukraine. Besonders schwer sei die Lage für prorussische Letten, erklärte die gebürtige Lettin mit russischer Abstammung. Dabei gelte schon eine Position wie "Ich kann verstehen, warum die russische Regierung so gehandelt hat" als äußerst prorussisch. Wer das sage, bekäme Probleme zum Beispiel auf der Arbeit.

Einstellung und Herkunft zeigen sich besonders an den Feiertagen. So feierten die Russen in Lettland traditionell um 23:00 Uhr lettischer Zeit den Jahreswechsel, wenn nämlich in der Moskauer Zeitzone Mitternacht sei. Auch in Deutschland feiern die Russen in Anlehnung an Moskau schon um 22:00 Uhr Mitteleuropäischer Zeit (MEZ) den Jahreswechsel, erläutert Kusnezowa die Feiergewohnheiten. Die Letten zündeten ihr Feuerwerk dagegen um 24:00 Uhr Ortszeit an. All die Jahre zuvor hätte das niemanden gestört, wann wer sein Feuerwerk verballerte, so Kusnezowa.

Aber vor dem letzten Jahreswechsel kursierten in Lettland in "Sozialen Medien" Warnungen, wer bereits um 23:00 Uhr anfange zu ballern, würde bei der Polizei angezeigt werden. Bei der polizeilichen Vernehmung würde dann auch gleich die Meinung zur russischen Invasion in die Ukraine abgefragt werden, lautete das Gerücht. Damit würde man in einer Liste registriert. Auch wenn das am Ende gar nicht gestimmt habe – die Silvesterstimmung sei vielen vergangen. Viele Russischstämmige hätten eingeschüchtert auf ihre Feier verzichtet. Bei anderen sei das Feiern um 23:00 Uhr nur durch Trotz und politischen Widerstand motiviert gewesen.

Viele russischstämmige Letten unterstützten die Abspaltung Lettlands von Russland

Kusnezowas russischstämmige Eltern seien genau wie viele andere Russen in Lettland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für die Abspaltung gewesen. Dadurch erhofften sie sich eine schnellere wirtschaftliche Erholung. Ihre Familie unterstützte die damalige Aktion einer Menschenkette "Baltischer Weg" für ein unabhängiges Baltikum oder für ein unabhängiges Lettland. Aufgrund des guten Zusammenlebens planten ihre Eltern zu jener Zeit zusammen mit ihren lettischen Nachbarn den Aufbau eines Geschäfts.

Schließlich hätten Russen und Letten in der Sowjetzeit jahrzehntelang friedlich und ohne Probleme Seite an Seite zusammengelebt. Die Geschäftsfrau schildert auch den zweisprachigen Alltag in der früheren Sowjetrepublik. Im öffentlichen Leben seien zu der Zeit alle Beschilderungen zweisprachig gewesen – von den Straßenschildern bis zu medizinischen Beipackzetteln. Eltern konnten frei wählen, ob sie ihre Kinder auf lettischsprachige oder russischsprachige Schulen schicken wollten.

Zu Sowjetzeiten seien lettische und russische Feste von beiden Volksgruppen jeweils gemeinsam gefeiert und die unterschiedlichen Traditionen auch respektiert worden. Unmittelbar nach der Abspaltung des Landes habe sich die Bevölkerung eine Zerstörung dieses friedlichen Miteinanders schlicht nicht vorstellen können.

Die aufoktroyierte "Versöhnungs-Kampagne" der Präsidentin Vīķe-Freiberga aus den USA

Allerdings hätten sich viele Bürger Lettlands gewundert, warum ihre zweite Präsidentin, Vaira Vīķe-Freiberga aus Kanada kam. Noch mehr erstaunt war man dann, mit welchem Nachdruck Vīķe-Freiberga der Bevölkerung ihr vorrangiges Programm der angeblichen "Versöhnung zwischen Letten und Russen" auferlegte. Durch diese breit aufgestellte "Versöhnungs-Kampagne" habe die jeweilige Herkunft auf einmal eine große Bedeutung bekommen. Kusnezowa erläutert das mit einem Witz, der zu Beginn des Programms unter den Russischstämmigen grassiert habe: "Es gibt einen neuen Beruf: Lette sein."

