Meinung

Wenn ich einmal gehen muss – Ein Rück- und Ausblick auf mein Leben

In jungen Jahren dachte ich, ich könne die Welt durch meine pure Willenskraft verändern. Und durch Liebe und Musik. Heute weiß ich, dass die Welt sich ohne mich verändert hat – und hadere mit meiner Willenskraft. Aufgeben ist aber keine Option.
Wenn ich einmal gehen muss – Ein Rück- und Ausblick auf mein LebenQuelle: www.globallookpress.com © Mohssen Assanimoghaddam/dpa

Von Tom J. Wellbrock

Politik und Musik

Im Nachhinein war meine Jugend ein Ort der Harmonie. Trotz Scheidung meiner Eltern, trotz schulischer Probleme, die sich in meiner ersten Ausbildung fortsetzten und sogar steigerten. Ich war in einem Freundeskreis gelandet, der mich wachsen ließ (auch wenn das rein physisch betrachtet auch ohne ihn möglich war). Schon früh politisierte ich mich, wurde politisiert, ließ mich zum Klassen- und Schulsprecher wählen. Und es dauerte gar nicht so lange, da war ich im Kreisvorstand einer politischen Jugendorganisation. Die weitere Karriere in der Partei für Erwachsene ließ ich links liegen, schon die Arbeit im Kreisvorstand führte zu einigen grundlegenden Konflikten, die ich in der zur Jugendorganisation gehörenden Partei nicht weiterführen wollte.

So wurde ich partei-, aber nicht heimatlos. Meine Politisierung schritt voran. Neben klugen Typen, die mich prägten und für meine Weiterentwicklung sorgten, gab es – das stellte ich plötzlich und völlig überraschend fest – eine ganze Menge unfassbar schöner Frauen, die – auch das fiel mir von einem Moment auf den anderen auf – nicht nur verdammt gut aussahen, sondern noch besser küssten. Und so bekamen die Friedensdemonstrationen gegen Pershing II und Cruise-Missiles eine zusätzliche Bedeutung. Denn die Knutscherei mit einer intelligenten und (natürlich erst in zweiter Linie!) betörend schönen Frau am Rande der Demo ließ mein rebellisches und klassenbewusstes Herz noch höher und vor allem schneller schlagen.

Mit der Musik und den Bühnen, deren Bretter für mich die Welt bedeuteten, nahm auch die Zahl der weiblichen Kritiker zu, die meist wohlgesonnen und mit allerlei anderen Dingen im Kopf über meine Leistungen am Schlagwerk sprechen wollten. Auf den Gigs saß ich meist in Muskelshirts hinter meiner Schießbude. Ich war kein Schwarzenegger, hatte eher die Statur von Bruce Lee, auch wenn mich meine Erinnerung trüben kann und ich definitiv kein Kung Fu konnte. (Im Lieblingskino meines Stadtteils sah ich aber Unmengen an Filmen von diesem krassen Typen mit dem Tick, seine Nase zu berühren, bevor er einen Gegner in die Ewigen Jagdgründe oder zumindest dort in die Nähe beförderte.)

Alles in den Schatten stellte ein Erlebnis, das ich in der "Großen Freiheit" in Hamburg hatte. Mit meiner Band "SkÄnk" hatte ich die Ehre, dort im Rahmen eines Festivals einige Songs von "Madness" zu covern. Auf der Bühne der "Großen Freiheit" zu stehen, ist für einen Musiker ein unvergessliches Erlebnis. Zumal der Backstage-Bereich größer war als so mancher Club, in dem wir gespielt hatten. Wir waren also dort, und waren beeindruckt. Wir hätten sogar duschen können, wenn wir es gewollt hätten, und dann kam die Frau unseres Gitarristen plötzlich auf uns zu und sagte: "Wisst Ihr eigentlich, dass genau hier letzte Woche David Bowie sich auf seinen Auftritt vorbereitet hat?" Wir wussten es nicht und begannen, nach was auch immer zu suchen. Vielleicht hatte das Genie ja eine Kleinigkeit liegen lassen. Dem war nicht so, aber unser Gig bewegte sich in seiner Bedeutung zwischen "Madness", David Bowie und dem uns eigenen Gefühl, irgendwie im Olymp der Ewigkeitsmusiker angekommen zu sein. Davon waren wir zwar weit entfernt, aber das Gefühl zählte.

