Meinung

Ukrainisches Jubel-Aufgebot in Cherson

Im Internet tauchen immer mehr Videos aus Cherson und den umliegenden Dörfern auf, in denen proukrainische Bürger die Kämpfer der ukrainischen Streitkräfte angeblich herzlichst willkommen heißen. Oft mit Flaggen, etwas seltener gar mit Blumen. Wie verbreitet ist dieses Phänomen, wie entstehen solche Videos für das Büro von Selenskij, und welche Schlussfolgerungen sollte Russland daraus ziehen?
Ukrainisches Jubel-Aufgebot in ChersonQuelle: www.globallookpress.com © Nina Liashonok/Keystone Press Agency

Von Andrei Restschikow

Am Freitagmorgen tauchten im Zentrum von Cherson zahlreiche ukrainische Flaggen auf. In den sozialen Medien wurde über Massenaktionen unter der Beteiligung Einheimischer berichtet, welche die Straße bevölkerten, um die ukrainische Terrormiliz zu begrüßen. Dabei begannen die Aktionen selbst bereits mehrere Stunden vor dem Einmarsch der Ukrainer in die Stadt. Später tauchten Videos in den sozialen Medien auf, in denen die Menschen "Ukraine, Ukraine!" skandieren. Vergleichbares lässt sich auch in anderen Bezirken am rechten Dnjepr-Ufer der Region Cherson beobachten. 

In diesem Zusammenhang stellten sich viele Menschen eine Frage: Wenn Cherson eine russische Stadt ist, in der erst gestern russische Truppen waren, woher kamen dann Dutzende dieser Menschen mit ukrainischen Flaggen, die sich mit den feindlichen Truppen brüderlich verbunden fühlen? Und wie entsteht diese Art von Videos überhaupt?

"Das Geheimnis ist einfach. Als erstes marschieren die ukrainischen Streitkräfte kampflos in eine Siedlung ein, nennen diesen Vorgang 'Befreiung' und begleiten ihn mit entsprechendem Medienrummel. Zuvor verabredet sich der ukrainische Geheimdienst über Messenger-Apps mit lokalen Aktivisten prowestlicher Parteien, um die Ankunft der ukrainischen Streitkräfte würdig vorzubereiten. Und die Aktivisten selbst haben, wie Sie wissen, all die Monate als Informanten gearbeitet, mit dem Inlandgeheimdienst SBU und dem militärischen Geheimdienst HUR zusammengearbeitet", sagte der Kiewer Politologe Alexei Netschajew der Zeitung Wsgljad

"Woher stammen solche Aktivisten? Auch das ist einfach. Selbst die schwächste ukrainische Partei verfügt über ein eigenes Netz von Parteiorganisationen an der Basis. Auf 2.500 Bürger (das ist der Standard eines Wahlbezirks nach ukrainischen Maßstäben) kommen drei bis zehn Aktivisten, die in ständigem Kontakt mit ihren Funktionären des Bezirks, der Stadt und der Region stehen", so der Gesprächspartner weiter.

"Von da an wird es noch einfacher. Nützliche Informationen werden von den Aktivisten nach 'oben' weitergegeben, ebenso Anweisungen nach 'unten'. Müssen die Reifen der russischen Kriegsberichterstatter zerstochen werden? Kein Problem. Soll etwas ordentlich aus dem Verkehr gezogen werden? Kein Problem. Man kann auch einen Nachbarn anzeigen oder ein Video darüber drehen, wie bestimmte Prozesse unter den Bedingungen im Dorf Malinowka sabotiert werden. Die Kosten der ukrainischen Seite für eine solche Show sind gering, das Ergebnis ist jedoch so, dass ganz Russland darüber diskutiert", so der Experte weiter.

Alexander Malkewitsch, Mitglied der Russischen Gesellschaftskammer und Leiter des Fachbereichs Journalismus an der Universität von Cherson, fügte hinzu, dass Russland den "Jubelnden" gegenüber sehr wohlwollend gewesen sei. "Wir haben keine drakonischen Maßnahmen gegen proukrainische Bürger verhängt. Was jetzt geschieht, ist die Kehrseite unserer loyalen Haltung gegenüber dem Feind und seinen Anhängern", erklärte Malkewitsch.