Einschneidend waren die Änderungen bald im Schulsystem. Im ersten Schritt wurden alle Schulen bilingual, auf jeder Schule wurde von da an auf Russisch und auf Lettisch unterrichtet. Anschließend wurde in einer zweiten Reform Lettisch als generelle Unterrichtssprache eingeführt und Russisch als sogenannte Fremdsprache. Laut Regierungsaussagen galt die russischstämmige Bevölkerung mit angeblich 35 Prozent Bevölkerungsanteil fortan als eine Minderheit. Nach ihrer Wahrnehmung mache die russische "Minderheit" in Lettland aber mehr als 50 Prozent der Bevölkerung aus, erklärte die russischstämmige Interviewpartnerin. Zudem gäben neuerdings viele Letten in ihrem Pass lieber nicht mehr an, dass ihre Vorfahren aus Russland stammten.

Als Teil des Programms prüften Kontrolleure unangemeldet, ob die Lehrer ihren Unterricht auch vorschriftsmäßig auf Lettisch abhielten. Von dieser für Lehrer und Schüler demütigenden Prozedur sei auch Kusnezowas Mutter als Musiklehrerin betroffen gewesen. Als Russin habe sie von einem Tag auf den anderen den Musikunterricht für russische Kinder in lettischer Sprache durchführen müssen.

Staatsangehörigkeit und ein lettischer Pass war lange sogenannten lettischstämmigen Letten vorbehalten

Auch mit der Staatsangehörigkeit gebe es Komplikationen, erklärte Kusnezowa. Inoffiziell gebe es nun in Lettland eine lettischstämmige, privilegierte "1. Nation" – so nenne man das ironisch. Aber auch offiziell würden Letten genau definiert: Alle Menschen, deren Vorfahren vor 1940 in Lettland gelebt hatten, gälten automatisch als lettischstämmige Letten, während Personen, deren Eltern erst ab 1941 in Lettland wohnten, noch bis zum EU-Beitritt im Jahr 2004 die lettische Staatsangehörigkeit schlichtweg verweigert wurde. Oder die sei ihnen nur nach demütigenden bürokratischen Prozessen und "Loyalitätsprüfungen" bewilligt worden. 

Aus diesem Grunde habe auch Kusnezowas Vater nach der Abspaltung Lettlands jahrelang nur einen sogenannten "Alien-Pass" – einen lettischen "Nichtbürgerpass" mit sich führen dürfen, obwohl er 1948 in Lettland geboren wurde. Seine Mutter, Kusnezowas Großmutter, war nämlich erst nach 1940 nach Lettland gezogen. Später erhielt ihr Vater zwar auf Antrag einen lettischen Ausweis, viele Menschen trügen aber immer noch einen solchen "Alien-Pass" mit sich.

Diese vielen Demütigungen für russischstämmige Bürger seien auch der Grund für Kusnezowas Auswandern nach Deutschland gewesen. In ihrer Zeit als Teenager habe die Umstellung der Unterrichtssprache dazu geführt, dass russischsprachige Schüler dem gesamten Unterricht auf einmal viel schwerer als lettischsprachige Schüler folgen konnten. Eine Zeitlang habe es zwar auch noch bilinguale Schulen gegeben – aber auf den Universitäten wurden direkt komplett auf Lettisch umgestellt.

Mehrere Jahrgänge russischstämmiger Schüler, zu denen sie auch gehörte, hätten auf einmal kaum mehr eine Chance auf ein Studium gehabt, obwohl auch sie ja in Lettland geboren wurde. Sie sei immer eine gute Schülerin gewesen und habe dann an höherer Bildung nicht mehr partizipieren können. Es sei zudem tragisch, dass die jetzige junge Generation überhaupt nicht mehr erlebt, wie gut man in diesem Land auch zweisprachig gelebt hatte.

Die Zerstörung von Denkmälern und eskalierende Provokationen gegen Russen in Lettland

Frau Kusnezowa berichtete anschließend über die Zerstörung von Denkmälern aus der Sowjetzeit. Jeder Abriss würde in Lettland medial als Superereignis inszeniert. Im August 2022 sei in Riga im "Park des Sieges über den Faschismus" als letztes Element einer großen Gedenkstätte ein 79 Meter hoher Obelisk umgestürzt worden. In den Tagen zuvor hatte man dort bereits eine Gruppe von Skulpturen abgerissen, die sowjetische Soldaten darstellten. Die lettischen Medien bejubelten das als "großen Erfolg".