Ernüchterung

Wir schreiben das Jahr 2023, es hat gerade begonnen. An meine Jugend habe ich lange nicht mehr intensiv gedacht. Erst jetzt, mit dem Entstehen dieses Textes, kommen viele Erinnerungen wieder. Aber sie werden überlagert von einer Gegenwart, die mich verstört, die Angst macht, die sich in einem Land abspielt, in dem ich zu dem geworden bin, was mich ausmacht. Als ich damals auf Friedensdemonstrationen gegangen bin, hatte ich Freude und Spaß. Die Angst vor einem Atomkrieg wurde überdeckt von den großartigen Freunden, die ich hatte. Womöglich hatte ich diese Angst nicht einmal, womöglich war sie Teil einer Jugend, die politisch geprägt war. Wollte man damals politisch sein, gehörten Friedensdemonstrationen einfach dazu.

Die Leute, die ich heute sehe, die ungefähr so alt sind wie ich damals war, sie haben wirklich Angst, zuweilen sogar Todesangst. Ich hörte zwei Aktivistinnen von "Die Letzte Generation", die ganz offen sagten, dass sie ihre Ausbildung bzw. ihren Beruf hingeschmissen haben, weil in einem halben Jahr – dank der unfähigen Politiker, die die Hilfeleistung unterlassen – ohnehin alles vorbei sei.

Das ist schrecklich. Sie nerven mich, diese jungen Hüpfer mit ihrem grenzenlosen Egoismus. Und doch weiß ich, dass ich in ihrem Alter auch nicht gerade selbstlos war, sondern immer darauf aus, das geilste Erlebnis zu haben, das möglich ist. Dafür geht man über "Leichen", interessiert sich nicht für die Bedürfnisse anderer. Egoismus ist ein Wesenszug der Adoleszenz. Und wenn die Pubertät hinzukommt und ihre Stimmungsschwankungen als Priorität Nummer 1 in den Raum stellt, ist man als Jugendlicher sowieso verloren.

Aber Todesangst? Was ist da passiert? Was ist mit dieser Jugend angestellt worden, dass sie der festen Überzeugung ist, in ein paar Monaten oder Jahren nicht mehr da zu sein, weil der Klimawandel sie über die sprichwörtliche Klippe springen ließ? Ich würde ihnen wünschen, das Schöne der Jugend zu sehen, es zu genießen. Das schließt ja nicht aus, sich auf Straßen und Flughäfen festzukleben, egal, ob mir das gefällt oder nicht. Ich muss und kann mit diesen Aktionen gut leben. Die Frage ist eher, ob sie, die Jugendlichen mit Todesangst, das auch können.

Wohin wird es gehen?

Das, was meine Jugend ausgemacht hat, war wohl die Demokratie. Vielleicht beschönige ich das im Nachhinein – wenn man ein gewisses Alter erreicht hat, neigt man zur Verklärung. Aber es war ok, so wie es war. Ich bin mit Hildebrandt und Hüsch aufgewachsen, mit Polt, aber auch mit Loriot. Sie pflegten einen Humor, der liebevoll war, oder auch bissig und provozierend. Hildebrandt war selbst kurz nach "9/11" kritisch genug, nicht in das Betroffenheitswehklagen einzustimmen und fragte stattdessen in einer seiner Sendungen, was der Westen und die USA mit diesem Wahnsinn zu tun hatten. Das war gerade mal zwei Wochen nach dem Attentat.

Heute empfinde ich mein Leben nicht mehr als Leben in einer Demokratie. Ich weiß nicht genau, wann es losging (die Idealisierung, Sie wissen schon). Aber spätestens mit dem Beginn der Corona-Episode wurde hierzulande eine andere Sprache gesprochen. Eine Sprache, die keine demokratischen Züge hat, sondern etwas anderes, Gefährliches. Sie setzte sich fort mit dem Beginn des aktuellen Ukraine-Krieges, sie wurde immer aggressiver und kompromissloser. "Krieg ist Frieden" – das hatte ich in Jugendjahren in "1984" von George Orwell gelesen. Heute höre ich es von Bildschirmen auf mich eindreschen, lese es in Schlagzeilen und bin fassungslos, was für Kriegshetzer einen gemütlichen Platz in einem warmen TV-Studio bekommen, um ihre Eskalation als Friedensinitiative auszugeben.

Ich frage mich, warum niemand eingreift. Doch wenn ich sehe, dass es einige wenige gibt, die es versuchen, die an den Wunsch nach Frieden erinnern und daran, dass jeder neue Tag des Krieges Tod und Qual bedeutet, dann erkenne ich den Grund: Es sind zu wenige, und die vielen machen sich über sie her wie eine Meute Hyänen, die mit fletschenden Zähnen das Aas bearbeiten. Lediglich das Sozialverhalten der Hyänen unterscheidet sich vom Menschen, der effizient daran arbeitet, diese unangenehme Eigenschaft endgültig abzulegen.