Wir können auch nicht mit Sicherheit sagen, wie viele der Beteiligten an solchen Aktionen wirklich Einwohner von Cherson sind. "Man muss zugeben, dass die ukrainische Seite ein gut funktionierendes Mediensystem hat. Sie konnten die Leute mitbringen, und die 'Jubelnden' hatten den Auftrag, die notwendigen Erkennungszeichen und Requisiten vorzubereiten", erklärte der Gesprächspartner.

"Darüber hinaus ist auch die Präsentation des Materials wichtig. Eine kleine Aktion kann als eine Massenaktion dargestellt werden. Die Hauptsache ist der Kamerawinkel. Diese Videos sind professionell gefilmt, wirken aber gleichzeitig so, als wären sie zufällig und mit einem Mobiltelefon aufgenommen worden. In Wahrheit dreht sich alles um den einen Punkt in Cherson, nämlich den zentralen Platz. Selbst 40 Personen können dort den Eindruck einer Massenversammlung erwecken", betonte er.

"Möglicherweise saßen einige Bewohner von Cherson in relativ komfortablen Verhältnissen und warteten auf die Ankunft der ukrainischen Truppen, weil es keine ernsthaften Kämpfe um die Stadt gab. Doch ich kann mir vorstellen, dass einige Leute auch einfach dorthin gebracht wurden, für eine Show", sagt der Politologe Wladimir Kornilow.

"Niemand hat danach gefragt, ob sich in Cherson Anhänger der ukrainischen Streitkräfte befanden und immer noch dort aufhalten. Einige von ihnen begrüßten, nehme ich an, die Ankunft der russischen Truppen auf dieselbe Weise. Nun begrüßen sie die Ukrainer und hoffen, dass sie von den ukrainischen Behörden nicht verfolgt werden. Doch leider wird dies die Stadt nicht vor einer ernsthaften Säuberung bewahren", bedauert Kornilow.

Gleichzeitig ist Netschajew der Ansicht, dass die Atmosphäre am rechten Ufer des Dnjepr in der Region Cherson inzwischen an die Handlung des Operettenfilms "Hochzeit in Malinowka" erinnert. "Schon wieder ein Machtwechsel" lautet das zentrale Leitmotiv, das dort die Realität vor Ort widerspiegelt, wo dann jeder Stadtteil seinen eigenen "Ataman Grizian Tawritscheski" hat. 

"Darüber hinaus wirkt sich der häufige Machtwechsel, ob auf dem Land oder in der Stadt, immer auf einen demonstrativen Patriotismus der Bevölkerung aus. Die Jugend, die gestern noch an einem Konzert der Partei 'Einiges Russland' teilgenommen hat, könnte morgen gerne wieder Lieder wie 'Bandera ist unser Vater, die Ukraine ist unsere Mutter' hören, die von grölenden Sängern in volkstümlich bestickten Hemden vorgetragen werden", räumt der Experte ein. "Sollten man die Menschen für die Teilnahme an solchen Flashmobs missbilligen? Nein."

"In einer Situation des 'teilweisen Bürgerkriegs', wie Wladimir Putin es im Waldai-Klub nannte, überleben die Einheimischen, so gut sie können. Unter den Bedingungen des bevorstehenden Winters ist es den einfachen Leuten egal, wer in die Stadt kommt: Russen oder Nicht-Russen, Rote oder Weiße, Petljura-Anhänger oder diejenigen von Nestor Machno. Diese Haltung hat es in diesen Regionen immer gegeben, insbesondere während Zeiten des Bürgerkriegs. Deshalb wird das Problem der 'Jubelnden' dadurch gelöst, dass man diesen Kampf siegreich beendet. Daran müssen wir arbeiten", ist Netschajew überzeugt.

Übersetzt aus dem Russischen, zuerst veröffentlicht in Wsgljad.

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