Traditionell feierte man schon seit Sowjetzeiten auch in Lettland am 9.Mai die Befreiung vom Faschismus und brächte Blumen zu den Gedenkstätten. In Riga sei das "Denkmal für die Befreier von Riga" im vergangenen Mai kurz vor diesem Gedenktag wegen angeblicher Renovierungsbedürftigkeit verhüllt worden. Dennoch hätten die russischstämmigen Letten auch im Jahr 2022 viele Blumen zum Gedenken an den Sieg über den Faschismus zu dem verhüllten Mahnmal gebracht. Kusnezowa merkt an, dass sie 2022 augenscheinlich sogar ganz besonders viele Blumen dorthin brachten.

Es sei auch wichtig zu wissen, betonte die russischstämmige Lettin, dass sich auch viele offiziell als "lettischstämmig" anerkannte Letten an diesem Gedenken beteiligten. Man dürfe keinesfalls übersehen, wie viele offiziell anerkannte Letten die Kritik ihrer russischstämmigen Mitbürger teilten.

Aber als sei es nicht genug gewesen, das Denkmal kurz vor dem 9.Mai quasi zu "verstecken", räumte obendrein die Müllabfuhr schon ein paar Stunden später alle Blumen wieder weg. Das habe die Russischstämmigen – und mit ihnen auch einige Lettischstämmige – in Riga wirklich erbost. Am Folgetag, dem 10.Mai 2022, schmückten sie die Gedenkstätte mit noch mehr Blumen.

Mittlerweile feiere man in Lettland im März mit einem offiziellen Gedenkmarsch sogar das Andenken an die ehemalige SS in Lettland. Angeblich hätten die Russen Lettland ab 1940 okkupiert. Die Abspaltung Lettlands sei nach neuer Interpretation eine Befreiung von russischer Besetzung. Historisch verleugnet würde, dass Lettland sich 1940 freiwillig an Russland angeschlossen hatte – deshalb könne von russischer Besetzung gar keine Rede sein. Seitens offizieller Politik und vieler Medien würde die Geschichte aber verdreht und die Bevölkerung mit Lügen gegeneinander gehetzt. In Riga habe man ein ehemaliges KGB-Gebäude (Sowjetischer Geheimdienst) in ein sogenanntes "Okkupationsmuseum" umgewandelt. Führungen gebe es darin auf Lettisch und auf vielen anderen Sprachen, nur nicht auf Russisch.

Stimmungsmache in Richtung Bürgerkrieg?

Was früher überhaupt keine Rolle bei Schlägereien von irgendwelchen Betrunkenen gespielt hatte, darüber würde jetzt in den Medien berichtet: Auf einmal sei bei Raufbolden deren Herkunft von Bedeutung. "Russen hätten sich mit Letten geschlagen", hieße es dann jetzt in den Zeitungen. Es gebe zwar noch eine prorussische Partei, aber russischstämmige Einwohner mit "Alien-Pässen" dürften sowieso nicht wählen. Zuletzt habe eine Tante von ihr auf einer Fahrt in Riga im Bus Russisch gesprochen. Die alte Frau sei daraufhin von einem männlichen Mitreisenden aus der Ukraine geschlagen worden. Der Krieg in der Ukraine würde den lettischen Nationalismus noch zusätzlich anfachen. Es gebe jetzt in Lettland sogar Geschäfte für ukrainische Militärbekleidung.

Kusnezowa fragt sich, ob in Lettland durch fortdauernde Provokation der russischstämmigen Bürger eine Bürgerkriegsstimmung geschaffen werden soll. Aus diesem Grund habe sie ihre Mutter dort herausgeholt. "Als wolle man die russischstämmigen Bürger in Lettland solange demütigen und provozieren, bis etwas passiere", umschreibt sie ihre Eindrücke.

Mehr zum Thema - "Das ist antirussischer Rassismus" – Hofbauer über Verbot von russischsprachigem Sender in Lettland

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.