Inzwischen fühle ich mich nicht mehr sicher. Ich gehöre zu diesen Wenigen, und ich weiß, dass die Vielen mit ihrer Lust auf Aas nur darauf warten, dass ich wehrlos bin, sodass sie sich über mich hermachen können. Dieses Land mit seinen politischen Führern hat die Menschen auf den Weg des Hasses und der Missgunst gebracht. Vielleicht lag es an der zeitlichen Nähe zum Krieg, dass Politiker wie Willy Brandt den Wunsch verspürten, ein Volk der guten Nachbarn zu sein. Es war aber die Nähe zu einem vergangenen Krieg, der noch immer emotionale Eindrücke hinterließ. Heute ist es der Krieg, der in einer nahen Zukunft liegt, der die verantwortlichen Politiker zu bewegen scheint.

Wichtiger als der Wunsch, nie wieder so etwas zu erleben, scheint das absurde Bedürfnis, diesmal alles "richtig" zu machen und am Ende als Sieger vom Schlachtfeld zu gehen. Wer sich diesem suizidalen Wahnsinn nicht anschließt, ist Kriegsopfer, bevor eine einzige Rakete Berlin getroffen hat. Er wird Opfer des Informations- und Medienkriegs, dessen Generäle Anzüge tragen und in Mikrofone lächeln, während sie Lügen aussprechen und längst begonnen haben, auf alles zu "schießen", was sich ihnen nicht anschließt.

Wenn ich einmal gehen muss …

... wird es entweder temporär sein und mich in ein anderes Land führen. Ich empfinde einen inneren Schmerz bei dem Gedanken daran, das Land zu verlassen, das mich geprägt hat, in dem ich aufgewachsen bin. Aber ich fühle mich von Tag zu Tag hier weniger willkommen. Die Frage steht im Raum, ob ich nicht doch bleiben kann, und sie wird von einer weiteren Frage begleitet: Was, wenn ich den Zeitpunkt verpasse und gar nicht mehr gehen kann, weil die Türen, die Grenzen verschlossen sind? Diese Frage treibt mich am heftigsten um: Werde ich zum Schluss doch hierbleiben können? Und wenn nicht, wird mir das Fortgehen dann noch möglich sein? Das andere ist das Oder, das zu jedem Entweder gehört. Wenn ich endgültig gehe, kann ich nur hoffen, dass ich mich dann an einem Ort befinde, der mir das Gehen so leicht wie möglich macht. Das Wort des Sterbebetts stirbt aus wie all jene, die es früher einmal selbstverständlich benutzt haben. Aber wenn ich auf diesem Bett liege, wo auch immer das sein wird, hoffe ich, dass ich mit einem guten Gefühl gehen kann. In der Corona-Episode sind viele Menschen einsam gegangen, ohne ein gutes Gefühl, sondern in Einsamkeit, Verständnislosigkeit ob der Bedingungen, die sie plötzlich vorfanden. Ich habe keine Ahnung, welche Situation ich vorfinden werde. Aber ich bin sicher, dass ich in diesem finalen Moment des Lebens keine eigene Wahl mehr haben werde, wo ich mich befinde. Ich muss diesen Ort also rechtzeitig finden.

Erklärung

Dieser Text ist kein Abschiedstext! Er ist das Gegenteil, er ist ein Willkommensgruß an alle, die nach einem besseren, friedlicheren und gerechteren Leben streben. Die Gedanken, die ich hier formuliert habe, kennzeichnen weder Lebensmüdigkeit noch entstehen sie auf der Grundlage gepackter Koffer. Das Gegenteil ist der Fall. Ich möchte, dass wir mehr werden. Dass die, die den Frieden wollen und ein gerechtes Leben, sich zusammentun. Der verklärende Blick zurück auf die eigene Jugend kann Kräfte freisetzen, die man verloren glaubte. Aber es gibt auch einen verklärenden Blick in die Zukunft. Er kann ebenfalls Kräfte erzeugen, Mut und Zuversicht.

Es ist der Kampf gegen die gewollten Krisen, der uns aus ihnen befreien kann. Echte Krisen, gemachte Krisen, in den Köpfen und Herzen konstruierte Krisen sind Mittel, um Menschen kleinzuhalten, sie zu schwächen und ihren Optimismus einem Ziel zu opfern. Nämlich dem Ziel, sie zu manipulieren und ohnmächtig zurückzulassen.

Wenn wir einmal gehen müssen, kommt davor die Ohnmacht. Doch bis dahin haben wir noch Zeit und die Möglichkeiten, uns ihr nicht zu ergeben.

Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Moderator und Mitherausgeber des Blogs "neulandrebellen".

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